Geschrieben am 1. Februar 2023 von für Crimemag, CrimeMag Februar 2023

Gerhard Beckmann: Pasolini, neu gesehen

Eine neuartige Deutung Pasolinis als Kulturvisionär                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                 

„Mir scheint, dass die Vergangenheit im Hinblick auf die Gegenwart die einzige wirkliche Widerstandskraft ist.“ – Pier Paolo Pasolini in einem  Interview mit Gideon Bachmann 1972                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                          

Es ist ein überraschendes persönliches Bekenntnis. Noch erstaunlicher ist, dass es von einem prominenten deutschen Kulturmenschen und Mann des Theaters kommt. Moritz Rinke hat es  abgelegt: „Es sind die  besonderen Spieler und ihre Bewegungen“ auf dem Fußballfeld, „die einen für ein ganzes Leben prägen können.“ Und es erregt überdies Aufsehen, dass Moritz  Rinke es in einem Vorwort zu dem Pasolini-Buch Valerio Curcios mit dem Titel „Der Torschützenkönig ist unter die Dichter gegangen“ gesagt hat, weil er in seiner eigenen Geschichte ein neue Sicht von Leben, Wirken und Bedeutung eines großen europäischen Intellektuellen aus dem vergangenen Jahrhunderts bestätigt sieht.

Moritz Rinke ist ein bedeutender Dramatiker, Romanschriftsteller und Publizist. Sein erstes Drama wurde zum besten deutschsprachiges Bühnenstück (2001) gekürt und sein erster Film 2006 zu den Internationalen Filmfestspielen nach Cannes eingeladen. Sein erster Roman  – „Der Mann, der durch das Jahrhundert fiel“ (Kiepenheuer & Witsch), über die NS-Vergangenheit seines Geburtsorts Worpswede – war 2010 wochenlang ein Spiegel-Bestseller. Moritz Rinke kennt sich in dieser Sache jedoch aus. Er ist nämlich auch ein aktiver und engagierter Sportler. Er spielt in der deutschen Autoren-Fußballnationalmannschaft, die er gegründet hat, und ist Mitglied der Deutschen Akademie für Fußball und Kultur.                                                       

Doch warum soll nun dieses  Buch so besonders und wichtig sein? Schon aus einem ersten, ganz einfachen Grund, den Adriano Sofri auf den Punkt bringt – ein führender  Akteur der außerparlamentarischen und radikalen linken Opposition im Italien der 1960er und 70er Jahre, der Pier Paolo auch persönlich gut kannte. „Es gibt nichts, was Pasolini, sein Wesen, besser erklären könnte, als seine Art Fußball zu spielen.“ Und es scheint, zweitens, jetzt besonders angebracht,  Pasolini anders als bisher, ihn richtig zu verstehen. Denn „der Linke“ Pasolini ist zu einem Pop-Star-artigen „Mythos“ geworden, den Vertreter aller möglichen politischen Richtungen und Lager, sogar Neofaschisten und Rechtsextreme für ihre Zwecke vereinnahmen…                                                                 

„ … ob man ein Fußballbegeisterter, ein Fan wird: Ausschlaggebend ist, wann und wo man selbst die ersten Bolzversuche unternommen hat. Die Fußballbegeisterung ist ein Jugendleiden, das einen ein Leben lang begleitet.“ (Pier Paolo Pasolini)

Es war in Bologna, dort kam Pasolini übrigens 1922 zur Welt, wo seine Leidenschaft für das Spiel geweckt und Fußballspielen „für ihn zur alltäglichen Gewohnheit wurde“ – dank des FC Bologna, wie Valerio Curcio feststellt. Die goldene Zeit des Vereins fiel mit Pasolinis Schul- und Studienjahren zusammen. Er hat das Team als „Siegermannschaft, vor der die Welt erzittert“, aus nächster Nähe miterlebt. Zwischen 1932 und 1941 hat sie viermal die italienische Meisterschaft und zweimal den Mitropa-Pokal gewonnen. Sie hat die etablierten nationalen Spitzenreiter Juventus Turin und Ambrosius Inter (Mailand) sowie auf europäischer Ebene den österreichischen und ungarischen Favoriten die Führung streitig gemacht. Doch mehr noch – und hier wird das Urteil Adriano Sofris  in  einer Aussage anschaulich klar, die  Pasolini selbst kurz vor seinem Tod (1975) aussprach: „Ich habe nie etwas Schöneres gesehen als die Doppelpässe zwischen Biavati und Sansone. Was für Sonntage im Stadion von Bologna.“                                                                                                                     

