Geschrieben am 1. November 2021 von für Crimemag, CrimeMag November 2021

Hanspeter Eggenberger über »Wir sind dieser Staub« von Elizabeth Wetmore

Vergewaltigung am Valentinstag

Wer schon mal durch Westtexas gefahren ist, hat vielleicht gespürt, wie trist das Leben hier sein kann, sein muss. Just miles and miles of nothing but miles and miles. Flaches Land so weit das Auge reicht, nirgends ein Horizont, an dem sich das Auge festhalten könnte, nur endlose Leere, die sich je nach Wetter und Lichtverhältnissen etwas früher oder später im dunstigen Nirgendwo auflöst. Stacheldrahtzäune entlang der Highways. Ab und zu ein Torbogen, der die Einfahrt zu einer Ranch markiert. Irgendwo im Staub eine Herde Rinder. Und immer wieder Ölpumpen, die sich in stetigem Rhythmus auf und ab bewegen. In den Kleinstädten trostlose kleine Shopping Malls, Tankstellen, Motels, die eine oder andere Bar. Man nimmt kurz den Fuß vom Gaspedal, anhalten tut man höchstens, wenn man tanken muss.

Odessa ist so eine Stadt. Hier spielt der Debütroman »Valentine« von Elizabeth Wetmore, den sie 2020, bereits 52-jährig, veröffentlichte. Jetzt ist das beeindruckende Stück unter dem Titel »Wir sind dieser Staub« auf Deutsch erschienen, stimmig übersetzt von Eva Bonné. 

Man schreibt das Jahr 1976. In den Bars in Odessa werden Sprüche geklopft wie:
Was ist der Unterschied zwischen einem Eimer Scheiße und Odessa?
Der Eimer.

Oder:
Wie nennt man eine alleinerziehende Mutter, die morgens früh rausmuss?
Schülerin.

Elizabeth Wetmore, geboren etwa 1968, ist dort aufgewachsen. Und wollte nichts wie weg. Schon mit 18 schaffte sie es. »Ich hatte fast kein Geld in der Tasche und fast keinen Plan und keine Fähigkeiten, um in der Welt zu überleben», erzählte sie in einem Interview mit dem Magazin Texas Monthly, »Ich wollte einfach nur raus aus Westtexas, und ich hatte nicht erwartet, jemals zurückzukehren.« Nicht dass sie zurück in ihre Heimat gezogen wäre, sie lebt seit vielen Jahren in Chicago, aber sie besucht regelmäßig Familienangehörige, die noch in Texas leben.

Zu schreiben begann sie erst relativ spät. Ihre ersten richtigen Short Storys habe sie mit Ende zwanzig geschrieben. Als wichtige Einflüsse nennt Elizabeth Wetmore die legendären Autoren Larry McMurtry (»The Last Picture Show«, »Lonsome Dove«) und Cormac McCarthy (»All the Pretty Horses«, »No Country for Old Men«). Eine ihrer Kurzgeschichte, die 2004 in der Literaturzeitschrift Colorado Review veröffentlicht wurde, ist der Ursprung ihres ersten Romans, an dem sie seither gearbeitet hatte. Zwei Figuren aus jener Story wurden die wichtigsten Protagonistinnen des Romans. Für den Roman hat sie das Personal, aus dessen Sicht die Geschichte erzählt wird, auf sieben ausgebaut. Durch deren Augen blickt Wetmore zurück auf die Zeit ihrer Kindheit in Odessa. Auf eine Machowelt, die Frauen zum Resignieren oder zum Fliehen zwingt. Oder sie nicht überleben lässt.

Männer kommen ständig um – bei Schlägereien, Pipeline-Explosionen oder wegen eines Gaslecks. Sie fallen von Kühltürmen, wollen schnell noch die Bahngeleise überqueren oder betrinken sich und versuchen dann, ihre Waffen zu putzen. Frauen kommen um, wenn sie Krebs kriegen oder den Falschen heiraten oder zu fremden Männern ins Auto steigen.

Gloria Ramirez ist am Valentinstag aus purer Langeweile, und weil sie etwas erleben wollte, zu einem fremden Mann ins Auto gestiegen. Getötet wurde die 14-Jährige nicht, aber nur weil sie nach der brutalen Vergewaltigung in einer langen Nacht noch rechtzeitig auf eine nahe Farm fliehen konnte. Dort trifft sie auf Mary Rose, eine junge Mutter – fast alle Mütter hier sind jung, sehr jung –, die dafür sorgt, dass der Täter verhaftet wird. Das verändert ihr Leben, denn die meisten hier, auch ihr Ehemann, aber nicht nur Männer, ergreifen Partei gegen das Opfer und für den Täter. Ein mexikanisches Flittchen versaue dem hart arbeitenden Sohn eines Predigers das Leben, ist die vorherrschende Meinung. Bei Mary Rose steht das Telefon nicht mehr still: Beschimpfungen, Drohungen ohne Ende.

Sexismus und Rassismus sind die zentralen Themen dieses großartigen Romans, der dramatisch und in bildhafter Sprache (Sein Lächeln ist so unbeweglich wie die Nadel hinter dem gesprungenen Glas einer kaputten Küchenwaage.) vom Leben und Sterben in dieser ebenso harten wie trostlosen Welt erzählt. Abwechselnd aus der Perspektive von sieben Frauen – der vergewaltigten Gloria, die sich nun Glory nennt, der mutigen Mary Rose, der 10-jährigen Debra Ann und deren Mutter Ginny, die aus der Stadt geflohen ist, der älteren ehemaligen Lehrerin Corrine, die sich nach dem Tod ihres Mannes nur noch zu Tode saufen will, der angepassten Suzanne, die Avon-Kosmetika und Tupperware vertickt, und der 17-jährigen Mutter und Kellnerin Karla – entwickelt sich weit abseits üblicher Krimimuster ein schonungsloses Porträt der Stadt, in der die Autorin aufgewachsen ist. Der Ölboom sei doch ein wahrer Segen, unkt Corinne einmal: Zieht die allerbeste Sorte von Psychopathen an.

Es habe so lange gedauert, diesen Roman schreiben zu können, weil sie sich zuerst wieder in diese Stadt habe verlieben müssen, sagte Wetmore im erwähnten Interview, denn »dieses Buch musste ein Liebesbrief an meine Heimatstadt sein«. Es ist auf jeden Fall eine Liebeserklärung an mutige Frauen – nicht nur in dieser Stadt – geworden. 

Elizabeth Wetmore: Wir sind dieser Staub (Valentine, 2020). Aus dem Englischen von Eva Bonné. Eichborn Verlag, Köln 2021. 319 Seiten, 22 Euro.

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