Auf der Suche nach dem Ursprung menschlicher Grausamkeit – oder: Endet hier die Geschichte von Dave Robicheaux?

Hanspeter Eggenberger über „Verschwinden ist keine Lösung“ von James Lee Burke
Der Abschluss der Robicheaux-Reihe beim Bielefelder Pendragon-Verlag – alle 23 Bände liegen dort nun in Übersetzung vor – ist eine beachtliche verlegerische Leistung. Für uns ist es auch ein Anlass, auf diese Reihe zurückzublicken. Wir freuen uns, dass wir dafür den profunden Krimikenner Hanspeter Eggenberger aus Zürich, Mitglied der Jury der Krimibestenliste, gewinnen konnten. Auf seiner Internetseite krimikritik.com bespricht er regelmäßig den „Krimi der Woche“. Sein Text hier bei uns ist eine extended version. – Die Redaktion.
Eigentlich ist Dave Robicheaux gar nicht im Dienst, als er beginnt, der Geschichte nachzugehen. Aber es ist eben, wie sein bester Freund, der Privatdetektiv Clete Purcel, ihm sagt: „Du bist ein Cop, Dave. Ob mit Marke oder ohne.“ Es ist eine eher undurchsichtige Sache zwischen zwei Gangsterfamilien, den Shondells in New Iberia, wo Robicheaux lebt und arbeitet, und den Balangies in New Orleans. Beide Sippen, seit Generationen ansässig, sind Robicheaux und Purcel schon lange ein Dorn im Auge.
Ob die Familien sich wirklich bekämpfen oder nicht doch miteinander kungeln oder gar gleichzeitig beides, ist nicht klar. Aber offenbar soll Isolde Balangie, die Stieftochter des einen Clanchefs, an Mark Shondell, das Oberhaupt der anderen Familie, „ausgeliefert“ werden. Was ist das für ein Deal, steckt Menschenhandel dahinter? Dazu kommt, dass Isolde und der Neffe von Mark Shondell, der Musiker Johnny Shondell, ineinander verliebt sind. Robicheaux und Purcel treten beiden Seiten unsanft auf die Füße, und geraten schnell ins Visier der gegnerischen Kreise. Als dann zwei Männer, die Mark Shondell auf Purcel angesetzt hat, zerstückelt aufgefunden werden, wird daraus ein Fall für die Polizei. Und die Gewalt eskaliert.
„Verschwinden ist keine Lösung“ heißt der nun bereits dreiundzwanzigste Krimi mit Dave Robicheaux von James Lee Burke. Und es könnte der letzte sein, wird gemutmaßt. Denn Burke ist zwar ein äußerst fleißiger Schreiber, er ist aber inzwischen Sechsundachtzig und er arbeitet auch an anderen Projekten. Gerade erschienen ist ein Bürgerkriegsroman, im vergangenen Jahr ein weiterer Band der Saga über die texanische Familie Holland. Und derzeit arbeitet er an einem Roman, in dem Robicheauxs Sidekick Cletus „Clete“ Purcel die im Mittelpunkt stehen soll.