Amedeo Biavati  gilt als bester italienischer Halbstürmer der Zeit  vor dem Zweiten Weltkrieg. Moritz Rinke sieht In ihm einen Schlüssel zum Verständnis Pasolinis. Denn Biavati ist für seinen Übersteiger legendär geworden – eine Anfang des 20. Jahrhunderts in Argentinien entwickelte Technik, die insbesondere durch Cristiano Ronaldo heute in aller Welt zur Fama geworden ist. In Italien ist sie durch Biavati in den 1930ern unter dem Namen doppio passo berühmt geworden. Pasolini muss ab seinem elften Lebensjahr geradezu besessen gewesen sein von Biavatis „doppio passo“, bei dem „ein Spieler einen Fuß über den Ball setzt und damit einen Richtungswechsel antäuscht. Pasolini übte ihn als Gymnasiast auf den Caprara-Wiesen in Bologna, später auf den Plätzen der römischen Vorstadt, und er wendete ihn dann sein ganzes Leben an, wann immer er ein  Spiel hatte. Und er hatte viele Spiele.“                                                                                                                              

„Auch in den intensivsten Jahren seiner künstlerischen Arbeit war das Fußballspiel“, so fasst Curcio es zusammen, „für Pasolini quasi zu einer physischen und existentiellen Notwendigkeit geworden.“ Er brauchte die alltägliche Erfahrung und Selbstvergewisserung, „mich an der frischen Luft auf dem Rasen unter echten Menschen zu bewegen, ohne hierarchischen Überbau“.                                

Die lang und eng mit ihm befreundete Autorin Dacia Maraini bietet dafür eine weitere Erklärung: „Meiner Ansicht nach lebte Pasolini mit rückwärtsgewandtem Blick. Er blickte seinem Kinder-Ich hinterher, das sich davongemacht hatte. Wenn er spielte, dann nahm dieses Kind zusammen mit dem Fußball wieder Gestalt an: wenn er mit dem Spielen aufhörte, verwandelte er sich aufs Neue in den unruhigen, geplagten Erwachsenen, zu dem er geworden war.“               

Es gibt allerdings noch ein drittes, das entscheidende Motiv – ein öffentliches Anliegen, das ihn zu einer völlig neuen Erkenntnis über den Fußball und seine zentrale gesellschaftliche und kulturelle Funktion in der modernen Gesellschaft  geführt hat. Die Grundsatzdebatte, die er damals angestoßen hat,  müsste in unseren Tagen dringend wieder aufgenommen, vertieft und weitergeführt werden. Es geht um eine fundamentale Umbewertung der europäischen und westlichen Geschichte nach dem Zweiten Weltkrieg sowie eine radikale Entlarvung und Abkehr von den faschistischen Denkrastern,  Grundhaltungen und Handlungsmethoden, die seit 1945 weiterwirken. Und dafür bedarf es  zunächst mal einer Fokussierung auf das Naheliegendste, auf das Wesentliche, auf eine Revision unserer herkömmlichen Vorstellungen von Pier Paolo Pasolini. Sie wird mit Neuerscheinungen ermöglicht , insbesondere eben mit einem Buch über sein enges Verhältnis zum Fußball.                         

