
Auch ein Brief an den Vater
Die Tochter besucht den Vater in der schwäbischen Provinz, in der sie aufgewachsen ist. Er hat sie nicht unterdrückt, war kein Tyrann, sie ist die Starke, die in Berlin Karriere als Journalistin gemacht hat. Und doch denkt man, denke zumindest ich unvermeidlich an Kafka, in dessen Brief an den Vater auch der Satz steht: “Zum Gespräch kam es kaum.” Ach ja, der Name ist türkisch, die Eltern waren “Gastarbeiter”, aber Dilek Güngör bedient keines der Klischees, die in der Identitäts-Literatur so beliebt sind. Sowieso wundert es, wie streng getrennt die Erzählungen von Kindern aus der Arbeiterklasse hie und die von Zuwanderern da in streng getrennten Schulblade des Literaturbetriebs aufbewahrt werden.
Das Buch handelt vom Schweigen. “Wann haben wir aufgehört, miteinander zu sprechen” lautet der erste Satz. Es war nicht immer so schwierig, den Vater zum Sprechen zu bringen. Als sie klein war, hat er sie geherzt, mit ihr gerauft und gescherzt. Jetzt haben sie sich nichts mehr zu sagen, die Pausen sind quälend, die drei Tage, die sie bei ihm sein wird, werden anstrengend. Dieser Vater ist still, man könnte sagen brav, er reagiert auf ihre Fragen bestenfalls mit sehr kurzen Sätzen. Nebenbei ist es ein Buch gegen vertraute Zuordnungen. Die Mutter ist nicht untertänig, im Gegenteil. Sie quatscht, sie entscheidet, sie geht mit ihren Freundinnen zum Yoga oder Qi Gong und vergnügt sich mit ihnen in einem Thermalbad – ihre drei Tage Abwesenheit sind Anlass für den Besuch der Tochter. “Nie sagte eine der Frauen etwas Liebevolles, etwas Schönes, etwas Gutes über ihren Mann.” Ich denke an meine feministische Freundin K., die alle Türken für Machos und alle Türkinnen für unterdrückt hält.
Erst auf Seite 60 ist von Mobbing in der Schule und von Fremdheit die Rede. Den Eltern hat sie von den Beleidigungen nicht erzählt, sie hätten sie nicht verstanden. Solche Geschichten stehen auf Nebengleisen, werden kurz angedeutet, ohne das derzeit beliebte Gejammere. Der Hauptstrang handelt von Sprache. Und von Wortlosigkeit. “Das Deutsch, das ich lernte, war Schwäbisch. Man spricht es mit schwerer, träger Zunge, hinten im Mund. Ich mag den vertrauten Klang, und ich mag Wörter wie Bäbb und Klomb. Auch wenn ich mir den Dialekt weitgehend abtrainiert habe.” Neue Worte hat sie “wie ein Bonbon im Mund mit der Zunge umhergeschoben, entschlüsselt und gelernt”.
Man sollte dieses Buch Linguisten in die Hand drücken, Lehrern, allen die mit Sprache zu tun haben. “Deutsch lernte ich nicht aus Büchern, ich lernte es durch Hinhören, Imitieren, Merken. Ohne es zu bemerken, hat die Sprache mich durchdrungen, ist aber nicht auf der anderen Seite wieder herausgekommen. Sie ist in mir steckengeblieben …”
Güngör verwendet so herrliche Formulierungen wie “Wörterstau”, der entstand, als sie Vokabeln aus vielerlei Sprachen lernte, sie hat Wörter “aus Gier gehortet”, und sie hat gelernt zuzuhören. Der schwäbische Dialekt, ihre Sprache, seine Sprache, das richtige Türkisch der Dozenten, die genaue Wahl der Worte haben sie geprägt. Mit kleinen feinen Andeutungen skizziert sie die Atmosphäre, ihr Leben wird nur angedeutet. Der Freund, der ausgezogen ist, bleibt ebenso im Hintergrund wie die Berliner Redaktion, für die sie arbeitet, und doch erfährt man viel über dieses Leben – dort unten im Schwabenland, in der Werkstatt des Vaters, im Umgang mit Nachbarn und Familie, in dem Haus, das die Eltern im deutschen Dorf und nicht in der Türkei gekauft haben – wo es doch viel billiger wäre.
Es entsteht keine Nähe zwischen Tochter und Vater, jedenfalls nicht durch Sprechen oder gar Plaudern. Der Vater bleibt im Auto sitzen, als sie zum Zug geht. Und doch steckt in dem Schweigen und in der unbeantworteten Frage nach dem Grund dieser Fremdheit viel Liebe – zum Vater und zu Sprache als Mittel der Annäherung. Ein kurzes Buch, in dem viel zwischen den Zeilen steht, es ist ein leiser, mit wohlgewählten Worten verfasster Roman (auf dem Titel steht: Roman). Er erzählt trotz Furcht und Schweigen von der Freiheit einer Frau aus der zweiten Generation der Hergeholten.
Dilek Güngör: Vater und Ich. Verbrecher-Verlag, Berlin 2021. Hardcover, 104 Seiten, 19 Euro.
Hazel E. Rosenstrauch, geb. in London, aufgewachsen in Wien, lebt in Berlin. Studium der Germanistik, Soziologie, Philosophie in Berlin, Promotion in Empirischer Kulturwissenschaft in Tübingen. Lehre und Forschung an verschiedenen Universitäten, Arbeit als Journalistin, Lektorin, Redakteurin, freie Autorin. Publikationen zu historischen und aktuellen Themen, über Aufklärer, frühe Romantiker, Juden, Henker, Frauen, Eitelkeit, Wiener Kongress, Liebe und Ausgrenzung um 1800 in Büchern und Blogs. Ihre Internetseite hier: www.hazelrosenstrauch.de
Ihre Texte bei CulturMag hier. Ihr Buch „Karl Huss, der empfindsame Henker“ hier besprochen.Aus jüngerer Zeit: „Simon Veit. Der missachtete Mann einer berühmten Frau“ (persona Verlag, 112 Seiten, 10 Euro). CulturMag-Besprechung hier.