Ein würdiger Abschluss der Serie wäre der neue Robicheaux durchaus, aber wir nehmen gerne auch noch mehr davon. Denn die Reihe zählt zu den besten Polizeiserien der Kriminalliteratur. Begonnen hat sie 1987 mit „Neonregen“. Robicheaux, damals noch Lieutenant beim New Orleans Police Departement, wo er aber bald gefeuert werden wird, fährt zu Beginn der Geschichte zu einer Hinrichtung. Der erste Satz des Romans ist typisch für Burkes Art, Wetter und Landschaft dramatisch in die Handlung einzubauen: „Der Abendhimmel war mit violetten Streifen durchzogen, einem Farbton, der an überreife Pflaumen erinnerte, ein leichter Regen hatte eingesetzt, als ich das Ende der Asphaltstraße erreichte, die dreißig Kilometer durch eine dichte, beinahe undurchdringliche Vegetation aus Zwergeichen und Kiefern führte und vor dem Eingangstor des Staatsgefängnisses von Angola endete.“
Der starke Anfang eines starken Romans, der zu einer über mehr als dreißig Jahre laufende starke Serie führte. Für James Lee Burke, geboren im Dezember 1936 in Houston, Texas, und aufgewachsen im Grenzgebiet von Texas und Louisiana, war „The Neon Rain“ der Durchbruch als Schriftsteller. Da war er bereits 50 Jahre alt. Schon in den 1960er Jahren hatte er seine ersten Bücher veröffentlicht, die von der Kritik gelobt wurden. Nachdem sein dritter Roman „Lay Down My Sword & Shield“ (Deutsch unter dem Titel „Zeit der Ernte“ 2017 bei Heyne) 1971 floppte, bekam er für sein viertes Buch, „The Lost Get-Back Boogie“ über hundert Absagen (nachdem es fünfzehn Jahre später doch noch erschien, wurde es für den Pulitzer-Preis nominiert), und es dauerte dreizehn Jahre, bis er sein nächstes Buch veröffentlichen konnte. Burke, der an der University of Louisiana in Lafayette und an der University of Missouri in Columbia Literatur studiert hatte, arbeitete derweil in verschiedenen Jobs, unter anderem als Lastwagenfahrer und als Reporter, als Sozialarbeiter in Los Angeles und in einem Arbeitsprogramm für arbeitslose Jugendliche in Kentucky. In den 1980ern lehrte er kreatives Schreiben an der Wichita State University in Kansas. Inzwischen hat er insgesamt mehr als vierzig Romane veröffentlicht.
Mit Robicheaux hatte Burke zum ersten Mal großen Erfolg, und er wurde im Lauf der Jahre für diese Reihe mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Zwei der dreiundzwanzig Robicheaux-Romane wurden verfilmt: „Heaven’s Prisoner“ („Blut in den Bayous/ Mississippi Delta“) 1996 von Phil Joanou mit Alec Baldwin als Robicheaux, und „In the Electric Mist“ („Im Schatten der Mangroven“) 2009 vom Franzosen Bertrand Tavernier als „Dans la brume électrique“ mit Tommy Lee Jones. Beide Filme hatten wenig Erfolg; Taverniers Film kam in den USA nie in die Kinos. Die ganze Serie böte jedoch exzellenten Stoff für eine epische TV-Serie – aus jedem Roman könnte locker eine sechsteilige Staffel werden.
Der neue Roman „Verschwinden ist keine Lösung“ (Original: „A Private Cathedral“) zählt zu den düstersten der Serie. Die Welt ist schlecht, Robicheaux ist einsam, seine Partnerinnen hat er verloren, die Tochter ist an einer fernen Uni. Täglich wird er gepeinigt von seinen Albträumen aus dem Vietnamkrieg, seinem Alkoholismus, wiewohl er seit anderthalb Jahren trocken ist, von Erscheinungen tief aus der Geschichte und von seinem Gefühl, zu wenig für eine bessere Welt tun zu können.