Es war eine einzigartige Konstellation. Da griff ein kompromissloser Einzelgänger in eine erhitzte öffentliche Diskussion ein, ein Unabhängiger, der auf Grund der Vielfalt seiner Expertisen und Qualifikationen so etwas wie eine Universalperspektivik einzubringen vermochte – als aktiver Fußballspieler, Mannschaftsgründer, Spielveranstalter; als weitgereister erfahrener Sportjournalist, leidenschaftlicher Fan, Kenner des Geschehens in den Stadien und auf den Zuschauerrängen; als Publizist und Verfasser von Sozialreportagen, Gesellschafts-, Kultur- und Politikkritiker; als Dichter, zeitkritischer Romanschriftsteller und Filmregisseur. Pasolini hat sich gewissermaßen als konzentrisch zirkulierenden Partizipanten und Beobachter eingebracht, als Sammel- und Kristallisationspunkt aller einschlägigen Interessens-, Sicht- und Problemkreise. Und er hatte den Willen, den Mut und die Kraft zu dem Risiko, sich offen mit allen anzulegen in diesem Ring-Kampf gegen die seit den 1960ern vehemente Verteufelung des Fußballs  als Massensport und -Spektakel, als „Opium fürs Volk“, vor allem aus linken politischen Kreisen und kulturellen Establishments.                                             

Pier Paolo Pasolini hat  eine neue, einzigartige, hohe gesellschaftliche Deutung des Fußballs zur Diskussion gestellt – als letztes Phänomen, das die Massen noch mitzureißen vermag; als Ritus, der auf einer Beziehung zwischen den Körpern der Ausführenden und der Zuschauer beruht; für dessen Gelingen die körperliche Präsenz beider Seiten wesentlich ist. In der modernen Welt des Westens hat der Fußball für ihn die primäre Funktion eines sakralen Schauspiels.

Den Kernvorwurf konservativer Kulturträger, der Fußball sei ein poIitisches Instrument zur  Verblödung und Zerstreuung der Massen, hat Pasolini als zweitrangiges Argument abgetan. Für ähnlich sekundär befand er Aussagen von links, Fußball diene nur dazu, „die Jugendlichen von der Revolution abzuhalten“. Andererseits hat Pasolini sich verweigert, wenn man von ihm als einem  „Vertreter der Kultur nichts als kulturelle Rechtfertigungen“ des  Sports erwartete, „vielleicht, weil die Kultur heute ein hervorragendes Alibi bietet“. Der Kommerzialisierung des Sports, die Fußball zu bloßer „Ware“ herabwürdigt, sollte man sich Pasolini zufolge einfach möglichst entziehen. Dem die Medien beherrschenden Sportjournalismus und seinen „gekünstelt lebhaften“ Kommentierungen hat Pasolini den Rang ernsthafter Kommunikation und Sprache abgesprochen – mit Fußball hat der nämlich essentiell gar nichts  u tun. Denn „die wahre Sprache dieses Sports ist die athletische Sprache des Spielers, die Sprache seines Körpers, seiner Muskeln, der Technik, des Stils.“ 

Es war eine originelle, wissenschaftlich konsequent verfolgte Idee Pasolinis, Fußball „als Sprache, als ‚Zeichensystem‘ zu deuten, das von handfesten Regeln“  im Sinne einer „Syntax bestimmt wird“ und, wie Curcio ausführt, dementsprechend eine „Fußball-Linguistik“ zu entwerfen. Um Pasolini wieder selbst zu zitieren: „Die Spieler kodieren diese Sprache“ auf dem Fußballfeld, und „wir auf den Rängen“ des Stadions, wir „dechiffrieren sie. Ich sehe keinen Gegensatz zwischen der Sprache der Literatur und der Sprache des Sports, da letztere ein Subcode des literarischen Codes ist. Die Sprache des Sports ist die athletische Sprache des Spielers, die Sprache seines Körpers, seiner Muskeln, der Technik, des Stils. Daher zeigt sich die Sprache des Fußballs meiner Meinung nach nur dann, wenn der Spieler einen Einfall zum Ausdruck bringt.“ So ‚prosaisch‘ und gemeinschaftlich organisiert ein Spiel auch sein mag, ist doch immer ein poetischer Ausreißer möglich. „Jedes Tor ist eine für sich stehende Erfindung, es unterwandert den Code. Jedes Tor ist Unausweichlichkeit, Geistesblitz, Staunen, Irreversibilität. Genau wie das literarische Wort. Der Torschützenkönig einer Meisterschaft ist stets der beste Dichter des Jahres.“

