Geschrieben am 1. Februar 2022 von für Crimemag, CrimeMag Februar 2022

Hazel Rosenstrauch: „Pflaumenregen“ von Stephan Thome

Auf der anderen Seite der gemeinsamen Erde

Es ist immer gut, die Dramen anderer Länder und Kulturen kennen zu lernen, schon um die eigenen nicht so wichtig zu nehmen. Und sie nicht nur mittels Berichten in Zeitungen und TV mit ihrer zunehmend hysterischen Berichterstattung zu beobachten. Über die Geschichte Taiwans wusste ich wenig und das Wenige hatte ausschließlich mit Politik zu tun. Von Menschen und Schicksalen erfahre ich dank Literatur. Stephan Thome kennt das Land, über das er schreibt, sehr gut, und sein Buch gibt nicht nur Nachhilfe in Geschichte, sondern bringt seinen Lesern das Denken und Fühlen und – besonders wichtig – das Schweigen nahe. Leider verstehe ich nichts von Baseball, von Pitcher, Catcher, Runner und Stolen Base, es kann sein, dass ich deshalb manche Anspielung oder Metapher nicht verstanden habe. 

Die wichtigste und sympathischste Figur heißt Keiji, er hat im Unterschied zu den meisten Einwohnern der Insel seinen Namen nach Abzug der japanischen Besatzung und der Machtübernahme der Kuomintang nicht geändert. Über seine Träume von einer Karriere als Baseball-Held, über seine Ansichten und die Zeit im Gefängnis erfahren wir vor allem durch seine Schwester Umeko. Nachdem Japan kapituliert hat und Chinesen die Macht übernommen haben, wird ihr chinesischer Rufname Hsiao Mei. Zum Glück gibt es auf Seite 523 ein Verzeichnis der Namen aller Hauptpersonen, weil die für uns ungebildete Europäer so fremd klingen, dass ich mehrmals nachschlagen musste. Die Weltpolitik bleibt im Hintergrund. In der verständlichen Annahme, dass wir hiesigen Leser wenig von dieser anderen Seite der Erde wissen, hat der Autor die wichtigsten Etappen taiwanesischer Geschichte in einem Vorspann erklärt, man kann zurückblättern, um sich zurechtzufinden. Ich wusste nicht, dass das Kriegsrecht erst 1987 aufgehoben wurde und in Taiwan erstmals 1996 freie Präsidentschaftswahlen stattgefunden haben. Kenntnisse, die nötig sind, um mehr über diese Konflikte wenn schon nicht zu verstehen, so doch als wichtigen Hintergrund im zunehmend wichtigen Ostasien ahnen zu können. Dass die USA ihre Atombomben erprobt, Hiroshima und Nagasaki zerstört und verseucht haben, Tausende Einwohner getötet und verstümmelt wurden, wird nicht thematisiert, das wissen ja vielleicht auch noch jüngere Leser. In einem Glossar werden auch wichtige taiwanische, japanische und chinesische Begriffe erklärt, denn das ist die Hauptsache – zu wissen, dass die Ureinwohner taiwanesisch sprachen, die einigermaßen gebildete Mittelschicht sich lange nach den japanischen Normen in japanischer Sprache gerichtet hat, was mit der Eroberung – oder war es eine Befreiung oder doch ein Überfall – der Festland-Chinesen verpönt und auch gefährlich wurde. 

Thome erzählt von der jungen Umeko, die ihren älteren Bruder anhimmelt, er erzählt von der Landschaft, vom Meer und von Kriegsgefangenen, die in den Kupfergruben todbringender Arbeit ausgesetzt waren. Es ist ein Buch über die dramatischen Veränderungen, die den Teehändler, die Lehrerin, den Vater und dessen ungeliebte Frau, vom Festland kommende Nachbarn und Privilegierte des früheren Systems durch die Wirren begleitet, über Menschen, die sich arrangiert, die kollaboriert, profitiert oder opponiert haben. Sie kommen durch oder eben nicht. Mehr angedeutet als ausgemalt erfährt man von Gewalt, Widerstand und Disziplinierung, von Spitzeln, Angst und dem Leben, das trotzdem weitergeht: Locker verwoben kommen durch einen Zeitsprung die Kinder und Enkel jener Umeko/ Hsiao Mei zu Wort, Harry, der schon in den USA lebt, dessen amerikanisierter Sohn Paul, den der Vater mit dem Leben auf der Insel vertraut machen möchte, und Julia, Enkelin Umekos, eine emanzipierte Taiwanesin, die sich nicht zwischen dem englischen Lover, der sie nach London holen will und Taiwan entscheiden mag. Die Nachkommen suchen nach Herkunft oder gar Wurzeln, sie verstehen wenig von dem, was sich damals, nach der Niederlage Japans und den Kämpfen zwischen chinesischen Nationalisten und dem kommunistischen Chinesen auf der Insel abgespielt hat. Weshalb sie mit der alten Dame an den Ort ihrer Jugend reisen – Home Run? 

Ob diese Geschichte tatsächlich, wie es auf dem Umschlag heißt, um die Frage meditiert „Was ist Heimat?“ will ich nicht beurteilen, das ist Marketing-Sprech. Meines Erachtens handelt sie davon, dass das Verhalten der Menschen am anderen Ende der Welt nach dem Krieg nicht so ganz anders war, davon, dass die Globalisierung neue Konflikte gebiert, dass es keine „nationale Identität“ gibt, sondern wechselnde Herrschaftssysteme mit ihren jeweiligen Vorschriften, dass Menschen sich anpassen, und andere umkommen, weil sie nicht passen. Thome hat die geographisch weit entfernte, fremd scheinende Welt (ohne jeden exotischen Kitsch) herangezoomt. So weit weg ist sie nämlich nicht. 

Stephan Thome: Pflaumenregen. Roman. Suhrkamp Verlag, Berlin 2021. 526 Seiten, 25 Euro.

Hazel E. Rosenstrauch, geb. in London, aufgewachsen in Wien, lebt in Berlin. Studium der Germanistik, Soziologie, Philosophie in Berlin, Promotion in Empirischer Kulturwissenschaft in Tübingen. Lehre und Forschung an verschiedenen Universitäten, Arbeit als Journalistin, Lektorin, Redakteurin, freie Autorin. Publikationen zu historischen und aktuellen Themen, über Aufklärer, frühe Romantiker, Juden, Henker, Frauen, Eitelkeit, Wiener Kongress, Liebe und Ausgrenzung um 1800 in Büchern und Blogs.  Ihre Internetseite hier: www.hazelrosenstrauch.de

Ihre Texte bei CulturMag hier. Ihr Buch „Karl Huss, der empfindsame Henker“ hier besprochen.Aus jüngerer Zeit: „Simon Veit. Der missachtete Mann einer berühmten Frau“ (persona Verlag, 112 Seiten, 10 Euro). CulturMag-Besprechung hier.

Tags : ,