„Ich suchte nach dem Ursprung menschlicher Grausamkeit. Man achte bitte darauf, dass ich nicht ,das Böse’ gesagt habe. Letzteres ist ein Oberbegriff, Ersteres nicht. Das Böse kann Sucht, Gier, Faulheit, unpassendes Sexualverhalten oder einfach nur Fehler beinhalten und all die anderen Begleiterscheinungen der Todsünden, abhängig davon, wer spricht. Grausamkeit ist anders. Sie kennt keine Grenzen und ist uferlos. Oft geschieht sie ohne Motivation. Üblicherweise ist sie teuflisch und betrifft eher Tätergruppen als Individuen.“
Es wird also, wie immer bei Burke, ziemlich grundsätzlich. Virtuos vermengt er all die Themen, die seinen Helden und dessen Freund umtreiben. Das reicht von Missbrauch jeglicher Art, Sexismus und Rassismus über die Zerstörung der Umwelt bis hin zu korrupten Polizisten und Politikern und alten und neuen Nazis. Zeitlich ist die Story nicht in den fortlaufenden Folgen der Serie eingeordnet, sondern Burke geht hier zurück an den Anfang dieses Jahrhunderts, vor 9/11, wobei es Bezüge gibt, die bis ins Mittelalter zurückgehen. Die Geschichte ist zudem gespickt mit allerlei mehr oder weniger offensichtlichen Reverenzen, etwa an Homer, und mit Johnny und Isolde natürlich an Tristan und Isolde.
Nicht zum ersten Mal wird Robicheaux von Erscheinungen heimgesucht. Diesmal sind es nicht Bürgerkriegssoldaten in einer nebligen Landschaft, sondern es ist eine Galeere mit knarrenden Rudern, die er nachts aus seinem Küchenfenster auf dem Bayou Teche sieht. Übersinnliche Phänomene sorgen in diesem Roman für einen Touch von Horrorstory: Ein zeitreisender Killer mit schuppiger Haut und echsenartigem Kopf namens Gideon Richetti taucht mitunter auf und scheint geisterhaft das Böse zu repräsentieren, doch so einfach ist er dann doch nicht gestrickt. Dem brillanten Autor nimmt man selbst solche Ausflüge ins Phantastische ab, baut er sie doch organisch in seine Geschichte ein. In einem Beitrag über die Ursprünge der Story dieses Romans auf seiner Website sagt Burke dazu, Robicheaux erfahre in seiner Konfrontation mit Gideon, „dass die Zeit vielleicht nicht aufeinander folgt, dass vielleicht alle Geschichte gleichzeitig stattfindet, dass der Mythos gar kein Mythos ist, dass wir stattdessen alle Teil desselben Dramas sind, die Toten, die Lebenden und die Ungeborenen, Hologramme, die im Inneren von Gottes Geist existieren“.
Altmeister Burke zeigt sich hier in Bestform. Der Roman wirkt zuweilen wie ein phantasmagorischer Alptraum, fiebrig, brutal. Dann keimt wieder irgendwo leise Hoffnung. Und bei Beschreibungen von Land und Leuten wird es schon mal poetisch, bei der Liebe leidenschaftlich. Und die Erkenntnisse von Dave Robicheaux können auch uns eine Lehre sein. Zum Beispiel: „Lass dich nicht von Schwachsinn aus dem Mund von Leuten täuschen, die keine Ahnung haben, was das Böse wirklich ist.“
James Lee Burke: Verschwinden ist keine Lösung (A Private Cathedral, 2020). Aus dem Englischen von Jürgen Bürger. Pendragon Verlag, Bielefeld 2023. 466 Seiten, 24 Euro.
Die Robicheaux-Reihe
Die frühen Robicheaux-Romane von James Lee Burke erschienen auf Deutsch zunächst bei Ullstein (die ersten 3 Bände, 1991 und 1992), dann bei Goldmann (die Bände 4 bis 12, 1993 bis 2003). Danach gab es keine Übersetzungen ins Deutsche mehr, bis der Bielefelder Pendragon Verlag 2015 mit „Sturm über New Orleans“ (Band 16) verdienstvollerweise die Gesamtausgabe der Reihe startete. In der Folge wurden nicht nur alle bisher nicht auf Deutsch erschienenen Titel herausgegeben, sondern auch die Bände 1 bis 12 neu aufgelegt. Somit liegen nun alle 23 Bände bei Pendragon vor.
