Zum koreanischen Roman „Knochensuppe“ von Kim Young-Tak
„Mit einem Erdbeben beginnen – und dann langsam steigern.“ Diese Maxime, Hollywood-Produzent Samuel Goldwyn zugeschrieben, erzeugt heute kaum mehr als ein Jaja-schon-klar–Gähnen. Gut eingesetzt funktioniert sie aber natürlich immer wieder.
Wie im ersten Kapitel von Knochensuppe, dem zweiteiligen Roman des 1976 geborenen koreanischen Filmregisseurs Kim Young-Tak. Er setzt im Jahr 2063 in der Küstenstadt Busan ein, der zweitgrößten nach Seoul. Ein Tsunami mit hunderte Meter hohen Wellen hatte die Stadt zu großen Teilen vernichtet. Wer überlebte und reich war, zog in die Berge. Wer überlebte, aber arm war, musste auf dem Meeresboden siedeln, im sogenannten Unteren Viertel. Jahre später – die Einwohner waren so oft über den Matsch gelaufen, dass endlich fester Untergrund entstand – wurde es von einem weiteren Tsunami überrollt. Diverse Seuchen waren die Folge, fast alle Nutztiere starben oder wurden gekeult. Um nicht zu verhungern züchteten die Menschen dort eine Art Ratte, „Ding“ genannt, deren DNA mit Rind, Schwein und weiteren Tieren kombiniert wurde. An dieser Stelle sind im Roman zweieinhalb Seiten rum.
Das zweite Kapitel stellt uns Lee Uhwan vor, den – nun ja – Helden dieser Geschichte, dessen Vorname Uhwan auf deutsch „Sorge“ heißt, der Mitte Vierzig, Waise und Küchenhilfe ist, ausschließlich diese Dinger schlachtet. Der Chefs des Restaurants, in dessen stickiger Küche er ohne Perspektive schuftet, schwärmt derweil von Gomtang, der deftig-wärmenden Knochensuppe früherer Zeiten.
Wenn es stimmt, was im Internet steht, benötigt man für Gomtang (für sechs Personen) ein Kilo Knochenmark, ein Kilo Rinderknochenfüße, 800 Gramm Rinderbrust, fünf Stunden gewässert, um überschüssiges Blut zu entfernen. Dann wird alles zehn Minuten gekocht. Abgießen, abspülen, danach soll alles bis auf das Bruststück für weitere fünf Stunden simmern. Das getrocknete Bruststück wird dazugegeben, alles gart für weitere zwei Stunden. Die Rinderbrust wird dann aufgeschnitten, Salz und Pfeffer dazu, mit Frühlingszwiebelringen garnieren, dazu Reis und Rettich-Kimchi, fertig.
Das Internet allerdings existiert 2063 nicht mehr. Dafür sind Zeitreisen möglich, wenn auch extrem gefährlich. Und Uhwan – »Na ja, ob ich weiter so lebe oder auf diese Weise sterbe …« – akzeptiert, in die Vergangenheit geschickt zu werden, um im Jahr 2019 das Originalrezept zu besorgen. Mit zwölf anderen besteigt er ein Boot und schluckt zudem eine blaue Pille.
Im dritten Kapitel sind dann alle Zeitreisenden bis auf Hwayeong – der beauftragt ist, jemanden zu ermorden, ohne jedoch zu wissen wen – und Uhwan tot. Das vierte beginnt mit Sunhee, einem begabten Schläger an einer kaufmännisch-technischen Oberschule, in dessen Klasse wie aus dem Nichts ein toter Mann liegt, dem offenbar mit einem Laser ein Stück Fleisch aus dem Rumpf geschnitten wurde. Im fünften nimmt der Ermittler Yang Changgeun seine Arbeit auf. Erster Spoiler: Insgesamt besteht der erste Teil von Knochensuppe aus 51, der zweite aus 45 Kapiteln. Zweiter Spoiler: Es wird etwas irre, auch weil die verschiedenen Erzählstränge erst sehr nach und nach ineinandergreifen.
Im Jahr 2018 veröffentlichte der Arabist Thomas Bauer seinen Essay Die Vereindeutigung der Welt. Er beklagt darin die schwindende Fähigkeit, Widersprüche auszuhalten und zieht nebenbei eine Linie von West nach Ost. So, wie es in den USA oft nur „awesome“ oder „terrible“ gibt, ist es Osten überhaupt kein Problem, ein auf Profit ausgerichtetes Geschäft zu führen, Mitglied der kommunistischen Partei zu sein und die Ahnen zu ehren, deren Särge direkt im Reisfeld stehen. Knochensuppe taugt durchaus als Beleg für diese These, ist es doch Science-fiction, Abenteuer-Epos, Dystopie, generationenübergreifendes Familien-Drama, Zeitreisen-Glück, Thriller und leise erzählter Entwicklungsroman zugleich – ohne sich je festnageln zu lassen. Die taz verglich das Werk mit einem „raffiniert komponierten Eintopf, bei dem jeder Löffel etwas anders schmeckt«.
