Alf Mayer über fünf Tröstungen in dieser Zeit
Christian Y. Schmidt: Coronavirus Updates Beijing Edition
Markus Pohlmeyer: Als ich zu den Sternen ging. Dritter Teil: Die Corona-Zyklen I–VI
Jan Sulzer: Abgeriegelt: Schweizer Grenzen Im Corona-Lockdown 2020
Johann Christoph Volkamer: Zitrusfrüchte
Jan Schwochow: Die Welt verstehen mit 264 Infografiken

Keiner so wie er
Christian Y. Schmidt war und ist von der Pandemie wahrscheinlich noch etwas mehr betroffen als die meisten anderen Deutschen. Bereits im Januar 2020 erlebte er den ersten Lockdown in Peking selbst mit und berichtete auch in deutschen Medien darüber. Damals schien das alles noch sehr weit weg. Als er am 12. Februar nach Deutschland flog, um dort sein neues Buch „Der kleine Herr Tod“ zu promoten – ein Buch, das Georg Seeßlen bei uns dann „Genau das Richtige für diese Zeiten“ fand – rechnete er fest damit, am 1. April wieder nach China zurückfliegen zu können. Das aber war ein Irrtum. Christian Y. Schmidt steckt auch heute noch in Deutschland fest. Eine Rückkehr nach Peking wäre, und das variiert andauernd: zu teuer/ zu kompliziert/ nicht möglich. Die Folge ist: Seit siebzehn Jahren hat Christian Y. Schmidt sich nicht mehr so lange in Deutschland aufgehalten, ebenso lange war er nicht mehr von seiner Frau getrennt. Geradezu zwangsläufig, so sieht er es selbst, hat er sich deshalb den größten Teil des Jahres 2020 mit dem Corona-Thema beschäftigt – und tut es immer noch. Als Journalist stehen ihm etliche Medien offen, aber das Medium, in dem er unmittelbar Stellung beziehen kann und nicht zensiert wird, ist Facebook. Seinem Account zu folgen, erweitert auf jeden Fall die eigene Perspektive und konterkariert unseren sehr eurozentrischen Standpunkt.
Auch für Christian Y. Schmidt selbst war es eine Überraschung, dass aus seinen ersten Corona-Postings auf Facebook ein kleines Buch entstanden ist, das zwar „Corona Updates Beijing“ heißt, aber auch einen langen Text zur Pandemie in Deutschland enthält. Wobei: so klein ist dieses Buch wahrlich nicht, es hat A 4-Format, es ist leinengebunden und erstklassig buchbinderisch verarbeitet, hat edles, schmeichelndes Papier, einen großzügigen Satzspiegel und eine klitzekleine Auflage. Welche eine erstaunliche Metamorphose: Aus den Facebook-Posts ist eine bibliophile Kostbarkeit des feinen Berliner Hybriden-Verlags geworden, nummeriert und signiert, mit Foto-Leporello und eingebundener Originalzeichnung von Hartmut Andryczuk.
Christian Y. Schmidt: Coronavirus Updates Beijing Edition. Zweisprachig (deutsch/englisch). Text und Foto-Leporello von Christian Y. Schmidt sowie ein Aerosol (Originalzeichnung von Hartmut Andryczuk). Hybriden-Verlag, Berlin 2020. Auflage: 100 Exemplare, nummeriert und signiert, 100 Euro. Vorzugsausgabe in 30 Exemplaren: 650 Euro. – Internetseite des Verlages hier.

Und auch er: Solo-Stimme
CulturMag-Leser kennen die Corona-Gedichte unseres Autors Markus Pohlmeyer. In dieser Ausgabe präsentieren wir Ihnen bereits den Zyklus VIII. Gibt es schon eine Rezeptionsforschung zur Wirkung von Gedichten, wo sie schöner wirken – online oder gedruckt? Ich denke, so wie Gebote eigentlich in Stein gehauen gehören, sollte ein Gedicht auch seine Fassung auf Papier finden. Deshalb ist es eine schöne Nachricht, dass es „Die Corona-Zyklen I–VI“ jetzt in Buchform gibt.
Der Dichter und Essayist Markus Pohlmeyer lehrt an der Europauniversität Flensburg (seine längst schon über hundert Texte bei uns hier). Die Lockdown-Zeiten und andere Einschränkungen haben ihm eine Einsamkeit auferlegt, deren Einschränkungen er ab irgendwann produktiv zu nutzen beschloss. Nämlich, indem er – in diesem Metier kein Neuer – anfing, Gedichte zu schreiben. „Sinn gibt es nicht. Sinn muss gedichtet werden – immer wieder, unaufhörlich. Das Erdichten von Sinn mitten in Umständen der Sinnlosigkeit ist Aufgabe der Poesie“, schreibt Marcello Neri in seinem Vorwort.
Die (nicht nur Corona bedingte) Einsamkeit des Dichters, so arbeitet er heraus, steht im Dienst der Gemeinschaft „aller Mitmenschen, die auf eine möglich-unmögliche Begegnung mit Sinn warten“. Markus Pohlmeyers die Konfrontation mit dem Kosmos nicht scheuende Gedichte sind Aufruhr und Anklage, Besinnung und Zweifel, Kritik und Analyse, gebündelter Schmerz und Trauer, vor allem aber sind sie Trost.
Dichtkunst, das zeigt sich gerade in solch einer Krise, ist etwas Elementares. Und Schönheit, viel davon, gibt es hier auch.
Markus Pohlmeyer: Als ich zu den Sternen ging. Dritter Teil: Die Corona-Zyklen I–VI. Gedichte. Flensburger Studien zu Literatur und Theologie, Band 22. Igel Verlag, Hamburg 2020.