Pasolini geht aber noch einen Schritt darüber hinaus. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, so Curcio, sind die großen Massenrituale der westlichen Gesellschaft – die Katharsis im Theater, die katholische Messe, die Zeremonien der Politik – bereits untergegangen oder unwiederbringlich im Niedergang begriffen. In Pasolinis Worten: „Der Fußball ist das letzte sakrale Schauspiel unserer Zeit. Er mag der  Zerstreuung dienen, doch im Kern handelt es sich um einen Ritus. Er hat den Platz des Theaters eingenommen. Denn das Theater schafft eine Verbindung zwischen dem Publikum und den Figuren auf der Bühne, beide Seiten sind aus Fleisch und Blut.“

Ästhetische Orientierungen der Kindheit und Jugend als lebenslang prägende Impulse gegen den Faschismus der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts und gegen den bis heute aktuellen „neuen Faschismus“ nach 1945

Um einen Eindruck von der Vielfalt der künstlerischen und gesellschaftlichen Engagements sowie der politischen Auseinandersetzungen und Einlassungen Pasolinis gewinnen zu können, ist der umfangreiche, von Gaetano Biccari herausgegebene Sammelband von Interviews und Selbstzeugnissen mit dem Titel „Pier Paolo Pasolini in persona“ hilfreich und interessant. (Sein Vorwort bei uns hier als Textauszug.) Die Irritationen und Reibungsflächen mit seiner Zeit addieren sich freilich nicht zu einem klaren, schon gar nicht zu einem neuen Bild des zeithistorischen Akteurs und noch weniger seiner rätselhaften, nach außen hin oft widersprüchlich wirkenden Persönlichkeit. Insofern ist (nicht nur) als Ergänzung, das Buch „Caro Pier Paolo“ der großen italienischen Schriftstellerin Dacia Maraini empfehlenswert. Sie hat mit ihrem langjährigen Lebensgefährten Alberto Moravia zum engsten Kreis der Freunde und Mitarbeiter Pasolinis gehört. 

Pasolini erschließt sich von seinen frühen Jahren her

Es ist ein wunderbarer Einfall gewesen, ihre Erinnerungen jetzt in die Form von persönlichen Erfahrungsberichten, Reflexionen und Briefen an den seit langem toten Pasolini zu betten. So ist ein bewegendes Intim-Tiefenportrait entstanden, das sein  – von ihr immer wieder auch kritisch überhauchtes – stilles Wesen mit seinen Unsicherheiten, Nöten und Fluchtrouten hinter allen öffentlichen, oft aggressiven Auftritten sichtbar werden lässt. Und es sind letztlich auch nicht das  vielseitige  Ringen und Schaffen des  Artisten und politischen Zeitgenossen im Erwachsenen-Alter, die für ihn wesentlich sind, bislang allerdings eher das Hauptaugenmerk fanden. Pasolini erschließt sich uns, wie der seit 1970 in Italien lehrende Soziologe und Pasolini-Kenner Peter Kammerer jüngst erneut zu bedenken gegeben hat, von seinen frühen Jahren her.

Vom ersten lebensbestimmenden Moment des Fußballs in Bologna ist bereits die Rede gewesen. Der zweite prägende Früh-Einfluss war sprachlicher Natur. Er rührte von einem tiefen Interesse am Ladinisch-Romanischen der Herkunftsregion seiner Mutter, einer Volksschullehrerin, mit der PPP sich gegen seinen Vater identifizierte, einen faschistischen Berufsoffizier aus verarmt gräflicher Familie. Es wurde von der Bevölkerung in Teilen Venetiens gesprochen – in „einer armen Welt, die mein Vater nichts als verachtete“, – ein offiziell nicht erlaubter „Dialekt“, weil der „Faschismus nicht zuließ, dass es in Italien Partikularismen und Idiome unkriegerischer Dickköpfe“ gab. In diesen friulischen Zusammenhang gehört übrigens auch, dass Pasolini schon als Teenager linguistische Studien betrieb. Als drittes prägendes Moment sind Gedichte zu nennen. Sie blieben die literarische Lieblingsgattung Pasolinis. 