Dass es trotzdem zu vergleichsweise wenig Verirrung im Text kommt, liegt an dem in aus Korea stammenden Romanen oft sachlichen, Rapport-artigem Stil. Egal, ob das Polizeipräsidium und alle dort gespeicherten Daten von einem anderen Gebäude zermalmt werden, ein in Raum und Zeit unerwarteter Identitätswechsel stattfindet oder darüber nachgedacht wird, als wie belastend das Attribut »wahre« vor dem Wort »Liebe« einzustufen ist – stets fehlt ein betont gefühliges Hochkitzeln, jeder literarische Aufwand, aber auch das ausgesucht karge Schreiben mit der Handkante.
Immer nur ruhig und nüchtern: »Es gibt Menschen, die das Glück der anderen begehren, um selbst glücklich werden zu können.« »Shopping und Schönheitsoperation, außer diesen beiden Dingen gab es nichts, was sich mit der Zeit über die Maßen weiterentwickelt hatte.« »Während der Laser die Wand durchbohrte und vom einen in den nächsten Raum drang, hatte er weitere Tote und Verletzte gefordert.«
Diese Sachlichkeit hängt vielleicht damit zusammen, dass Kim Young-Tak auch Drehbuchautor ist. 2010 erschien sein Film Hello Ghost, eine Horror-Komödie um einen missglückten Freitod, in dessen Folge der Selbstmörder nach dem Versuch von vier aufdringlichen Geistern verfolgt wird – in Indonesien kam gerade das Remake in die Kinos. 2014 folgte Slow Video, die Kopplung von Romantik und digitaler Überwachung: Seit der Grundschule leidet der Protagonist unter einer Augenkrankheit, sieht alles in Zeitlupe. Sein Job im CCTV-Kontrollzentrum lässt ihm daher viel Zeit, sich die wahrgenommene Realität fantastisch auszumalen – wie in den Seifenopern, die er liebt.
Sätze in solchen Drehbüchern müssen weder schön noch cool sein, sondern rein funktional. Auch Knochensuppe soll derzeit nach Verlagsangaben für eine 16 Episoden umfassende TV-Serie verfilmt werden.
Man darf das Werk aber auch getrost dem Hallyu-Trend zuordnen, der koreanischen Welle. Die Kultur des Südens boomt international seit Beginn dieses Jahrtausend. Dazu gehört die Pop-Gruppe BTS oder die Küche mit Bibimbap oder Dalgona Coffee. Doch in den letzten Jahren sorgte Hallyu oft mit schonungslos verstörender Kritik an unserer modernen Welt für Aufsehen.
Die Netflix-Serie Squid Game etwa, extrem erfolgreich, extrem brutal und extrem deutlich in ihrer Anklage von Egoismus, Konkurrenz und Eliten, die arme Menschen wortwörtlich wie Spielzeug behandeln. Auch Romane gehören dazu, Kim Young-has Aufzeichnungen eines Serienkillers, die mit dem Deutschen Krimipreis ausgezeichneten Tagebücher eines an zunehmender Demenz erkrankten Serienkillers. Cho Nam-Joos Kim Jiyoung, geboren 1982, minimalistisches Porträt einer Frau, deren Persönlichkeit sich unter der alltäglichen Mysogynie von Schuluniformen bis nächtlichen Anmachen spaltet. Oder Die Vegetarierin von Han Kang über eine leidenschaftslose, aber pflichtbewusste Ehefrau, deren einziges Vergehen gegen die soziale Ordnung darin besteht, kein Fleisch mehr essen zu wollen – und schließlich auf der Geschlossenen landet. Und natürlich die Filme von Bong Joon-ho: Snowpiercer (2013), grellster Klassenkampf in Folge der Erderwärmung; Okja (2017), in dem es um Genmanipulationen der Lebensmittelindustrie geht; am bekanntesten wohl Parasite (2019) um eine neurotische Oberschicht und eine verzweifelte, gesellschaftlich verdrängte Unterschicht, der als erster nicht englischsprachiger Film den Oscar als bester Spielfilm erhielt.
Knochensuppe gleicht solchen Vorgängern in Haltung und Inhalt, gleichwohl mit anderer Grundierung. Denn angeblich kam Kim Young-Tak, der Sinologie studierte und sich alles andere autodidaktisch erarbeitete, die Idee kurz vor seinem vierzigsten Geburtstag – am Tag nach dem Tod seines Vaters. Er dachte, es wäre doch schön, in jene Zeit zurückzukehren, in der sein Vater noch lebte, der es zudem liebte, dass sie gemeinsam Gomtang aßen.
So schwebt eine gewisse Zärtlichkeit über allem. Auch, weil Uhwan entdeckt, dass es gar kein geheimes geheimes Rezept gibt, dass eine köstliche Knochensuppe einfach sehr viel Zeit Anspruch nimmt. Und er einen Imbiss entdeckt, in dem sie serviert wird. Vor allem der zweite Teil des Buches ist so neben allem Wumms auch eine Feier des Kochens und eine Liebeserklärung an das Essen in Gemeinschaft.
Helmut Ziegler
Kim Young-Tak: Knochensuppe 1 – Der Mörder aus der Zukunft.
Knochensuppe 2 – Die Nacht, in der zwölf Menschen verschwanden. Beide aus dem Koreanischen von Hyuk-sook Kim und Manfred Selzer. Beide Golkonda, München 2023. Beide je 384 Seiten, je 20 Euro.