Ich erinnere mich noch gut an meinen ersten Grindhouse-Abend im Cinema Quadrat. Es war der zweite überhaupt, im November 2007; die Programmankündigung hatte mich neugierig gemacht, ohne mich wirklich darauf vorzubereiten, was einen da erwarten würde. »Grindhouse« – das war damals in aller Cineastenmunde, weil Robert Rodriguez’ und Quentin Tarantinos Doppelschlag Planet Terror / Death Proof rauskam, und zwar in Deutschland nicht als Double Feature, sondern einzeln, und nun, in Mannheim, im kommunalen Kino, da sollten also wirkliche Doppelvorstellungen laufen von 70er-Jahre-Filmen… Ich habe damals Thriller – en grym film gesehen, und es war ganz klar, warum: Christina Lindberg in einem Rape-and-Revenge-Film, in dem sie einäugig, mit Augenklappe, umherzieht, um blutige Rache zu nehmen, da lässt Kill Bill grüßen; und das Krasse daran: dass in die Filmhandlung von irgendwemsagenwer ’nem Produzenten Hardcore-Sexszenen eingeschnitten wurden, sichtlich mit ganz anderen Darstellern, und damit war von vornherein klar, was dieses ominöse »Grindhouse« sein soll.
»Grindhouses«: Das sind die amerikanischen Schmuddelkinos, berühmterweis’ Reih an Reih in der New Yorker 42nd Street, da, wo anno 76 der Taxi Driver seine Angebetete auf ein verhängnisvolles Date ausführt. In den Grindhouses liefen normalerweise Double Features, und zwar nicht A- und B-Filme wie in den goldenen Hollywood-Jahren, sondern B- und B- oder F- und G- oder gar X-, Y- und Z-Filme: Also die Filme, vor denen die Eltern warnten. Die deutsche Entsprechung wäre ungefähr das Bahnhofskino, wo Exploitationfilme am laufenden Band liefen, bei denen Anfang und Ende nicht wichtig waren, sondern der Moment den Reiz ausmachte.
Das wirkliche, authentische Grindhouse-Feeling: Verdienstvollerweise hält das Mannheimer Cinema Quadrat diese ganz besondere Filmsparte im Lichte des Projektors, diese Filme, denen Tarantino und Rodriguez in ihren Post- und Metafilmen die Referenz erweisen. Allmonatlich läuft hier im Doppelprogramm – und mitunter als Triple, und auch schon mal sechs oder sieben Filme an ganz besonderen Special-Tagen – Obskures und Abseitiges, simpel gemachtes Genrekino, Horror, Thriller, Action, Abenteuer, Western, Science Fiction, Blaxploitation, Sexploitation… Alles Filme, die man sonst kaum in Deutschland zu sehen bekommt, liebevollst kuratiert von zunächst Boris, der dann den Stab weitergab an Max. Die Grindhouse-Reihe, bei der sich zwischen all dem Schäbigen, zwischen ihren Schmuddel- und Trashfilmen immer wieder Perlen finden, hat sich recht schnell eine ganz beachtliche Fanbasis erarbeitet; sie ist zum Treffpunkt geworden. Das Dolle ist nämlich, dass hier wirklich mit beiden Händen reingefasst wird in den Schmodder der Filmgeschichte, dass hier die Filme gezeigt werden, die tatsächlich Tarantino und Co. geprägt haben, dass eben nicht die »Kultfilme« oder das »Mitternachtskino« mit Jodorowsky, Lynch, den Coens und so weiter gespielt werden, also die Filme, die den B- oder C-Film zur Kunst transzendieren. Und auch keine »schlechtesten Filme aller Zeiten«; denn ein wirklicher Grindhouse-Film will in erster Linie Film sein, nicht Grindhouse. Aber Grindhouse-Filme nehmen billigend in Kauf, lächerlich zu wirken; mitunter ist eine mögliche unfreiwillige Komik wissentlich einkalkuliert; und ab und zu sind die Filme zugleich als Persiflagen ihrer selbst gestaltet. Und deshalb kann ihnen die Zeit nichts anhaben, ja: Die Jahrzehnte seit ihrer Veröffentlichung fügen ihnen weitere Ebenen von Trash-Charme und Pop-Nostalgie hinzu.