Auch dass er Gedichte auf Friulisch schrieb, geschah aus Protest  – gegen die schon erwähnte Diffamierung und Unterdrückung der alten Bauernsprache durch das Faschisten-Regime. Wie ungemein stark dieses Motiv ihn bewegte, dokumentiert ein biographisches Detail. Es war nämlich so, dass Pasolini das Volksidiom aktiv gar nicht beherrschte. Er hat sich erst – aus dem Ladinisch-Romanischen und dem Hochitalienisch von Dichtern wie etwa d’Annuncio – eine eigene Kunstsprache des Friulischen erarbeiten müssen. Und es stellt  eine ganz besondere schöpferische Leistung dar, dass ihm dann – auch in späteren Jahren noch – überzeugende, klanglich verzaubernde  Gedichte gelungen sind. Pasolini hat sie in mehreren Bänden, erstmals als 20-jähriger, veröffentlicht. (Hiesige Leser können sich glücklich schätzen, dass Christian Filips diese  wundersamen Gebilde sozusagen in einem gemischten Chor aus mittelalterlichem Deutsch, Luther-Sprache und Hugo von-Hofmansthal-Tönen zum Klingen gebracht hat.)

Dass die Vereinnahmung Pasolinis seitens neofaschistischer und rechtspopulistischer Ideologen  auf Aussagen aus seiner frühen Zeit zurückgeführt wird, erscheint angesichts all dessen verwunderlich. Es macht dringend Aufklärung erforderlich. Als Ausgangspunkt der Verwirrung ist insbesondere ein isolierter Satz  des Jahres  1942 zu vermuten – ein einziger Satz, in dem Pasolini seine Heimat unter der Herrschaft Mussolinis als Leit-und Vorbild fürs damals unter nationalsozialistischer Vorherrschaft befindliche Europa augenscheinlich über den grünen Klee lobte. Er sagt nämlich „dass die italienische Kultur die der anderen [Länder,  inklusive Deutschlands] übertrifft; und auf Grund einer alten Liebe, die Europa mit der italienischen Kultur verbindet, können wir hoffen, in nächster Zukunft die Einzigen zu sein, die die Kultur und damit das europäische Geisteswesen lenken; das wäre, auch in politischer Hinsicht, von größter Bedeutung.“ Und hier wird  nun unser letzter Titel enorm wichtig. Denn mit ihrem Buch „Pier Paolo Pasolini. Eine Jugend im Faschismus“ bringen Florian Baranyi und Monika Lustig endlich Licht in dieses heikle Dunkel.

Licht ins Dunkel: Aufklärung über die irrtümliche These von Pasolinis Nähe zu Faschismus und Neofaschismus

Die Aussage bildet Abschluss und Höhepunkt von Pasolinis Bericht „Italienische Kultur und europäische Kultur in Weimar“. Dieser Text ist aber, wie Monika Lustig festgestellt hat, „über Jahrzehnte, bis zum Jahr 2021 auf systematische Weise falsch zugeordnet, unzureichend konnotiert, komplett falsch datiert oder gänzlich negiert worden“. Er ist in deutscher Übersetzung erstmals bei ihr zu finden. Der Bericht  enthält Pasolinis Eindrücke von der Kulturkundgebung der Europäischen Jugend Weimar-Florenz 18. bis 23. Juni 1942. An ihr nahm er als einer der Repräsentanten  der italienischen Universitätsjugend teil. Niedergeschrieben hat er ihn Ende Juni in Florenz, publiziert am  31. August 1942 in „Architrave“, der Zeitschrift der Gioventu universitaria fascista in Bologna.

Es lohnt, diesen Text gründlich zu lesen und seine Hintergründe auszuleuchten. Denn in Weimar hat Pasolini den Nationalsozialismus persönlich erlebt. Dort hat er „einen Geschmack davon  bekommen, „wie ein ‚Neues Europa´ unter dem Führungsanspruch der Nazis aussehen könnte“. In Weimar hat er die Intoleranz erfahren, die Deutschland beherrschte, die Kulturlosigkeit der Hitlerjugend, die Geistlosigkeit der Nazi-Ideologie, -Gefolgschaft und -Propaganda. Und dort lernte er die Strategie der Nazis fürchten, „über eine Internationalisierung der faschistischen Jugendorganisationen die Ausrichtung eines künftigen europäischen Faschismus qua Ideologisierung der Jugend zu erlangen“ (Baranyi). Sie hat Pasolini in Verzweiflung gestürzt. Und so hat er sich denn in Weimar, wie er später   selbst erklärte, „mehr als alles andere und fast verzweifelt als Italiener gefühlt“.