Auch der Fotoband „abgeriegelt“ ist das Produkt der Ausnahmesituation Corona. Der Schweizer Bundesrat verkündete im März 2020 die Schließung der Landesgrenzen. „Man dachte, wie in vielen Ländern, ein Virus ließe sich an der Grenze stoppen“, heißt es dazu im Vorwort. Buchstäblich über Nacht wurden für selbstverständlich gehaltene Freiheiten beschränkt, der tagtägliche Austausch mit den Nachbarländern abrupt unterbunden – und zwar gründlich. Auf der Suche nach einer künstlerischen Auseinandersetzung mit der Corona-Krise zog der Fotograf und Regisseur Jan Sulzer los, umrundete die Schweiz von Grenze zu Grenze und dokumentierte die plötzlich aufgetauchten Grenz-Barrieren fotografisch: Absperrungen auf Hauptverkehrsstrassen, in Vorgärten, durch Wohngebiete, auf Brücken und vor Haltestellen, sogar kleinster Wald- und Feldwege. Die Konstruktionen aus Betonelementen, Bauzäunen und Absperrbändern wirken zum Teil wie Installationen im öffentlichen Raum. Rot-weißes Absperrband, mal straff, mal schlaff, fast liebevolle Schrankenkonstruktionen, phantasievolle Beton-Ensembles, Leitkegel, Warndreiecke, Hilflosigkeit, Absurdität.
Ein starker Bildband, ergänzt durch drei pointierte Reflexionen:
Bilder einer Pandemie (Corina Caduff)
Die zarte Poesie des Absperrbands: Spazierengehen im Lockdown (Christoph Ribbat)
Die Grenze, der Körper, das Verbot & ein Virus (Georg Seeßlen).

„Was eine Grenze ist, weiß jedes Kind“, beginnt Georg Seeßlen seinen Text. „Und auch, dass es welche gibt, die leicht zu überqueren sind, und andere, bei denen es fast unmöglich ist.“ In Zeiten der Pandemie jedenfalls werden Grenzen zu etwas ganz anderem, „man möchte schier ins Grübeln kommen“, schreibt er und analysiert, dass jede Grenze in drei Dimensionen existiert: als physikalische und technische Tatsache, also als Hindernis und Drohung, aber zweitens auch als Mythos und Erzählung, und dann auch noch als Erfahrung und Projektion. Was sich an ihr widerspiegelt, ist so vielfältig, dass es einem schwindelig werden kann. Es ist die Macht über einen Ausnahmezustand.
Ein wirklich starker Bildband, den ich immer wieder zur Hand nehme.
Jan Sulzer: Abgeriegelt: Schweizer Grenzen Im Corona-Lockdown 2020. Mit Texten von Corina Caduff , Christoph Ribbat und Georg Seeßlen. Benteli, Salenstein/ Schweiz 2020. Englisch/Deutsch, Leinen, Querformat. 144 Seiten, 78 Abbildungen, 22 Euro.

