Geschrieben am 1. Februar 2021 von für Crimemag, CrimeMag Februar 2021

Helden und Mythen

Odysseus und die Freier

Markus Pohlmeyer über „Helden“ von Stephen Fry

Stephen Fry, ja der Stephen Fry, über Theseus: „Es ist der Archetyp der Kinderbücher, der Bücher für junge Erwachsene und – machen wir uns nichts vor – für Möchtegern-Erwachsene wie wir. Ein mysteriös abwesender Vater. Eine liebende Mutter, die dich ermutigt zu glauben, du seiest etwas Besonderes. Der Auserwählte. ‚Du bist ein Zauberer, Harry!‘ Dieses Zeugs.“[1] Fry erwischt uns Leser und Leserinnen, groß und klein, bei unseren Wünschen und Phantasien allein durch die Drehung des Personalpronomens „die dich ermutigt“ statt die ihn, Theseus, ermutigt … Adieu Harry (oder wie auch immer du heißen magst), du bist nichts Besonderes, sondern nur ein Archetyp. Frech, fry und fröhlich, wohltuend überpsychologisierend und immer treffsicher ironisch (daneben) führt uns „Helden“ durch die griechische Mythologie und zeigt, wie lohnend es sein kann, diese Mythen neu zu erzählen, immer wieder zu erzählen – und natürlich zu lesen. Dahinter kann sich ein interessanter Lernprozess verbergen: „Mythen können so etwas wie menschliche Algebra sein, die es einfacher macht, Wahrheiten über uns selbst zu verarbeiten. Symbole und Rituale sind keine Spiele oder Spielzeuge, von denen wir uns beim Erwachsenwerden verabschieden müssen, sie sind Werkzeuge, die wir immer brauchen werden. Sie stehen unseren wissenschaftlichen Antrieben nicht im Weg, sondern ergänzen sie.“[2]

Viele der Älteren von uns kennen bestimmt noch Gustav Schwabs „Sagen des klassischen Altertums“ und sind vielleicht damit sogar groß geworden. Der Vorteil dieser Sammlung: sie beinhaltet auch noch eine römische Perspektive in Hinblick auf Äneas (… die sprachlich weit, weit hinter Vergil zurück bleibt, fast bis an die Schmerzgrenze, zumindest meine.). Schwab stellt eine beeindruckende Fülle zusammen (in meiner Ausgabe auf ca. 940 Seiten), nacherzählend, bisweilen lapidar: „Theseus wurde mit allen seinen Gefährten von Minos in das Labyrinth geschickt, machte den Führer seiner Genossen, erlegt mit seiner Zauberwaffe den Minotaurus und wandt sich mit allen, die bei ihm waren, durch Hilfe des abgespulten Zwirns aus den Höhlengängen des Labyrinths glücklich heraus.“[3] Kaum noch zu verkürzen. Aber lesen Sie einmal zum poetischen Vergleich diese Geschichte in Ovids „Metamorphosen“ nach. Oder bei Stephen Fry, der daraus im Grunde die Vorlage für eine Mini-Serie schafft, nur beispielsweise Folgendes – mit ausholendem Pathos und anatomischen Interesse verfasst –, als Theseus den Minotaurus (Asterion) schon besiegt hat: „Theseus kniete sich neben ihn und sprach sanft in sein Ohr. ‚Voller Respekt, Asterion, schicke ich dich geschwind zu deiner ewigen Ruhe. Die Welt soll wissen, dass du eines mutigen und edlen Todes gestorben bist.‘ Das Aufschlitzen der Kehle musste die Stimmbänder gelöst haben, die Asterion eben noch die Macht der Sprache verweigert hatten. Trotz des sprudelnden Blutes, das aus dem Schnitt drang, konnte er nun sprechen. So deutlich wie von einem Orator[4] auf der Akropolis vernahm Theseus das Wort ‚Danke‘, bevor alles Leben aus dem monströsen Körper entwich.“[5] Dieser Stiermann, nichts als eine gequälte Kreatur, die erst im Tode Zugang zum Menschsein finden kann – durch Sprache. Eine Erlösungsgeschichte, in der ein Held Mitleid mit dem Ungeheuer zeigt. 

Noch ein kurzer Kommentar zur Methodik: „Wenn ich an den Details ein wenig herumfummle, mache ich nur das, was Menschen immer mit Mythen gemacht haben. In diesem Sinn glaube ich, dass ich meinen Teil dazu beitrage, sie am Leben zu erhalten.“[6] Die narrative Genese und Fortsetzung von Mythen („ideenreiche, symbolische Konstrukte“[7]) sind auch Inversionen des Religiösen: „Solche Götter werden nach unserem Bild geschaffen, nicht umgekehrt.“[8]Darum, wer sich mit Mythen beschäftigt, rezipierend oder produzierend, hält sich gewissermaßen selbst den Spiegel vor das eigene Gesicht. Man/frau sollte sich nicht allzu sehr in das eigene Bildnis versenken, wie z.B. Narziss: „‘Du glaubst du doch nicht, ich will was von dir?‘ ‚Ich will was von dir!‘“ [9] … antwortet darauf Echo, indem sie als In-Narziss-Verliebte aus dem Fragezeichen des In-Narziss-Verliebten ein Ausrufezeichen macht. Bitte einmal beobachten, welche Mythen Sie in Ihrem Alltag entdecken! ‚Bei Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie‘ Ihre Mythopoeten, wie z.B. Hesiod, Ovid, Thomas Mann oder James Joyce. Oder einen Blick in den absoluten Klassiker in diesem Bereich werfen – hier mit den Augen eines Kindes: „Lieber Gott, Dein Buch ist klasse. Mir gefallen die Science-fiction-Geschichten. Du hast sehr schöne Ideen und ich würde gerne wissen, wo Du sie hernimmst. Tschüss, Dein Leser Giovanni“[10].

Markus Pohlmeyer lehrt an der Europa-Universität Flensburg. Seine Texte bei uns hier.


[1] S. Fry: Helden. Die klassischen Sagen der Antike neu erzählt, übers. v. M. Frings, Berlin 2020, 334. (Und mit einem Bildteil ausgestattet.) 

[2] Fry: Helden (s. Anm. 1), 421.

[3] G. Schwab: Sagen des klassischen Altertums. Vollständige Ausgabe, Köln 2011 (ursprünglich ab 1838), 217 f.

[4] Das lateinische Wort für ‚Redner‘, nun ja …

[5] Fry: Helden (s. Anm. 1), 390.

[6] S. Fry: Mythos. Was uns die Götter heute sagen, übers. v. M. Frings, 3. Aufl., Berlin 2020, 438.

[7] Fry: Mythos (s. Anm. 6), 439.

[8] Fry: Mythos (s. Anm. 6), 439. Das ist hier verkürzt Anthropomorphismus (oder Projektionsverdacht).

[9] Fry: Mythos (s. Anm. 6), 373.

[10] È proprio facile/Einfach italienisch lesen, übers. v. A. Rademacher – L. Roncoroni, 7. Aufl., München 2018, 59.

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