Pasolini hat also mitnichten für Mussolini und eine faschistische Diktatur oder Ideologie Partei ergriffen oder propagiert. Er hat die Verhältnisse in Italien, so wie sie ihn persönlich betroffen hatten, verglichen mit Deutschland, lediglich als besser und vorteilhaft empfunden. Mit den bösen  politischen Tatsachen unter Mussolini war er unmittelbar nie in Berührung gekommen. Vieles hat er auch politisch nicht klar gesehen bzw. erfasst, weil der italienische Faschismus, so Umberto Eco,  ideologisch „verschwommen“ war, bzw. manches auf Grund seiner organisatorischen Schwächen nicht systematisch umzusetzen versuchte oder durchzusetzen vermochte. Er gehörte ja auch zu einer  Minderheit von Privilegierten, wie der große lombardische Schriftsteller Cesare Pavese sie 1948 in seinem März-Tagebuch  charakterisiert hat: „Im Grunde hat die humanistische Intelligenz – die schönen Künste und die Wissenschaften – unter dem Faschismus nicht gelitten; sie konnte bizarr werden, das Spiel zynisch annehmen. Der Faschismus passte nur auf eines auf: das war der Übergang zwischen „intelligentsia“ und Volk; er hielt das Volk im Dunkeln.“  

Außerdem verfolgte dieser Faschismus eine „Konsens-Strategie“ (Bildungsminister Giuseppe Bottai 1934) und zielte darauf ab, „die intellektuelle Jugend durch die Konzedierung politisch-kultureller Artikulationsmöglichkeiten innerhalb kontrollierter Freiräume an das Regime zu binden“ (Florian Baranyi). Umberto Eco hat die in diesem Sinne subversive Funktion der Organisation  der faschistischen Studentenschaft GUF herausgestellt, die sich 1942 von Pasolini in Weimar repräsentieren ließ: „Diese Debattierclubs entwickelten sich zu einer Art intellektuellem Schmelztiegel, in dem neue Ideen ohne jegliche ideologische Kontrolle zirkulierten, nicht weil die  Parteibosse so tolerant gewesen wären, sondern weil nur wenige von ihnen über die intellektuellen Mittel zu ihrer Kontrolle verfügten.“ Die Studenten  entwickelten ihrerseits eine rhetorische Strategie der Doppeldeutigkeit, die Pier Paolo Pasolini perfekt beherrschte. Sie ist für seinen Weimar-Bericht typisch. Darum war dessen Abdruck in der GUF-Zeitschrift auch unproblematisch: Mit dem „Wir“ im  abschließenden Satz konnten sich italienische Faschisten wie junge Antifaschisten identifizieren. 

Die lebendige Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft

Die brutale Realität des Faschismus hat Pasolini persönlich nie wahrnehmen können. Erlebt hat er sie erstmals nach 1945 als Augenzeuge harter Maßnahmen gegen friuaulische Bauern, die sich gegen  ihre Verarmung durch „Reformen“ wehrten – „Reformen“ einer christdemokratischen Regierung, die Pasolini prompt und direkt als faschistisch brandmarkte. Angesichts faschistischer Tatsachen hat er die doppeldeutige Unentschiedenheit seiner Rhetorik aus der Mussolini-Zeit an den Nagel gehängt. Dabei ist er immer kompromissloser  geworden. Er hat die Ökonomisierung allen Lebens in der Konsumgesellschaf schließlich komplett als „neuen Faschismus“ definiert und die linke Bewegung der 1968er als „falsche Revolution“ bezeichnet, die sich für marxistisch ausgegeben habe, in Wahrheit jedoch bloß ein kritischer Reflex der Jungen innerhalb der politisch bürgerlichen Welt gewesen sei.  