Monumental
Couchsurfing der wirklich anderen Art, das ermöglicht der schwergewichtige, atlasgroße und 568 Seiten starke Band „Die Welt verstehen“ aus dem Prestel Verlag mit seinen 264 doppelseitigen Infografiken. Woah. 30 Jahre Berufserfahrung als Infografiker sind in dieses Buch eingegangen, eher durch Zufall kam Jan Schwochow 1990 mit 22 Jahren als studentische Aushilfe zum „Stern“, wanderte vom Grafiklabor zu den Zeichnern, gehörte bald der dort inzwischen schon dritten Generation von Infografikern an – wobei, dieses Wort gab es noch gar nicht, war 1993 noch taufrisch, als die Computer ins Büro einzogen und erste Grafiken an den „Macs“ erstellt wurden. Es war der Beginn des digitalen Zeitalters und des Siegeszugs der visuellen Vermittlung von Informationen. Heute kommen Infografiken in allen Bereichen des Lebens vor, sind selbstverständlich. Sie geben Orientierung (Navigation) oder Überblick (Gebäudeplan), veranschaulichen Wahlergebnisse (Sitzverteilung) oder das Wetter von morgen (Wetterkarte). Das menschliche Gehirn kann solche Bilder extrem gut verarbeiten, eine schnelle Entscheidung (jetzt abbiegen) oder Meinungs- und Urteilsbildung wird dadurch möglich und eben, zusammengefasst, unser Verständnis von Welt.
Jan Schwochow war Gründer der Infographics Group GmbH, einem Vorreiter auf diesem Gebiet, in einem – wie könnte es anders sein – sehr informativen Vorwort gibt er anschaulichen Einblick ins ein Berufsfeld, erzählt auch davon, wie einzelne Grafiken entstanden. Etwa die der „Geschichte der Bundesliga“ (Seite 261), für die der Ausgangspunkt eine Excel-Tabelle mit allen bisher stattgefunden Spielergebnissen aus 50 Jahren war. (Auch wenn es weh tut: Der FC Bayern führt in der daraus entstanden „ewigen Tabelle“ völlig unangefochten mit 936 Siegen und der viermal so hohen Tordifferenz wie der Tabellenzweite, es ist, Tata!, mit 200 Siegen weniger: Werder Bremen. Der HSV und Stuttgart folgen, Dortmund liegt auf Platz 5.)
Der Band gliedert sich in acht farblich von einander abgesetzte Kapitel: Geschichte, Politik, Gesellschaft, Wirtschaft, Sport, Technologie, Kultur & Kunst, Wissenschaft. Viel Stoff zum Surfen also. Die letzte Grafik zeigt, wie klein wir Menschen im Universum sind. Ein visueller Index versammelt zum Abschluss noch einmal sehr übersichtlich das ganze Buch und die Liste der Beteiligten liest sich wie der Abspann bei einem Monumentalfilm. Ist es ja auch.
Jan Schwochow: Die Welt verstehen mit 264 Infografiken: aus Geschichte, Wirtschaft, Gesellschaft, Sport, Kunst und Kultur, Wissenschaft und Technologie. Prestel, München 2020. Hardcover, 568 Seiten, Format 24,5 x 32,7 cm, 272 farbige Abbildungen, 59 Euro. – Verlagsinformationen hier.
„Als in einem steten Frühling“
Und – last but not least – noch etwas mit gaanz vielen Vitaminen. Die immergrünen, gleichzeitig blühenden und fruchtenden Zitrusbäume waren für viele Gartenautoren des 17. und 18. Jahrhunderts die Idealvorstellung einer zeitlosen, paradiesischen Glückseligkeit – kurzum: „himmlische Früchte“. Das XXL-Werk „The Book of Citrus Fruits“ aus dem Verlag Benedikt Taschen ist die bibliophile Rekonstruktion eines zweibändigen Foliantenwerks aus Nürnberg, 1708–1714 im Auftrag des Kaufmanns und Naturforschers Johann Christoph Volkamer entstanden: 256 großformatige Tafeln mit 170 Zitrussorten in natürlicher Größe, ergänzt um 56 neu entdeckte Tafeln, eigentlich für einen dritten, nie erschienenen Band gedacht. Die TASCHEN-Publikation basiert auf einem Set aus dem Stadtarchiv Fürth auf Schloss Burgfarrnbach und ist inhaltlich eine Sensation, dies zudem in einem (wie aus diesem Verlag gewohnten) großartigen Preis-Leistungs-Verhältnis für einen Folianten des 21. Jahrhunderts, an die vier Kilo schwer. Ein Register der Pflanzen und Orte erleichtert die Navigation.

Die handkolorierten Kupferstiche aus dem frühen 18. Jahrhundert sind nicht nur eine Ode an die Zitrusfrucht, sie spiegeln die geistige und wissenschaftliche Welt der damaligen Zeit – „mundus in litteris“, die Welt im Buche, wie es die (u.a.) auf die europäische Gartenkunst des 16. – 20. Jahrhunderts spezialisierte Kunsthistorikerin Iris Lauterbach auf den Punkt bringt: „Die Kultur der Zitrus und anderer exotischer Pflanzen – zu Volkamers Zeit eine wissenschaftliche und gärtnerische Hochleistung – ermöglichte es, die Welt in den eigenen Garten zu holen: jeder Garten ein Universum für sich.“
Die „Früchte der Götter mit den goldenen Schalen“ waren damals weit exotischer als heute. Der griechischen Mythologie entlehnt, wurden sie auch Himmlische oder Hesperiden-Früchte genannt, angelehnt an die goldenen Äpfel der Unsterblichkeit, die Gaia der Hera zu ihrer Hochzeit mit Zeus hatte wachsen lassen und die Herkules als elfte und vorletzte seiner unmöglichen Aufgaben besorgen sollte. Sie wuchsen auf einem sagenumwobenen Baum am äußersten Ende der Welt, von den Hesperiden, drei Nymphen, gehegt, den Töchtern des Atlas und der Nacht, und bewacht vom hundertköpfigen Drachen Ladon …