Lernend stieg ich im Cinema Quadrat ein in die Grindhouse-Nächte, in unvergessliche Kinoerlebnissen mit Filmen, die mal auf sehr direkte, dann wieder auf einfallsreich verspielte Weise originelle Ideen anderer verwursten; in denen auch mal die großen Ambitionen des Regisseurs mit den produktionstechnischen Realitäten aufs Komischste zusammenkrachen; in denen dann wieder mit den Mitteln des Kinokonventionen nach den Sternen zu greifen versucht wird; in denen sich große Wahrheiten hinter plakativen Plattheiten verbergen; oder in denen sich schlicht der Spaß der Filmemacher auf den Zuschauer überträgt. Wenn Kunst von Können kommt, sind die Grindhouse-Filme Manst: Weil die Filmemacher einfach mal machen, mal sehen, ob ein Film rauskommt. Es wird gedreht, egal, welche Mittel da sind, egal, wie schlecht Schauspieler und Ausstattung sind, no matter what. So sind höchst skurrile, einfallsreich durchgedrehte, völlig verrückte Werke entstanden, die in den versteckteren Ecken der Filmgeschichte darauf warten, gefunden zu werden.
Im Laufe der Grindhouse-Jahre habe ich mich auch immer wieder sehr gerne sekundärliterarisch weitergebildet – Julia Reifenbergers Girls with Guns über das Rape&Revenge-Untergenre etwa, oder Marcus Stiglegger mit Nazi-Chic und Nazi-Trash bzw. als Mitherausgeber des Fulci-Buches vom Deadline-Magazin, natürlich Christian Kessler; auch Peter Vogls (in meinem Verlag erschienenen) Bücher Hollywood Justice über Vigilanten im Film und Das großes Buch des kleinen Horrors wären hier zu nennen; sowie Daniel Kulles Monographie Ed Wood – Trash und Ironie. Wobei Kulle auch eingehend den Trash-Begriff untersucht, eine kleine Theorie des Mülls aufbietet:
Als Müll kommen daher zwei verschiedene Dinge in Betracht: sowohl das ehemalige, nun außer Gebrauch geratene Objekt, wie auch das Nicht-Objekt, derjenige Bestandteil der materiellen Welt, der es nicht geschafft hat, zu einem Objekt geformt zu werden. Ein gebrauchtes Papiertaschentuch ist Müll der ersten Sorte, Holzspäne entsprechen der zweiten. Auf den Film bezogen heißt dies, dass es auf der einen Seite konkrete Abfallprodukte gibt, wie die Filmstreifen, die im Schneideraum auf dem Boden landen; auf der anderen aber auch solche Filme, die außer Gebrauch geraten, ökonomisch nicht mehr verwertbar sind oder von den Archiven als nicht wert angesehen werden, aufbewahrt zu werden.
Doch ganz vorne steht natürlich die Betrachtung dieser Müll-Filme. Ich schaue – zusammen mit einem Haufen anderer regulärer Grindhousebesucher (und Besucherinnen, das will ich extra betonen!) – mit Lust diese Filme, die versuchen, Film zu sein: Vieles ist nämlich natürlich No-Budget-Unsinn und deshalb sehr komisch, unfreiwillig. Und ich staune über die kleinen Meisterwerke, die immer wieder aufpoppen, und über die höchst wirkungsvollen Genrevariationen, die es nie geschafft haben, in irgendeinen seriösen oder relevanten Filmkanon aufgenommen zu werden.
