Geschrieben am 1. September 2021 von für Crimemag, CrimeMag September 2021

Hazel Rosenstrauch: 2 x Geschichte, anschaulich

Kommunismus, Faschismus, Glaube, Liebe Hoffnung und Verrat

Über „Junischnee“ von Ljuba Arnautović und „Winterkinder“ von Owen Matthews

Lagerakte 10 001

Wie ich aus vielen Gesprächen weiß, ist die Geschichte eines spezifisch österreichischen Faschismus in Deutschland wenig bekannt, wie ja auch die ungarische, die rumänische oder italienische Variante (sie noch am ehesten) im Schatten des deutschen NS grau bleiben. Erst recht weiß hierzulande kaum jemand, dass es in Österreich, anders als in Germanien, 1934 einen Aufstand des militärisch organisierten  republikanischen Schutzbunds gegen das Dollfuß-Regime gegeben hat. Die Schutzbündler wurden verfolgt, besiegt, einige wurden aufgehängt, andere ins Gefängnis geworfen – nicht zuletzt, weil die sozialdemokratische Führung die Kämpfer im Stich gelassen hatte. 

Soweit so fremd. Ljuba Arnautovićs Vater war eines der Kinder, die in einer gefährlichen Aktion von Genossen erst über die grüne Grenze in die Tschechoslowakei gebracht wurden, um sie vor den Nazis in Sicherheit zu bringen, und von dort in die vermeintlich befreundete Sowjetunion verfrachtet wurden. Anfangs wurden die von ihren Eltern getrennten Kinder gehätschelt, genährt und in einem Moskauer Kinderheim gut versorgt. Das änderte sich mit dem Hitler-Stalin-Pakt im August 1939. Karl und sein Bruder Slavko wurden getrennt, der Ältere blieb verschollen und ist, wie Recherchen nach dem Krieg ergaben, verhungert. Alleingelassen, verwahrlost, fragt sich Karl (oder doch die Autorin?), was sich viele Kinder von Kommunisten gefragt haben: – ob seinen Eltern Politisieren und Kampf wichtiger waren als das Wohlergehen der Kinder. 

Karl kommt in ein Heim, reißt aus, lebt wie so viele damals, als Straßenkind, das sich von den üblichen kriminellen Aktionen wie Diebstahl und Einbrüchen ernährt – was ihm später, in Sibirien, zugute kommen wird. Er gerät in die Fänge der stalinistischen Terrormaschine, wird in eine Fabrik gesteckt, Hunger, Krankheit, sibirisches Lager sind Stationen des Elends. 

Ljuba Arnautović verwebt ihre Familiengeschichte mit der Geschichte des Nationalsozialismus, des Stalinismus und der österreichischen Vor- und Nachkriegszeit. Sie konnte Akten, Briefe und Dokumente nutzen, in denen den Lesern die Methoden des NKWD, der Horror des Lagerlebens und die Anfänge einer Liebe in O-Tönen nahe, sehr nahe gebracht werden. Wie in dem genau protokollierten Verhör, bei dem Karl konterrevolutionärer Agitation unterstellt wird, und er gezwungenermaßen unterschreibt. 

Karl hatte im Lager Nina, eine Russin, kennengelernt und geheiratet, nach seiner Entlassung (am Tag von Stalins Tod) rettet er sich zu ihr nach Kursk. Er war inzwischen mehr Russe als Österreicher, kehrte aber doch nach Wien zurück. Nach drei Jahren, da hat er schon eine andere Geliebte, holt er Nina und die Kinder zu sich. Nina spricht weder deutsch, noch weiß sie den westlichen “Komfort” zu schätzen, und sie vermisst ihre Familie und ihr Dorf. In Russland hatte sie Karl das Überleben ermöglicht, jetzt ist sie ihm und der einst kommunistischen Schwiegermutter zu primitiv. Die Ehe scheitert, Ljuba und ihre Schwester werden der Mutter in einer dramatisch gemeinen Aktion entrissen – nicht nur bildlich, sondern real, sie werden in ein Heim gesteckt, der Vater heiratet ein zweites und dann ein drittes Mal, die Mutter kehrt nach Russland zurück und darf die Töchter erst gar nicht und dann nur noch selten sehen. 

Die Tochter verzichtet darauf, sein grobes, herzloses Verhalten psychologisierend zu erklären, sie hadert nicht, sie raunzt nicht, sondern beschreibt bewundernswert nüchtern und warmherzig, was aus den Menschen geworden ist. Arnautović beherrscht die Kunst, Trauriges und Schreckliches so nahezubringen, dass es nicht runterzieht, sondern neugierig macht. Das Buch hat viele Ebenen, die erzählten Geschichten über Kommunismus, Faschismus, Glaube, Liebe Hoffnung und Verrat sind schrecklich, die Art, wie sie davon erzählt, bereichert. 

Ljuba Arnautović: Junischnee. Paul Zsolnay Verlag, Wien 2021. 192 Seiten, 22 Euro, E-book 16,99 Euro.

