Geschrieben am 1. Dezember 2021 von für Crimemag, CrimeMag Dezember 2021

Hazel Rosenstrauch zu „Haus des Kindes“

Andere Normalitäten

Berlin war kaputt und es war geteilt. Auf der damals noch Stalinallee genannten Chaussee wurde Anfang der 1950er Jahre mit Bauten im Stil des „sozialistischen Klassizismus“ begonnen, am Straußberger Platz entstanden zwei Hochhäuser, eines davon als „Haus des Kindes“, und das ist auch der Titel des Buchs von Helga Kurzchalia, die in diesem Prachtbau aufgewachsen ist. „Die gigantischen Marmorsäulen in der opernhaften Eingangshalle“ beeindruckten die damals 5-jährige Tochter eines wohlgelittenen Funktionärs. Die Eltern hatten den Krieg in England überlebt, die Mutter war Wienerin, was offenkundig für die kleine Helga wichtig war, sie erzieht ihre Kinder anders als in der etwas strammeren Umgebung, in der Schule üblich, erst recht bei den Tanten im Kinderwohnheim, in dem sie zeitweise deponiert wurde. 

Normalen in Westdeutschland oder Westberlin aufgewachsenen Deutschen ist schwer begreiflich zu machen, wieso jemand nach Krieg und Exil in den „Osten“ zog. Die Eltern waren, wie viele, die eine bessere Welt wollten und vor den Nazis fliehen mussten, überzeugte Kommunisten. Wer mit der Geschichte von Menschen vertraut ist, die nicht in Nazideutschland gelebt haben, sondern im Exil, versteht bei der Lektüre der ersten Seiten, dass diese Eltern nicht nur Kommunisten waren, die Mutter war zudem jüdisch, das wird in dem Buch nicht groß kommentiert und interpretiert. Das Jüdische fällt schon deshalb unter den Tisch, weil es für Kommunisten keine Bedeutung hatte, sie waren Juden ja vor allem nach den Nürnberger Gesetzen, glaubten nicht an diesen und nicht an jenen Gott, Marx und Lenin ausgenommen. „Sie wollten beim Wiederaufbau dabei sein“ heißt auch, sie glaubten an das bessere, antifaschistische Deutschland und wussten auch ohne Propaganda ganz gut, dass in der BRD (ab den 70er Jahren vermiedene Abkürzung, wie ich aus Wikipedia lerne) nicht nur wie in der DDR im Volk viele alte Nazis waren, sondern sie dort auch wichtige Ämter innehatten. 

© Wiki-Commons

Wir erfahren, wie das Kind, dann die Jugendliche, das schöne Haus, die Eltern, die meist prominenten Nachbarn und den Gegensatz zu Schulfreunden erlebt, die „auf der Rückseite der Stalinallee“ wohnten. Die Widersprüche werden spätestens 1953, als an der Stalinalle die Demonstratonen gegen die Normen begannen und die Mutter für den Sozialismus agitierte, offenkundig. Man war mit den Hensel- und den Havemanns befreundet, dem Architekten des Hauses und dem berühmten Ketzer, die Kinder spielten miteinander. Und irgendwann wurde nicht mehr mit Familie Havemann gesprochen. „Im Frühjahr 1964 wurde Havemann aus dem Lehramt entfernt.“ Ein andermal war eine von Nachbarn Tür versiegelt, „der junge Henschel war der erste Republikflüchtling“. Eine Lehrerin verschwindet, die Familie Schubert „halbierte sich Ende der Fünfziger, Mutter und Tochter waren geflüchtet. Der Sohn blieb mit dem Vater zurück. Meine Mutter hatte den Sohn herzlich bedauert“, aber über die Geflüchteten wurde kein Wort verloren. 

Kurzchalia erzählt von brüchigen Biographien, von Gesichtsausdrücken und von Stimmungen, in denen sich all die Widersprüchlichkeiten des neuen Deutschlands und der verschiedenen Herkünfte  ausdrücken. Von den Konflikte wird in ruhigem Ton berichtet, gelassen und unideologisch. Die zunehmend kritische Wahrnehmung der Funktionärstochter und die Abgrenzung von den Eltern werden nicht als dramatischen Enthüllungen präsentiert, es ist eher ein „so war es“. Als Studentin hörte sie auf, zu Demonstrationen zu gehen. „Neidisch verfolgte ich die Fernsehbilder aus Italien, Frankreich und Westberlin, wo es die Studenten in Scharen auf die Straße drängte, um gegen Eltern und Staat aufzubegehren.“ 

Der Einmarsch in Prag, der Besuch von Verwandten, die in ihrem Exilland geblieben sind, oder jene Genossen aus Griechenland, die vor der Junta geflohen waren, hatten den Blick für eine größere Welt geschärft. Auch für den „Niedergang in kleinen Schritten“. Nicht nur die Stasi, auch Küchenschaben haben sich in den 70er Jahren im Haus des Kindes eingenistet.  

Es gab eben nicht nur die einen, die für, und andere, die dagegen waren, sondern viele verschiedene Gründe, noch lange an die Zukunft unter sozialistischen Vorzeichen zu glauben, den Verfall des Hauses oder fehlende Güter wie der Vater noch lange Zeit als „Kinderkrankheiten“ zu betrachten. Für diese Zwischentöne und die stille Nachdenklichkeit in ihrer Erzählung danke ich der Autorin.  

Der Wiederaufbau Berlins war in den frühen Fünfzigerjahren des vorigen Jahrhunderts Teil des ideologischen Wettbewerbs zwischen West und Ost. Die damalige Stalin- jetzt Frankfurter Allee („wer war Herr Frankfurter“, fragte Wolf Biermann) steht inzwischen unter Denkmalschutz. Als Gegenstück galt das Westberliner Hansaviertel, das still und leise ins Abseits geraten ist und leichte Verfallserscheinungen zeigt. Ein größerer Gegensatz als zwischen den modernen Bauten im Westen und dem sozialistischen Klassizismus in Friedrichshain ist bis heute kaum denkbar – sieht man von Berliner Neubauten der letzten Jahre, Schloßss hier und Zentrale des Bundesnachrichtendienstes da – ab. 

Helga Kurzchalia: Haus des Kindes. Friedenauer Presse, Berlin 2021. 140 Seiten, gebunden, 18 Euro.

Hazel E. Rosenstrauch, geb. in London, aufgewachsen in Wien, lebt in Berlin. Studium der Germanistik, Soziologie, Philosophie in Berlin, Promotion in Empirischer Kulturwissenschaft in Tübingen. Lehre und Forschung an verschiedenen Universitäten, Arbeit als Journalistin, Lektorin, Redakteurin, freie Autorin. Publikationen zu historischen und aktuellen Themen, über Aufklärer, frühe Romantiker, Juden, Henker, Frauen, Eitelkeit, Wiener Kongress, Liebe und Ausgrenzung um 1800 in Büchern und Blogs.  Ihre Internetseite hier: www.hazelrosenstrauch.de

Ihre Texte bei CulturMag hier. Ihr Buch „Karl Huss, der empfindsame Henker“ hier besprochen.Aus jüngerer Zeit: „Simon Veit. Der missachtete Mann einer berühmten Frau“ (persona Verlag, 112 Seiten, 10 Euro). CulturMag-Besprechung hier.