
Lust und Sucht vor 200 Jahren
Es sind fürwahr wilde Geschichten, die der Galiani-Verlag neu herausgegeben hat. Ludwig Tieck wird von der Germanistik als König der Romantik eingeordnet, und die Romantik ist, vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte, eine komplizierte Angelegenheit. Die guten und die bösen Reminiszenzen sind von Realitätsflucht und Schwärmerei, viel Wald und Wahn und IchIchIch und den Irrungen und Wirrungen der Nazis begleitet. Bei diesem Buch aber konnte ich mich von einer kürzlich gelesenen Schwärmerei für die Entdeckung des Ich erholen. Tieck wird als Vorfahr experimenteller Erzählweisen vorgestellt, beinahe ein Ahn heutiger Filmtechniken. Und dies ohne ausschweifende theoretische Erklärungen.
Tieck war, wie es im Umschlagtext heißt, “erster deutscher “Großstadtautor, Übersetzer und Herausgebergenie”, die meisten der Texte erschienen in Friedrich Nicolais Zeitschrift “Straußfedern”. Dank der (sehr zurückhaltenden) Zwischentexte lassen sich Bezüge zu Karl Philipp Moritz’ “Magazin zur Erfahrungsseelenkunde” deutlich erkennen. Womit Zusammenhänge und Kontinuitäten zwischen Aufklärung und romantischen Rebellen ohne Zeigefinger angedeutet und nicht umständlich erklärt werden. In den meisten der hier abgedruckten Geschichten kippen die Figuren in Wahnvorstellungen und dunkle Abgründe, sie werden von ihren Ängsten und Phantasien weggetragen – was mit vielversprechenden Hoffnungen begonnen hat, endet oft in Verzweiflung und Tod. Dazwischen die jubelnden Vögelein, der ermunternde Wind und Seufzer des Entzückens – die vielen Adjektive wären wohl nicht auszuhalten ohne diese immer bescheidenen Interventionen der Herausgeber, die den Blick auf die von Tieck beabsichtigten Effekte lenken: “Der Texttaumel, der eigentümliche literarische Terrorismus, der Schock, sprengt dabei vorsätzlich jede gefühlige Empfindsamkeit.”
Ludwig Tieck frönte exzessiv der Lesesucht, die im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts verbreitet war und für bedrohlich gehalten wurde, da sie angeblich dunkle Ahnungen und Wahn beförderte. Er war ein “begnadeter Vorleser”, erfährt man gleich zu Beginn, las acht Stunden vor, die Zuhörer schliefen ein, und er verlor sich in Schwärmereien und Wahn. Die Ausflüge in die Einbildungskraft, Ausschweifungen der Phantasie, das Überschreiten der Grenze zwischen Wahn und Wirklichkeit oder die Verführung durch Gold und Edelsteine regen zu Träumen und nebenbei zu Reflexionen an, die auch in unsere Zeit passen. Wie viel Witz und Ironie in Tiecks abgründigen Phantastereien – und im damaligen Zeitgeist – stecken, begreift man manchmal erst, wenn der doppelte Boden dieser Geschichten durch die Kommentare herausgekitzelt wird. Durch die Querverbindungen zu Psychologie und Naturwissenschaften wächst auch das Vergnügen an Tiecks Spielerei zwischen Vernünftelei und Phantasmen.
Die Ausgrabung lässt einen nicht nur zu den heute wieder beliebten Elfen schweifen, sie kann auch das Verständnis für die neue Lust an der Verwechslung von Wahnidee und Wirklichkeit erweitern. “Schwindel” gehörte zur Poetik der Zeit, die Herausgeber verbinden den gewaltigen Umbruch um 1800 mit heutigen Verwirrungen samt der “dunklen Verlockung dämonischer Kräfte”. Es wird nicht aktualisiert (wenn ich von der kleinen Andeutung zum Kult der Achtsamkeit absehe), aber verschwimmende Übergänge zwischen Phantasie und Wirklichkeit werden gut erkennbar – teils in den Geschichten, teils durch die Zwischentexte. Tieck, heißt es am Anfang, hat sich lesend verloren, “schreibend gewinnt er sich zurück”. Kommentierend werden hier die Gegensätze zwischen Aufklärung und Romantik ad acta gelegt und Einsichten in die Möglichkeit verschiedener Perspektiven gewonnen.
Ach, hätten wir doch im Germanistik-Studium solche Professoren und Kommentatoren gekannt, wir wären für den Umgang mit Wahn und Wirklichkeit, Empfindlichkeit und Katastrophen, Verwirrungen und Wechselwirkungen ausgerüstet worden.
Ludwig Tieck: Wilde Geschichten. Herausgegeben und mit Zwischentexten versehen von Jörg Bong und Roland Borgards. Galiani, Berlin 2023. 288 Seiten, 25 Euro.
- Hazel E. Rosenstrauch, geb. in London, aufgewachsen in Wien, lebt in Berlin. Studium der Germanistik, Soziologie, Philosophie in Berlin, Promotion in Empirischer Kulturwissenschaft in Tübingen. Lehre und Forschung an verschiedenen Universitäten, Arbeit als Journalistin, Lektorin, Redakteurin, freie Autorin. Publikationen zu historischen und aktuellen Themen, über Aufklärer, frühe Romantiker, Juden, Henker, Frauen, Eitelkeit, Wiener Kongress, Liebe und Ausgrenzung um 1800 in Büchern und Blogs. Ihre Internetseite hier: www.hazelrosenstrauch.de
Ihre Texte bei CulturMag hier. Ihr Buch „Karl Huss, der empfindsame Henker“ hier besprochen. Aus jüngerer Zeit: „Simon Veit. Der missachtete Mann einer berühmten Frau“ (persona Verlag, 112 Seiten, 10 Euro). CulturMag-Besprechung hier.