Noch einmal Liebe, KGB, Ost-West

Da wir beim Stalinismus sind, noch eine Geschichte, in der sich Liebe, Terror, verlassene Kinder und die mentale Entfernung zwischen Ost und West manifestieren. Hier hat ein Sohn, der wie sein Vater von dem großen, widersprüchlichen Land fasziniert ist, die Geschichte seiner Familie und seine Erfahrungen mit dem postkommunistischen Russland zusammengefügt. Der Vater seiner Mutter, Boris Bibikow, war ein glühender Anhänger der jungen Sowjetunion, Mitgestalter einer neuen Welt, in der Millionen verhungerten, als die Landwirtschaft sozialistisch umgestaltet wurde. Er arbeitet als Propagandist in einer Traktorenfabrik, die in enorm kurzer Zeit, dank Enthusiasmus, Überstunden und Druck, aus dem ukrainischen Boden gestampft wird, und ist “Held der Arbeit”. Trotz Parteitreue gerät er in die Fänge des KGB, seine Töchter kommen ins Waisenhaus, werden getrennt, leiden Hunger, müssen vor den Deutschen flüchten. Ljudmila, von Tuberkulose gezeichnet, wird in den 1960er Jahren den Vater des Autors kennenlernen, so weiß man von Anfang an, dass diese Geschichte einigermaßen gut ausgeht. Matthews schreibt als Sohn, dessen Vater als Student in Moskau sich in Ljudmila verliebt hatte und der später selbst nach Moskau geht und eine Russin heiraten wird. 

Auch hier sind Briefe, Akten des KGB und Recherchen Grundlage einer herzzerreißenden Story aus Grausamkeit, Liebe, Enttäuschung und Mentalitätsgeschichte zwischen Ost und West. Mervyn, Matthews Vater, der mit dem KGB fast, aber eben nur fast kooperiert hat, wurde ausgewiesen, Ljudmila darf nicht ausreisen. Neun Monate konnten sie einander real lieben, dann folgten fünf Jahre lang Briefe zwischen Moskau und London. Einen großen Teil des Buchs füllen die zwischen Mut und Irrsinn pendelnden Aktionen Mervyns, der über alle Kanäle versucht, die Geliebte aus der Sowjetunion herauszubekommen – mit Artikeln, Briefen, Suche nach Kontakten zu russischen und englischen Politikern und wo immer sich eine Spur auftut. Letztlich schafft er es, 1969 kommt Mila, wie der Sohn sie nennt, in den Westen. Die Diskrepanz zwischen der in Sehnsucht überhöhten Liebe in Briefform und der Realität ist groß. Mila ist in England fremd, sie vermisst ihre Freunde und die Aufregung des Dissidentenlebens, das sie geführt hatte, und weiß, dass sie nie mehr zurück kann. 

Erhellend sind dazwischengestreute Passagen über Owen Matthews Zeit im Russland nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, als sich der Autor bei oszönen Parties mit koksenden Partykids herumtreibt, den Ausverkauf, Veruntreuung, Diebstahl der 90er Jahre und “die widerwärtige Verantwortungslosigkeit und Selbstzerstörung” erlebt. Der junge Journalist wird mit der Hybris des postkommunistischen Moskau samt Auswüchsen des Raubtierkapitalismus konfrontiert. Neben dem Einblick in die frühen begeisterten Jahre der Sowjetunion und einer hinreißenden Liebesgeschichte fasziniert seine Erklärung der Sehnsucht nach Autorität und Ordnung, die auf den Rausch nach dem Ende der Sowjetunion gefolgt war. Mit eine Prise Kolportage schildert er seine Erfahrungen im Tschetschenienkrieg und seine Läuterung mithilfe Xenias, die aus einer vornehmen russischen Familie stammt: Idylle auf einer Datsche in den Wäldern vor Moskau. Sie wird seine Frau und heilt ihn vor Anmaßung und Depressionen. 

Nach der Lektüre dieser beiden Bücher weiß man wieder, wie gut es – im Vergleich – die DDR erwischt hatte. Ans Herz legen möchte ich diese Geschichten auch all jenen, die über Diskriminierung klagen, wenn sie ein bisserl benachteiligt werden. 

Owen Matthews: Winterkinder. Drei Generationen Liebe und Krieg (Stalin’s Children: Three Generations of Love and War, 2008). Deutsch von Vanadis Buhr. Graf Verlag, München 2014. 400 Seiten. 22,99 Euro. E-Book 19,99 Euro.

Hazel E. Rosenstrauch, geb. in London, aufgewachsen in Wien, lebt in Berlin. Studium der Germanistik, Soziologie, Philosophie in Berlin, Promotion in Empirischer Kulturwissenschaft in Tübingen. Lehre und Forschung an verschiedenen Universitäten, Arbeit als Journalistin, Lektorin, Redakteurin, freie Autorin. Publikationen zu historischen und aktuellen Themen, über Aufklärer, frühe Romantiker, Juden, Henker, Frauen, Eitelkeit, Wiener Kongress, Liebe und Ausgrenzung um 1800 in Büchern und Blogs.  Ihre Internetseite hier: www.hazelrosenstrauch.de

Ihre Texte bei CulturMag hier. Ihr Buch „Karl Huss, der empfindsame Henker“ hier besprochen.Aus jüngerer Zeit: „Simon Veit. Der missachtete Mann einer berühmten Frau“ (persona Verlag, 112 Seiten, 10 Euro). CulturMag-Besprechung hier.

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