
Die ledrigen Schwingen der Vergangenheit
Die Fledermaus auf dem Cover und das vorangestellte Bram Stoker-Zitat lassen keinen Zweifel aufkommen: Diejenigen, die im neuen Roman der 1979 in Bukarest geborenen Dana Grigorcea nicht sterben, sind Vampire. Doch wer einen Schauerroman und Gänsehaut erwartet, wird möglicherweise enttäuscht. Zwar geht um niemand Geringeren als Vlad Dracul selbst, den transsilvanischen „Pfähler“, der Inspiration für Stokers Klassiker gewesen sein soll, und auch unheimliche Elemente finden sich einige, doch die eigentlichen Untoten sind andere – und sie ziehen immer noch die Fäden in einem postkommunistischen Rumänien.
Die Sommer ihrer Kindheit verbringt die namenlose Erzählerin in einer lediglich B. genannten Kleinstadt am Fuß der Karpaten. Vor der Wende 1989 kann man hier in der Saison ganze Villen mieten und mit viel Witz schildert die Erzählerin, wie in einem alljährlich wiederkehrenden Ritual das Haus vom „Kommunistenkitsch“ befreit und mit Bettbezügen und Kissen, Teppichen und Unmengen an Wandschmuck in die hochherrschaftliche Villa der Tante zurückverwandelt wird, die es vor der Enteignung war. In diesen Sommern bleibt der Kommunismus außen. Eine erste blutige, surreal anmutende Szene beobachtet das junge Mädchen, als eines Nachts ein Fremder ins Haus gelassen wird, dem die Frauen der Familie in der Küche das Fleisch von den Knochen abzureißen scheinen. Zum Vorschein kommt ein schmaler Junge, der Ziegenfleisch am eigenen Körper geschmuggelt hat. Später erfährt die Erzählerin, dass diesen Jungen eines Nachts im Wald die Wölfe gerissen haben, und sie rätselt, ob es echte Wölfe waren oder ob Securitate-Agenten gemeint waren. Sie hat also schon als Kind Erfahrung mit Metaphern und Codes – möglicherweise sollte man dies als Leser im weiteren Verlauf der Geschichte im Hinterkopf halten.
Nach dem Zusammenbruch der Diktatur wird die Villa an die Familie zurückerstattet. Der Ort scheint zunächst eine kurze Blütezeit zu erleben, junge Leute ziehen hinaus in die Welt, um mit dem im Ausland verdienten Geld daheim neue Häuser zu bauen. Doch viele dieser Projekte werden nicht zu Ende geführt, was bleibt, sind die Alten und die Bauruinen der Jungen. Nach einem Kunststudium in Paris kehrt auch die Erzählerin zurück nach B., genießt die Farben und das Licht und bannt dieses auf Papier und Leinwand. Als bei einer Bergwanderung ein Familienmitglied tödlich stürzt, hält das Unheimliche Einzug in den Ort: Bei der Beerdigung wird in der Familiengruft eine noch recht frische, gepfählte Leiche entdeckt – auf einem Grabstein liegend, der den Namen Vlad Draculs trägt.
Während die junge Malerin sich immer tiefer in die blutrünstige Geschichte des Fürsten aus dem 15. Jahrhundert gräbt, wittert der geschäftstüchtige Bürgermeister die Chance, mit einem „Dracula-Park“ das große Geschäft zu machen. Für die Erzählerin verschieben sich die Realitätsebenen immer stärker, traumhafte Sequenzen mischen sich unter nüchterne Beobachtungen. Ihre Sinne scheinen geschärft; in bester Tradition des Magischen Realismus riecht sie Blut und Tod und durch die Nacht fliegend kommt sie den wahren Zusammenhängen hinter dem Leichenfund auf die Spur.
Dana Gricorceas Sprache ist sinnlich, voll surrealer Bildhaftigkeit und hintergründigem Witz. Nahezu schwelgerisch malt sie frühmittelalterliche Foltermethoden aus – und auch die erotische Komponente des Vampirmythos lässt sie auf ihrer erzählerischen Klaviatur anklingen. Von der allgemeinen Faszination für den unbarmherzigen Pfähler schlägt sie den Bogen zur faschistoiden Sehnsucht nach der starken Hand eines Führers. In der rumänischen Geschichte haben die Blutsauger gewechselt von den Aristokraten zu den kommunistischen Politikern – und auch nach der Wende lauern sie im neokapitalistischen Gewand hinter bürgerlichen Fassaden. Der Roman ist ein seltsamer Hybrid aus Schauergeschichte, Krimi und bissiger politischer Gesellschaftssatire. Und auch wenn die Bezüge zu Ceausescu und seinen Erben überdeutlich sind, stellt die Autorin bereits auf der ersten Seite klar, dass sich die Geschichte „an vielen Orten auf der Welt hätte abspielen können.“
Eine der einprägsamsten witzigen Szenen ist allerdings, wenn die Malerin sich auf den Weg zum „Internet-Hügel“ macht, dem einzigen Ort, an dem es in B. virtuellen Kontakt zur Welt gibt. Hier, auf diesem Hügel, reden mehrere Dutzend Menschen durcheinander, jeder in seinen Handybildschirm, auf dem Kinder und Enkelkinder antworten – und ihre Recherche zum Toten in der Familiengruft wird durchmischt von Gesprächsfetzen ganz alltäglicher Dimensionen. Wo findet das wahre Leben statt? Hier, im beschaulichen B.? Oder „da draußen“, in der virtuell näher rückenden Ferne?
Frank Schorneck – seine Texte bei uns hier.
Dana Grigorcea: Die nicht sterben. Penguin, München 2021. 272 Seiten, 22 Euro.