Kraft durch Dichtung
Er hat nicht mehr erlebt, dass sein Werk gedruckt, gelobt und in viele Sprachen übersetzt wurde. Einzelne Gedichte und Erzählungen kamen im Ausland, und auch in der russischen Exilpresse oft verstümmelt, an die Öffentlichkeit, das Wenige, das vor allem im Samisdat, also im inoffiziellen Untergrund in der Sowjetunion erschien, war vom Redakteur gekürzt und seines Sinns entstellt worden. Heute gilt Warlam Schalamow als einer der wichtigsten russischen Autoren, sein Name ist vor allem mit den “Erzählungen aus Kolyma”, der Zwangsarbeit am Kältepol der Erde verbunden. Seine Anerkennung hat er nicht mehr erlebt, das Werk erschien erst nach dem Ende der Sowjetunion.

Franziska Thun-Hohenstein, die Schalamows Schriften seit 2007 herausgibt, hat versucht, eine Biographie zu schreiben, obwohl die meisten Zeugnisse, Skizzen und frühe Gedichte, Dokumente über die Kindheit aus Angst vor Repressionen von den Verwandten vernichtet wurden.
Der 1907 in Wologda geborene Dichter, Sohn eines orthodoxen Priesters, verstand sich in seiner Jugend als Revolutionär, er kam 1924 nach Moskau und gehörte zur linken studentischen Opposition. 1929, als bereits die führenden Stalin-Gegner aus der Regierungspartei ausgeschlossen waren, wurde er zum ersten Mal “wegen konterrevolutionärer Agitation und Propaganda” verhaftet und zu Zwangsarbeit verurteilt. 1937 wurde er wieder verhaftet und für siebzehn Jahre in Kolyma, im äußersten sibirischen Osten weggesperrt. Dort mussten die Häftlinge nicht nur bei minus 50 bis minus 60 Grad Zwangsarbeit in Bergwerken und als Holzfäller und im Straßenbau verrichten, sie waren zudem den Grausamkeiten der Ganoven ausgesetzt, die den Lageralltag beherrschten. Hunger, Krankheiten, Erschießungen und Willkür der Bewacher waren “normal”.
Schalamow war nicht nur “Zeuge” des GULag, er hat in seinen Erzählungen über die Kolyma, in Gedichten und Prosa, nach der Verfasstheit des Menschen gefragt. Er wollte die menschlichen Abgründe, die Auflösung des Menschlichen und Möglichkeiten des Menschseins unter unmenschlichen Bedingungen ergründen – und eine angemessene Sprache dafür finden. Er war der Meinung, dass sich nach Auschwitz, Kolyma und Hiroshima “biographisches Erzählen nach dem Muster des europäischen Bildungs- und Erziehungsromans verbot”. Das Ringen um neue literarische Formen und Schalamows Suche nach einer adäquaten Erzählform nimmt in seinen Briefen und in der Rekonstruktion der Autorin viel Raum ein.

Schalamow “hat sein Leben und sein literarisches Werk seiner Epoche und dem Staat, der ihn vernichten wollte, buchstäblich abgetrotzt”, schreibt die Biographin in ihrer Einleitung. Sie konzediert, dass sich eine Werkchronik kaum rekonstruieren lässt und ihre Biographie notgedrungen bruchstückhaft ist, so brüchig wie Schalamows Leben. Trotzdem geht sie chronologisch von der Kindheit bis zum Tod den Spuren nach, die dieses tragische Leben erhellen könnten. Die Biographin hilft sich mit Material aus dem Umfeld, von Freunden (u.a. Nadeshda Mandelstam), mit verstreuten Aussagen von Menschen, die Schalamow kannten und mit Material, das sie in Archiven gefunden hat – Untersuchungsakten, Dokumente über die Bedingungen im Lager. Ihre profunde Kenntnis der sowjetischen Geschichte vermag viele Lücken zu füllen, allerdings muss sie sich häufig mit Redewendungen behelfen wie: “kann man vermuten, bleibt unbekannt, lässt sich nicht rekonstruieren, bleibt im Dunkeln, ist anzunehmen”. Sie stellt Fragen, die “sich nicht beantworten lassen”, und vergleicht Schalamows Versuche einer literarischen Darstellung der Erfahrungen im Lager mit der von Autoren wie Pasternak und Solschenizyn, Primo Levi oder Imre Kertész.
Zu den Höhepunkten des Buchs gehört die Nacherzählung des Gedenkabends für Ossip Mandelstam im Mai 1965 an der Moskauer Staatlichen Lomonossow-Universität, bei dem Schalamow aus seinem Text über Mandelstam las. Ilja Ehrenburg hatte als Moderator seine schützende Hand über den von Studenten organisierte Veranstaltung gehalten, bei der Dichter, Intellektuelle, Professoren und Studenten in den überfüllten Saal gekommen waren – trotz Überwachung durch den KGB.
1956 wurde Schalamow rehabilitiert, bekam eine minimale Entschädigung, die kaum zum Leben reichte und versuchte, Anschluss an die Moskauer Literaturszene zu bekommen. Auch zur Zeit des “Tauwetters” nach dem 20. Parteitag arbeitete die Zensur weiter, das alte Personal blieb weitgehend an wichtigen Stellen des literarischen Lebens. Seine Manuskripte wurden teils von Freunden gerettet, teils vom KGB gestohlen. Er kämpfte mit seiner Gesundheit, mit Funktionären, war fast taub und schwierig im Umgang auch mit Menschen, die es gut meinten. Die Anerkennung, nach der er sich sehnte, wurde ihm zu Lebzeiten verweigert. Er endete in einem Altersheim und starb verwirrt, fast blind 1982 in einer Nervenheilanstalt.
Das fast 500-seitige Buch ist die Suchbewegung einer Kennerin, die alles daransetzt, um den Autor von unvergleichlich exakten, ergreifenden, trotz aller Schrecknisse auch poetischen “Berichten aus der Hölle” zu verstehen und wiederzuerwecken.
PS: Das Durchgangslager Magadan, “Hauptstadt” für die Erschließung der Region für Goldabbau und Industrialisierung des nordöstlichen Sibiriens, geisterte kürzlich durch die Nachrichten, als der russische Parlamentspräsident den “Reluktanten”, den “Feiglingen, die das Land verlassen hatten” mit Magadan drohte, falls sie zurückkehrten.
Franziska Thun-Hohenstein: Das Leben schreiben. Warlam Schalamow. Biographie und Poetik. Matthes & Seitz, Berlin 2022. 536 Seiten, gebunden, 38 Euro.
- Hazel E. Rosenstrauch, geb. in London, aufgewachsen in Wien, lebt in Berlin. Studium der Germanistik, Soziologie, Philosophie in Berlin, Promotion in Empirischer Kulturwissenschaft in Tübingen. Lehre und Forschung an verschiedenen Universitäten, Arbeit als Journalistin, Lektorin, Redakteurin, freie Autorin. Publikationen zu historischen und aktuellen Themen, über Aufklärer, frühe Romantiker, Juden, Henker, Frauen, Eitelkeit, Wiener Kongress, Liebe und Ausgrenzung um 1800 in Büchern und Blogs. Ihre Internetseite hier: www.hazelrosenstrauch.de
Ihre Texte bei CulturMag hier. Ihr Buch „Karl Huss, der empfindsame Henker“ hier besprochen. Aus jüngerer Zeit: „Simon Veit. Der missachtete Mann einer berühmten Frau“ (persona Verlag, 112 Seiten, 10 Euro). CulturMag-Besprechung hier.