„Wenn im Winter vor Frost und grosser Kälte alles erstorben, ja alles mit tiefen Schnee bedecket ist (…), so siehet man in diesen herrlichen Paradieß-Garten, mit der allergrösten Verwunderung, wie die allerschönsten und raresten Bäumlein in so mancherley Gestalt daher grünen und blühen, eines hat weisse liebliche wohlriechende Blumen ein anders gelbe, das dritte rothe, das vierdte Purpurfarben, alles mit dem allerschönsten durchdringenden Geruche, und maß ja einen Menschen als in einen steten Frühling eine neue Erquickung geben“, schwärmte der Botaniker Heinrich Hesse im Jahr 1706 in seiner Schrift „Neue Gartenlust“ von den Orangen, Limonen, Bitterorange, Pomeranzen, Zedratzitronen und Pampelmusen.
Zitrusfrüchte gehören mit zu den ältesten Kulturpflanzen, lassen sich in Südchina bereits 2000 vor Christus nachweisen. Genueser und portugiesische Kaufleute brachten hochkultivierte Sorten der süßen Orange im 15. /16. Jahrhundert nach Italien. Dort wurde der Nürnberger Kaufmann und Hobby-Botaniker Johann Christoph Volkamer (1644–1720) von der Leidenschaft für die Zitrusvielfalt ergriffen. Er betrieb am Gardasee eine Seidenfabrik und brachte die Pflänzchen für seinen Barockgarten in Gosenhof bei Nürnberg über die Alpen, beschaffte sich sogar welche aus Südafrika.
Volkamers erster Band erschien 1708 mit dem Titel „Nürnbergische Hesperides, Oder Gründliche Beschreibung der Edlen Citronat, Citronen, und Pomeranzen-Früchte, Wie solche, in selbiger und benachbarten Gegend, recht mögen eingesetzt, gewartet, erhalten und fortgebracht werden“.

Die Bildertafeln werden von höchst detaillierten Beschreibungen jeder Zitrussorte, Größe, Duft, Vermehrung, Schädlingen (Abb. 61 zeigt die Schildlaus), Hinweisen zu ihrer Pflege samt Rat für das Anlegen temporärer Orangerien begleitet, oft verbunden mit einer Phantasie-Reise an die Orte, von denen die Früchte stammen. Die Zitronen, Limonen und Bitterorangen schweben wie Himmelskörper über allerlei italienischen Villen, Nürnberger Gärten und pittoresken Landschaften, über Landgütern und Palästen, Gartenanlagen, Klöstern, Schlössern und Sternwarten – bemerkenswert dabei ist die Vogelperspektive auf diese Prospekte, denn eine solche Luftansicht gab es damals eigentlich noch gar nicht (es sei denn, gegenüber wäre ein erklimmbarer Berg gewesen).
Die erste bemannte Ballonfahrt fand am 21. November 1783 statt, der Physiker Jean-François Pilâtre de Rozier erhob sich dabei mit seiner 20 Meter hohen Montgolfière für 25 Minuten in die Luft. Aus der Vogelperspektive gemalt aber wurde schon früher, etwa vom niederländischen Künstler Giusto Utens bereits Ende des 16. Jahrhunderts. Heute im Museum „Firenze com’era“ ausgestellt, waren seine 14 Ansichten von Medici-Villen sozusagen eine gemalte Inventarliste der Adelsgüter aus der Luftperspektive. Volkamers Kupferstecher müssen sie gekannt haben, denke ich. Eine wahrlich erhebende Lektüre also. Volkamer wurde für seine Zitrus-Verdienste 1720 zum Mitglied der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina gewählt. Und die Volkamer-Zitrone trägt seinen Namen: citrus volkameriana…
Johann Christoph Volkamer: Zitrusfrüchte. Mit einem Essay von Iris Lauterbach. Dreisprachige Ausgabe (Deutsch, Englisch, Französisch). Taschen Verlag, Köln 2020. Leinen gebunden, Format 27,6 x 39,5 cm. Nummerierte Erstauflage von 5.000 Exemplaren, 384 Seiten, 125 Euro. – Internetseite des Verlages hier.

