Geschrieben am 3. Oktober 2019 von für Crimemag, CrimeMag Oktober 2019

Hazel Rosenstrauch: Dissidenten

Es gibt kein letztes Gefecht 

Hazel Rosenstrauch über Marko Martins Buch „Dissidentisches Denken“ 

Es gab Stalinisten, es gab Faschisten, kalte Krieger und Opportunisten auf allen Seiten. Und es gab und gibt immer wieder einige wenige Leute, die nicht machen, was man von ihnen erwartet. Angesichts sozialistisch genannter Diktaturen ist in den Hintergrund getreten, dass in den 1920er und 30er Jahren kritische, weltverbessernde, engagierte Künstler, Intellektuelle oder bloß junge Menschen mit Gewissen zur kommunistischen Weltbewegung gestoßen sind, weil sie sich über Hunger und Verschwendung empörten. Etliche sind dann „abgefallen“ – nach den sogenannten „Säuberungen“, als sie von stalinistischer Willkür und den Lagern in Sibirien erfuhren, als glaubhafte Genossen verurteilt wurden, oder nach dem Hitler-Stalin-Pakt. Für Jüngere war spätestens die Niederschlagung des Prager Frühlings der Grund für den Bruch mit der Partei. 

Marko Martin hat Dissidenten, meist zwischen 90 und 105 Jahre alt, besucht, nicht zufällig sind überdurchschnittlich viele jüdischer Herkunft. Die einen sind vor den Nazis geflohen, andere aus den sowjetisch dominierten Diktaturen des Ostens, und es gibt Leute in seiner Sammlung, die sich in anderen Kontexten den ‚glücksbringenden‘ Normen und Erwartungen widersetzten. Mit diesen Porträts, schlägt der Autor nebenbei eine Schneise durch das brutale, widersprüchliche und, wie diese Geschichten demonstrieren, facettenreiche 20. Jahrhundert. Er hat die Bücher seiner Gesprächspartner gelesen, ihre Biographien studiert und sie, soweit es noch möglich war, interviewt. Genauer gesagt, er hat sie in den Ländern ihres Exils, in Mexiko, Buenos Aires, Jerusalem, Paris, Lissabon oder Colombo besucht und reden lassen. Unter den zweiundzwanzig Zeugen sind viele berühmte Schriftsteller, aber auch weniger bekannte Wissenschaftler und deren Frauen. Manès Sperber gehört dazu, Milan Kundera, der Nobelpreisträger Czesław Miłosz, Raissa, die Frau von Lew Kopelew, Hans Sahl, und Jürgen Fuchs aus der DDR, der den Autor früh geprägt hat. Martin wurde von einer zum anderen weitergereicht, wurde freundlich empfangen und hörte zu. Sie sind in einem lockeren Netzwerk miteinander verbunden, das durch Melvin Lasky, Herausgeber der 1948 gegründeten Zeitschrift „Der Monat“, geknüpft wurde. In dieser und anderen Zeitschriften konnten die Dissidenten ihre Zweifel und Erlebnisse äußern, die Faszination des Kommunismus dekonstruieren, sich für Gefangene einsetzen. Neben Melvin Laskys Zeitschrift war der „Kongress für kulturelle Freiheit“ ein Sammelbecken. Beides wurde, wie man erst spät erfuhr, von der CIA finanziert. Marko Martin ist offenkundig bemüht, diese antikommunistischen Treffen gegen Verschwörungstheorien zu verteidigen und Melvin Lasky von dem Ruch der Kooperation mit der CIA reinzuwaschen. Zu dieser Verteidigung gehören auch die wiederholten Seitenhiebe auf westliche Intellektuelle, die den Sozialismus viel zu lange verteidigt hätten, auch noch in den 1990er Jahren nicht verstanden, was im Osten passiert. 

Innerhalb der Porträts werden andere Vorbilder genannt, die zu dieser unorganisierten community gehören: Albert Camus, André Glucksmann, Robert Havemann oder auch Heinrich Böll, die geholfen haben, sich für Gefangene eingesetzt oder über stalinistische Verbrechen aufgeklärt haben. Es werden auch Namen von berühmten, eher opportunistischen Kollegen genannt (Sartre, Brecht).  Als dissident charakterisiert Martin auch Elisabeth Fisher-Spanjer, die in Holland im Widerstand war, Aharon Appelfeld, der sich den zionistischen Erwartungen verweigert, Edgar Hilsenrath, der vom Kulturbetrieb abgestraft wurde, weil seine Geschichten nicht in den Zeitgeist passten. Immer geht es um ein Leben mit vielen Widersprüchen, um Menschen, die Schreckliches erlebt haben und die nicht verbittert wurden, um eine Anschauung, die zweifelnd, hoffend, ohne Schlagworte und Heilslehren auskommt. 

Seine Gastgeber sind neugierige, offene Individuen, freundlich, geübt im Umgang mit Illusionen und Enttäuschungen, die auch im hohen Alter immer noch wach und interessiert und keineswegs resigniert sind. „Man darf die Hoffnung nicht aufgeben“ ist einer der mehrfach geäußerten Sätze. 

Streckenweise klingt diese Sammlung sehr alter Zeugen wie eine Spurensicherung im Dienste der Hoffnung, eine solche Haltung könnte – den gravierend veränderten Umständen gemäß – auch im 21. Jahrhundert Nachahmer (oder Schüler?) finden.

Martin ist in der DDR aufgewachsen, manches sehe ich anders, das liegt wohl an der immer noch unterschiedliche Wahrnehmung von Ostlern und Westlern. 

Erwin Chargaff sprach einmal von der dritten Seite der Münze. Diese Biographien zeigen die dritte Seite – zwischen Kommunisten und Antikommunisten, Gläubigen und Enttäuschten, Rechten und Linken, Helden und Brüchigen, auch Optimisten und Pessimisten. Wer mehr  über diese Haltung wissen will, findet am Ende eine Liste von Büchern zum Weiterlesen. 

Hazel Rosenstrauch

  • Marko Martin: Dissidentisches Denken. Reisen zu den Zeugen eines Zeitalters. Band 415, Die Andere Bibliothek, Berlin 2019. 540 Seiten, 42 Euro.

Hazel E. Rosenstrauch, geb. in London, aufgewachsen in Wien, lebt in Berlin. Studium der Germanistik, Soziologie, Philosophie in Berlin, Promotion in Empirischer Kulturwissenschaft in Tübingen. Lehre und Forschung an verschiedenen Universitäten, Arbeit als Journalistin, Lektorin, Redakteurin, freie Autorin. Publikationen zu historischen und aktuellen Themen, über Aufklärer, frühe Romantiker, Juden, Henker, Frauen, Eitelkeit, Wiener Kongress, Liebe und Ausgrenzung um 1800 in Büchern und Blogs.  Ihre Internetseite hier: www.hazelrosenstrauch.de

Ihre Texte bei CulturMag hier. Ihr Buch „Karl Huss, der empfindsame Henker“ hier besprochen.

Gerade erschienen: „Simon Veit. Der missachtete Mann einer berühmten Frau“ (persona Verlag, 112 Seiten, 10 Euro). CulturMag-Besprechung hier.

Tags : , ,