- The Neon Rain (1987)
Neonregen (Deutsch von Hans H. Harbort) - Heaven’s Prisoners (1988)
Blut in den Bayous (Deutsch von Jürgen Behrens) - Black Cherry Blues (1989)
Schmierige Geschäfte (Deutsch von Ulrich von den Berg) - A Morning for Flamingos (1990)
Flamingo (Deutsch von Oliver Huzly) - A Stained White Radiance (1992)
Weisses Leuchten (Deutsch von Oliver Huzly) - In the Electric Mist with Confederate Dead (1993)
Im Schatten der Mangroven (Deutsch von Oliver Huzly) - Dixie City Jam (1994)
Mississippi Jam (Deutsch von Jürgen Bürger) - Burning Angel (1995)
Im Dunkel des Deltas (Deutsch von Georg Schmidt) - Cadillac Jukebox (1996)
Nacht über dem Bayou (Deutsch von Georg Schmidt) - Sunset Limited (1998)
Sumpffieber (Deutsch von Christine Frauendorf-Mössel) - Purple Cane Road (2000)
Strasse ins Nichts (Deutsch von Georg Schmidt) - Jolie Blon’s Bounce (2002)
Die Schuld der Väter (Deutsch von Georg Schmidt) - Last Car to Elysian Fields (2003)
Strasse der Gewalt (Deutsch von Jürgen Bürger) - Crusader’s Cross (2005)
Flucht nach Mexiko (Deutsch von Jürgen Bürger) - Pegasus Descending (2006)
Dunkle Tage im Iberia Parish (Deutsch von Norbert Jakober) - The Tin Roof Blowdown (2007)
Sturm über New Orleans (Deutsch von Georg Schmidt) - Swan Peak (2008)
Keine Ruhe in Montana (Deutsch von Bernd Gockel) - The Glass Rainbow (2010)
Eine Zelle für Clete (Deutsch von Norbert Jakober) - Creole Belle (2012)
Die Tote im Eisblock (Deutsch von Bernd Gockel) - Light of the World (2013)
Angst um Alafair (Deutsch von Jürgen Bürger) - Robicheaux (2018)
Mein Name ist Robicheaux (Deutsch von Jürgen Bürger) - The New Iberia Blues (2019)
Blues in New Iberia (Deutsch von Jürgen Bürger) - A Private Cathedral (2020)
Verschwinden ist keine Lösung (Deutsch von Jürgen Bürger)
James Lee Burke schreibt auch die Holland-Reihe, sie erscheint bei Heyne, teils bei Goldmann:
Billy Bob Holland:
Cimarron Rose (1997)
Dunkler Strom (Deutsch von Georg Schmidt; 1999 bei Goldmann)
Heartwood (1999)
Feuerregen Deutsch von Georg Schmidt; 2002 bei Goldmann)
Bitterroot (2001)
Die Glut des Zorns (Deutsch von Georg Schmidt; 2004 bei Goldmann)
In the Moon of Red Ponies (2004)
Hackberry Holland:
Lay Down My Sword and Shield (1971)
Zeit der Ernte (Deutsch von Daniel Müller; Heyne 2017)
Rain Gods (2009)
Regengötter (Deutsch von Daniel Müller, Heyne 2014)
Feast Day of Fools (2011)
Glut und Asche (Deutsch von Daniel Müller, Heyne 2015)
Die Holland-Familie:
Wayfaring Stranger (2014)
Fremdes Land (Deutsch von Ulrich Thiele, Heyne 2016)
The Jealous Kind (2016)
Dunkler Sommer (Deutsch von Ulrich Thiele, Heyne 2018)
Another Kind of Eden (2021)
Every Cloak Rolled in Blood (2022)
Andere:
Half of Paradise (1965)
To The Bright and Shining Sun (1970)
Two for Texas (1982) aka Sabine Spring
The Lost Get Back Boogie (1986)
White Doves at Morning (2002)
House of the Rising Sun (2015)
Vater und Sohn (Deutsch von Ulrich Thiele, Heyne 2016)
Flags on the Bayou (2023)