Das Grindhouse-Kino ist vielfältig; und immer wieder lädt es zu Überraschungen ein. Weil eben nicht alles immer Trash ist, und nicht immer alles ironisch rezipiert werden kann. Immer wieder kommen da unvermutet ein Film, ein Filmemacher daher, der seine Sache wirklich gut macht, und den vielleicht nur die Umstände in bestimmte Produktionsverhältnisse getrieben haben. Der es aber schafft, trotz allem seinen Film durchzuziehen: Der Zuschauer kann sich dann einfinden, eingrooven in eine Film-Zeit, wo nicht die Siegerfilme, also die Klassiker, die Filmgeschichte definieren, sondern die ganz normale Filmkost, die es ja immer auch gibt und die immer irgendwann in Vergessenheit zu geraten droht. Manche Horrorfilme gehen tatsächlich unter die Haut; und bei Action/Crime/Sex ist der Film oft genug von Anfang an auf reinen Spaß aus, der sich sogar über die ganzen Veränderungen der Zeit wie der Kinogucksituation rettet.
Und immer wieder überrascht vielleicht nicht der Film als Ganzes, aber immerhin diese eine Idee, diese eine Aktion oder diese eine Filmfigur: In einzelnen Elementen kann sich die ganze Fantasie des Filmemachers konzentrieren, da sieht man Möglichkeiten des Films, des filmischen Erzählens, die man nicht mal geahnt hat – gerade im Grindhousekino, wo sowas wie Stringenz nicht gefragt ist. Wenn man »Handlung« als die Organisation des Filminhalts betrachtet, dann haben viele der bei der Grindhouse-Reihe in Frage kommenden Filme keine »Handlung«: Nicht dramaturgische Gestaltung ist ihr Ziel, sondern das Aufhäufen von Aktionen, von action: Es geht um das, was passiert, nicht um die Konstruktion dahinter. Die Konzentration auf das filmische Geschehen unter Vernachlässigung von dessen Zusammenhang verhindert vieles – Figurenentwicklung zum Beispiel, Charaktertiefe, und wahrscheinlich auch das, was gemeinhin als »Sinn« oder »Bedeutung« aufgefasst wird –, es ermöglicht aber auch das Ausagieren von Fantasie, wahllos und mutwillig meinetwegen.
Was man in der Grindhouse-Filmreihe lernt, manchmal auf die harte Tour: Wie sich zwischen Filmemacher und Film und Publikum Verhältnisse aufbauen, miteinander anbandeln, manchmal schräg und quer verwickelt, manchmal ganz straight fesselnd. Es ist halt so: Man lacht ja bei Grindhouse-Filmen, meistens. Weil die Ambitionen der Filmemacher fehlgehen beispielsweise. Oder weil die Filme so dermaßen in ihrer Entstehungszeit gefangen sind. Und es ist natürlich auch so: Es geht den Grindhouse-Filmen um die Erregung niedriger Bedürfnisse, meistens. Niedriger männlicher Bedürfnisse. Da darf die Dame auf der Leinwand ruhig auch mal ein, zwei Kleidungsstücke nackiger sein als nötig. Naja, is’ klar: Die Zielgruppe des Bahnhofskinos ist der alleinreisende Herr an sich, die Rollenverteilung im damaligen Ottonormalverbraucherhaushalt war ja ganz eindeutig: Frauen hätten zwischen Kochen und Kinderzüchtigen gar keine Zeit für solchen Instantfilmgenuss von Action und/oder Sex als Nummernrevue.
