Geschrieben am 1. April 2022 von für Crimemag, CrimeMag April 2022

Hazel Rosenstrauch: Informatives zur Ukraine

Polyethnisches Grenzland

Über Andreas Kappeler „Kleine Geschichte der Ukraine“

In meinem Bücherregal fand ich zwischen Reiseführern und Landeskunden, die “Kleine Geschichte der Ukraine”, die erste Auflage ist von 1994, mein Exemplar ist 2000 erschienen – vor dem Krieg in Georgien, vor den Majdan-Protesten, vor der Annexion der Krim, vor dem Eingreifen des russischen Militärs in Syrien, vor dem Amtsantritt Putins. Andreas Kappeler beginnt mit dem Kiever Reich im 9. Jahrhundert und endet mit dem Referendum über die Stellung des Präsidenten im April 2000. Vor Kurzem hat der Verlag eine neue Auflage herausgebracht, wohl “aus aktuellem Anlass”. Vermutlich wurde darin der Satz von Seite 186 gestrichen, in dem es heißt “So hat der ukrainische Staat heute […] erheblich bessere Startchancen als vor 75 Jahren”. Auch ohne Aktualisierungen ist die Geschichte eine erhellende Aufklärung darüber, wie jung und wie irrsinnig die Einteilung von Ländern bzw. Gebieten nach Ethnien ist. Nation und Nationalismus sind ja nicht nur in der Ukraine erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, also vor relativ kurzer Zeit, zu einer staatstragenden Idee geworden. Ukraine, lerne ich bei Kappeler, heißt Grenzland, sie lag an verschiedenen Grenzen, die sich ständig verschoben haben. Eine unvollständige Aufzählung der Völkerschaften, die das Gebiet bewohnt haben, umfasst Ruthenen, Kosaken, Ungarn, Griechen, Juden und eben auch Russen, Rusynen Weißrussen und Großrussen, Polen, Slovaken, Deutsche, Armenier, nicht zu vergessen die Lemken, Bojken und Huzulen. Dazu kamen finnisch- und baltischsprachige Menschen in das Terrain, das der Verfasser nicht nach den ständig verschobenen Grenzen, sondern nach der ukrainisch sprechenden Bevölkerung umreißt. Die polnischen Teilungen haben dazu geführt, dass sich z.B. die Gebiete, die zum Habsburgerreich gehörten, anders entwickelten als die zaristischen, die Idee eines ukrainischen Nationalstaats hat erst Ende des 19. Jahrhunderts an Bedeutung gewonnen. Es gab Perioden der Russifizierung und der Ukrainophilie, Polonisierung, Sowjetisierung und die Nazi-Herrschaft – inklusive Kollaboration mit dem “deutschen Herrenvolk”, das die Ukraine als Kolonie behandelte. 

Die ukrainische Bevölkerung fand sich zwischen Sowjetunion, Tschechoslowakei, Polen, Rumänien und Nazi-Deutschland hin- und hergeschoben. Es gibt viele Witze (auch aus anderen Gebieten) über Bauern mit mehreren Staatsbürgerschaften, die sich nie aus ihrem Ort wegbewegt haben. Im Frieden von Brest-Litovsk hat die Russische Sowjetrepublik die Unabhängigkeit der Ukraine anerkannt, aber das war nicht das letzte Wort. Denn das Land war fruchtbar, in der schwarzen Erde wuchs das Getreide, das deutsche wie sowjetische Truppen begehrten.  

Ja doch, es ist eine komplizierte Geschichte, geprägt von Kriegen, Hungersnöten, Grenzverschiebungen und wechselnden Herrschaftsformen. Deportationen, Evakuierungen, Judenverfolgungen gehören zur “Normalität” der Ukraine. In den Städten und Industriegebieten lebten eher nichtukrainische (vor allem russische und jüdische) Menschen, Bauern und Eliten lebten in verschiedenen Welten, in West- und Ostukraine hatten die Bauern unterschiedliche Rechte oder eben keine Rechte, waren hie katholisch, da orthodox. Kohle und Stahl aus dem Donbass waren das Rückgrat der sowjetischen Schwerindustrie mit hohen Wachstumsraten, wobei Kappeler betont, dass die Industrialisierung primär von Nicht-Ukrainern bewerkstelligt wurde. Bürgerkrieg, ukrainische Nationalbewegungen, Militärdiktatur, Bauernaufstände, Kämpfe aufseiten und gegen Bolschewiki, radikale nationalistische Gruppen, samt Flügelkämpfen sowohl innerhalb der bolschewistischen Bewegung wie bei den Rechtsradikalen mit mehr und weniger Befürwortung einer eigenen Nation sind in die Geschichte des Landes eingeschrieben. Die Bildung eines Nationalstaats ist nicht gelungen. Zentral für das Geschichtsbild sind die Jahre zwischen 1917 und 1921, die Zwangskollektivierung 1929 mit Getreiderequisition, Deportationen und Erschießungen, Missernten und Hungersnot, Stalins Säuberungen und die Ermordung eines großen Teils der ukrainischen Elite, einschließlich ukrainischer Partei- und Staatsführung. Was es an wissenschaftlichen, literarischen, schulischen Entwicklungen für eine ukrainische Kultur gegeben hatte, wurde zum großen Teil rückgängig gemacht. 

Die Ukraine mag ein besonders geschütteltes Grenzland sein, aber es gibt kein einziges Land, das ethnisch sauber ist, England, Frankreich, Spanien, Polen, Ungarn und sogar die deutschen Länder waren immer eine Mischung mit Einwanderern, Eroberern, Minderheiten und Randgruppen. Die Organisationsform Nationalstaat mag einmal sinnvoll gewesen sein, aber sie war immer eine Phantasmagorie, in der traurigen Wirklichkeit gibt es nicht “die” Guten und “die” Bösen sondern viele Facetten und die dringende Notwendigkeit, mit der Vielschichtigkeit umgehen zu lernen. Es wäre schon viel gewonnen, wenn nicht dauernd von “den” Russen und “den” Ukrainern geredet würde. 

Der Professor für Osteuropäische Geschichte, der die Entwicklung so genau kennt, ließ sein Buch im Jahr 2000 noch mit dem hoffnungsfrohen Satz enden: “Die Bewohner der Ukraine […] haben erstmals die Möglichkeit, in Frieden ein eigenes Gemeinwesen aufzubauen”.
Er wird wohl für die Neuausgabe Einiges umgeschrieben haben. 

Andreas Kappeler: Kleine Geschichte der Ukraine. C.H. Beck, München 1994/2000. (7. Auflage, 2022. 431 S., mit 5 Karten, Broschur, 17,95 Euro.)

Hazel E. Rosenstrauch, geb. in London, aufgewachsen in Wien, lebt in Berlin. Studium der Germanistik, Soziologie, Philosophie in Berlin, Promotion in Empirischer Kulturwissenschaft in Tübingen. Lehre und Forschung an verschiedenen Universitäten, Arbeit als Journalistin, Lektorin, Redakteurin, freie Autorin. Publikationen zu historischen und aktuellen Themen, über Aufklärer, frühe Romantiker, Juden, Henker, Frauen, Eitelkeit, Wiener Kongress, Liebe und Ausgrenzung um 1800 in Büchern und Blogs.  Ihre Internetseite hier: www.hazelrosenstrauch.de

Ihre Texte bei CulturMag hier. Ihr Buch „Karl Huss, der empfindsame Henker“ hier besprochen.Aus jüngerer Zeit: „Simon Veit. Der missachtete Mann einer berühmten Frau“ (persona Verlag, 112 Seiten, 10 Euro). CulturMag-Besprechung hier.

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