Er hat die Fixierung auf technischen und sozialen „Fortschritt“ als Herrschaftsmethode mit dem Ziel einer Nivellierung aller humanen und historisch gewachsenen Unterschiedlichkeiten gebrandmarkt und das Fortschrittsdenken als wesen- und substanzlose Zukunftsideologie abgetan, die den Menschen ihre Vergangenheit  stiehlt. Er hat die aktuellen Diskussionen und Meinungen der politischen Öffentlichkeit als Streitereien auf einem Holzweg  gesehen und hinterfragt, die mit dem Verlust der Geschichte und humanen Dimensionen nur noch zu einem Totalkollaps führen können. Pasolini war überzeugt, dass es zu einer Wiederauferstehung der Vergangenheit kommen muss und dass sie in Form einer unvorhergesehenen Revolution von unten erfolgen wird. Pasolini hat bis zuletzt aktiv nach potentiellen, autonom gebliebenen Inseln politisch unmanipulierter Humanität gesucht, von denen aus ein solcher Aufbruch zu neuen Ufern beginnen könnte. Er war ein Dichter, der das Ästhetische, die Poesie, das Sakrale in allen Dingen als für unser aller Überleben wesentlich erkannt hat. Pasolini war überzeugt, dass die Vergangenheit im Hinblick auf unsere Gegenwart die einzige wirkliche Widerstands und darum kulturell wie politisch unentbehrlich ist.                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                           

Um eine Mahnung des großen Wiener Komponisten Gustav Mahler aufzugreifen: Tradition ist eben keine museale Betriebsamkeit im Hüten kultureller Asche. Sie bedeutet vielmehr: Weitertragen des Feuers, ohne das menschliches Leben nie denkbar gewesen wäre und nie möglich sein wird. Und Bücher, wie die hier namhaft gemachten Titel, sind in dieser Hinsicht eben keine vereinzelten Denkmäler für einen toten Dichter. Sie dürfen eben nicht als  Programmhefte für und Archiv-Dateien von Totenfeiern abgelegt werden, wie sie anlässlich des 100. Geburtstages von Pasolini im vergangenen Jahr vielleicht zelebriert wurden. Bücher sind viel mehr wie Fackeln, die hier im Ensemble und staffelweise das Feuer eines großen europäischen Dichters und intellektuellen Olympiers weitertragen. Buchhändler und Leser werden so zu Fackelträgern einer authentischen, wahren Kultur des Menschseins im Engagement für eine wünschenswerte Zukunft aller Erdenbürger. 

Florian Baranyi, Monika Lustig: Pier Paolo Pasolini. Eine Jugend im Faschismus. Edition Converso, Karlsruhe 2022.  128 S., 18 Euro.

Valerio Curcio: Der Torschützenkönig ist unter die Dichter gegangen. Fußball nach Pier Paolo Pasolini. Aus dem Italienischen von Judith Krieg. Mit einem Vorwort von Moritz Rinke. Edition Converso, Karlsruhe 2022. 186 S., 20 Euro.

Dacia Maraini: Caro Pier Paolo. Briefe an Pasolini. Aus dem Italienischen von Maja Pflug. Rotpunktverlag 2022. 198 S., 25 Euro.

Pier Paolo Pasolini in persona. Gespräche und Selbstzeugnisse. Herausgegeben und mit einem Vorwort von Gaetano Biccari. Aus dem Italienischen von Martin Hallmannnsecker u.a. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2022. 208 S., 22 Euro.

Pier Paolo Pasolini: Dunckler Enthusiasmo.  Friulanische Gedichte. Übersetzt von Christian Filips  Zweisprachige Ausgabe. Verlag Urs Engeler, 338 S., 22 Euro.

Pier Paolo Pasolini: Nach meinem Tode zu veröffentlichen: Späte Gedichte. Zweisprachige Ausgabe. Aus dem Italienischen übersetzt und mit einem Nachwort von Theresia Prammer. Suhrkamp, Berlin 2021. 640 S., 46 Euro.

Gerhard Beckmann bei uns hier mit seinen Artikeln.

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