Und der heutige Zuschauer (Frage: auch die Zuschauerin?) findet sich in den Zwiespalt geworfen: Man sieht auf der Leinwand etwas, das wie für einen gemacht ist, und sieht zugleich, wie es gerade nicht für einen gemacht ist, weil man eben doch sich unterscheidet von dem Protozuschauer, den sich die Regisseure und Produzenten ausgemalt haben, um für ihn den Film zu machen. Es reizt also nicht nur die Diskrepanz zwischen filmemacherischem Wollen und filmemacherischem Können zum Lachen, sondern auch die Diskrepanz zwischen produzentischem Idealzuschauer und Cinema-Quadrat-Grindhouse-Reihe-Realzuschauer. Und es ist für mich immer wieder eine besondere Lust, mich einzufühlen in diesen Zuschauer, den der Film will, und dabei ich selbst zu bleiben, analysierenderweise, ach, da kann ich mich freuen, weil so viel Ironie irgendwo drinsteckt in diesem Diskrepanzenzwiespalt…
Das macht den Reiz dieser Filme aus. Sie haben immer eines im Blick: das Publikum. Nicht der Goldene Irgendwas auf’m Festival oder der Oscar für Relevanz, sondern die Masse macht’s beim Billigfilm im Billigkino der 1970er. Spektakuläres und Spekulation, Reißerisches und Zerrissenes, Populäres und Popkulturelles dienen der Sehlust der Zuschauer, deren niederste Sinne angesprochen werden, und dabei lassen die Filmemacher gerne auch ungefiltert all die Ideen und Gefühle und Stories der Volksseele, also den Polit- und Sozialdiskurs ihrer Zeit, kräftig aufgemischt mit einfließen: Filme als Zeitgeisterbahnfahrten.
Der zweite Film an meinem ersten Abend, nach dem schwedischen Sexthriller, war Sister Streetfighter II, in dem die Martial Arts-Action immer wieder einfriert zum Standbild, in das dann die jeweils nun folgende Kampfsportart schriftlich eingeblendet wird: Als würde der kundige Sportreporter dem unbedarften Zuschauer die Feinheiten der Pferdedressur erläutern, wenn man eigentlich nur so ’ne Hottehüreiterei sieht. Da fühlte ich mich an der Hand genommen, ich wusste, hier durfte ich getrost Neues lernen, geführt von den Filmen selbst wie auch von den kundigen Kuratoren. Seit 2010 versuche ich, im Online-Filmmagazin Screenshot diese Grindhouse-Erlebnisse und ihre Wirkung auf mich in Buchstabenform nochmals aufleben zu lassen.
Eine Auswahl dieser Texte bildet nun dieses Buch. Sie sollen nicht verschimmeln im Ablagestapel des World Wide Web. Wobei ich betonen muss, dass dieses Buch nicht das komplette Programm der Filmreihe abbildet; ich bin zwar regelmäßig, aber nicht jedes Mal Gast der Filme. Ebenso wichtig ist, dass bei meinen Einordnungen es sich letztlich um eigenes Empfinden handelt, großteils beruhend auf den Hinweisen, die Boris bzw. Max in ihren Einführungen gaben. Es besteht also keinerlei Gewähr auf Akuratesse, zumal zwischen Filmgucken und Darüberschreiben auch schon mal ein paar Wochen liegen können, ich hab schließlich auch nicht unendlich Zeit. Jetzt aber, in der kinolosen Zeit des Lockdown, da hab ich grad nichts anderes zu tun, als dieses Buch zusammenzustellen. Außerdem: Das Cinema Quadrat – drittältestes kommunales Kino in Deutschland! – feiert im Oktober 2021 sein 50. Jubiläum. Schließlich: Wenn man die Filme schon nicht gesehen hat – denn wo laufen die schon!?! – oder sie schon wieder halb vergessen hat, mag es vielleicht, hoffentlich, erquicken, wenigstens über sie zu lesen. Und dabei den Spaß an der Grindhouse-Reihe zu feiern.

Dies ist das Vorwort – mit freundlicher Genehmigung des Autors – von:
Harald Mühlbeyer: Grindhouse-Kino. Schund – Trash – Exploitation Deluxe. Das Buch zur Filmreihe im Cinema Quadrat. Mühlbeyer Filmbuchverlag, Frankenthal 2021. 250 Seiten, 18,90 Euro. – Siehe auch die Besprechung bei non fiction, kurz. Zur Verlagsseite hier.