Geschrieben am 1. Mai 2021 von für Crimemag, CrimeMag Mai 2021

Hazel Rosenstrauch über Kapka Kassabova

Beeindruckendes Ineinander von historischer, persönlicher und politischer Geschichte

Über das Buch „Am See, Reise zu meinen Vorfahren in Krieg und Frieden“ 

Ist es ein Buch über Identität oder Polyamour, handelt es von Wurzelsuche oder Multikulti? All das spielt eine Rolle und dazu kommt die weit zurückreichende Geschichtde von Völkermischungen, Grenzziehungen, dem Neben- und Gegeneinander dort unten am Balkan. Die Autorin befragt bei ihrer Recherche rund um den Ohrid-See Verwandte und Straßenbekanntschaften, sie sammelt Geschichten und erzählt von den unterschiedlichen Religionen, von Kriegen und Fluchten und gemischten Ehen, Freund- und Verwandtschaften zwischen Bulgaren, Albanern, Mazedoniern, Türken und Griechen quer durch die Jahrhunderte – bis in die sehr ferne Zeit, in der die römische Via Ignatia dort angelegt wurde. 

Bevor ich den vielversprechenden ersten Satz zitiere, will ich meinen Dank an die Übersetzerin loswerden, sie gehört aufs Titelblatt. An der Sprachmelodie erkannte ich Brigitte Hilzensauer, die auch Sophy Roberts Buch über Sibiriens vergessene Klaviere übersetzt hat – meine Besprechung hier auf CulturMag. Eine meines Erachtens viel zu wenig beachtete Nebenwirkung der Öffnung des eisernen Vorhangs ist, dass superkluge Frauen mit osteuropäischer Herkunft auf dem deutschen Buchmarkt angekommen sind und westeuropäische Autoren dorthin reisen und einst abgeschottete Länder heranzoomen können. Wie bei Sophy Roberts beeindruckt auch hier das Ineinander historischer, persönlicher und politischer Geschichte, die genaue, liebevolle Beschreibung von Landschaften und von Menschen, verknüpft mit Exkursen in die nahe und in sehr ferne Geschichte. 

Nun aber das Zitat, am Anfang steht: „Dieses Buch erzählt von zwei uralten Seen. Manche Orte sind in unsere DNA eingeschrieben, benötigen aber eine lange Zeit,um ihre Konturen zu enthüllen, so wie manche Reisen in die Landschaft unserer Biographie eingeäzt sind, doch die Spanne eines Lebens benötigen, um volledet zu werden. So geht es mir mit diesen Seen. „

Kapka Kassabova wurde im noch kommunistischen Bulgarien geboren, zog mit ihren Eltern nach Neuseeland und lebt inzwischen in den schottischen Highlands. Ihre Vorfahren und ihre Sprachkenntnisse stammen aus Mazedonien, das bekanntlich zu Titos Jugoslawien gehörte und erst kürzlich nach schwierigen Verhandlungen mit Griechenland und der Vorsilbe „Nord“ seinen historischen Namen wiederbekommen hat. 

Sie sucht nicht so sehr Wurzeln, sondern will erfahren, was ein kulturelles und psychologisches Erbe ausmacht. Ohrid und Prespa, die zwei ältesten Seen Europas – 100 000 oder vielleicht auch 1 Million Jahre alt – sind nicht nur aufregend schön, sondern auch für viele Metaphern geeignet, um Unterströmungen und Energiewirbel aufzuspüren. Weitestgehend unsentimental wird das Nebeneinander von Streitsucht und Harmonie, Minaretten neben Kirchen samt Besuchen in beiden Gotteshäusern beschrieben, vom osmanischen Reich, deutschen Besatzern und jugoslawische Partisanen oder archäologischen Funden aus dem 6. Jahrhundert erzählt und dabei Berichte von uralten und neuen Migratonsbewegungen und Familiengeschichten elegant eingeflochten. Mazedonien war immer ein „gemischter Salat“, und auch heute noch werden viele Sprachen durcheinander gesprochen, stehen Ignoranz und Verständnis mal aggressiv, mal versöhnlich nebeneinander. „Identitäten haben sich hier öfters geändert als die fluktuierende Höhe des Wasserspiegels“. Hin und wieder lugt mazedonischer Stolz hervor, aber letztlich ist es vor allem ein Hohelied auf die Mischkulanz. 

Sie reist auch auf die albanische Seite, wo Müllsammler und glänzende Mercedes und viele Spuren des Hoxha-Regimes zu finden sind. Man begleitet die Autorin durch viele bedrückende und ebenso viele faszinierende Begegnungen, immer offen, immer neugierig – nur nach Überquerung der Grenze zu Griechenland verdunkelt sich der Ton. „Schockierenderweise scheinen bis heute makedonische Liedtexte bei offiziellen Anlässen in Griechenland verboten zu sein. Dahinter muss eine tiefe Furcht liegen. Aber was liegt hinter der Furcht.“.

Es geht um das immer noch wirksame Heulen in der Urväterlandschaft und um Gespenster, die weiter durch Europa spuken … und ein bisschen dann doch um die mazedonischen Wurzeln dieser Weltbürgerin. 

Kapka Kassabova: Am See. Reise zu meinen Vorfahren in Krieg und Frieden (To the Lake: a Balkan Journey of War and Peace, 2020). Übersetzt aus dem Englischen von Brigitte Hilzensauer. Zsolnay Verlag, Wien 2021. 416 Seiten, 26 Euro.

Hazel E. Rosenstrauch, geb. in London, aufgewachsen in Wien, lebt in Berlin. Studium der Germanistik, Soziologie, Philosophie in Berlin, Promotion in Empirischer Kulturwissenschaft in Tübingen. Lehre und Forschung an verschiedenen Universitäten, Arbeit als Journalistin, Lektorin, Redakteurin, freie Autorin. Publikationen zu historischen und aktuellen Themen, über Aufklärer, frühe Romantiker, Juden, Henker, Frauen, Eitelkeit, Wiener Kongress, Liebe und Ausgrenzung um 1800 in Büchern und Blogs.  Ihre Internetseite hier: www.hazelrosenstrauch.de

Ihre Texte bei CulturMag hier. Ihr Buch „Karl Huss, der empfindsame Henker“ hier besprochen.Aus jüngerer Zeit: „Simon Veit. Der missachtete Mann einer berühmten Frau“ (persona Verlag, 112 Seiten, 10 Euro). CulturMag-Besprechung hier.

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