Geschrieben am 1. November 2022 von für Crimemag, CrimeMag November 2022

Frank Schorneck über Paddy Doyles „Lächeln“

Der Teufel trinkt Lager

Der Pub – natürlich ist es der Pub, in dem Roddy Doyles neuer Roman beginnt und in dem im weiteren Verlauf die wichtigen Begegnungen stattfinden und die wichtigen Gespräche geführt werden. Victor Forde läutet einen neuen Lebensabschnitt ein: Auszug aus der ehelichen Wohnung, Suche nach einem Pub, nach „seinem“ Pub. Das Donnelly’s scheint ihm das Potential zur Stammkneipe zu haben. Ein Pint, ein Buch, vielleicht auch mal das iPad – was braucht es mehr? Doch dann ist da plötzlich dieser Typ, plump, ungehobelt, der Victor anspricht und behauptet, ihn von der Schule her zu kennen.

„Wie hieß der Bruder nochmal, der damals so auf dich stand?“ – Diese Frage kommt aus heiterem Himmel und setzt Erinnerungen in Gang, die Victor erfolgreich verdrängt zu haben schien. An diesen Typen, Fitzpatrick, kann sich Victor weiterhin nicht erinnern, da noch eher an Síle, seine blonde Schwester. Vor allem aber an die Brüder, die Christian Brothers, deren Schule er besuchte. Victors Erinnerungen führen zurück in eine Zeit der Demütigungen und Prügel unter dem Deckmantel katholischer Erziehung. Bei Bruder Murphy, der dafür berüchtigt ist, einem Schüler ohne Vorwarnung per Kopfstoß die Nase gebrochen zu haben, hat Victor einen Stein im Brett. „Deinem Lächeln kann ich einfach nicht widerstehen“, ist Murphy eines Tages herausgerutscht. Seitdem gilt Victor unter den Klassenkameraden als „Schwuchtel“, hat aber gleichzeitig auch eine gewisse Macht über den Ordensbruder. Wenn die Klasse keine Lust auf Hausaufgaben hat, wird Victor aufgefordert, diese Karte auszuspielen …

Fitzpatrick taucht nun regelmäßig im Pub auf, weder ihm noch seinen Erinnerungen kann Victor entkommen. Dabei versucht er es, sucht Anschluss an eine andere Gruppe Stammgäste. Während Victor und die anderen selbstverständlich Guinness trinken, trinkt Fitzpatrick Heineken. Er ist ein Außenseiter, dessen Motive undurchsichtig bleiben. Doch Victors Gedankenkarussell ist in Gang gesetzt: So erinnert er sich an die Zeit, in der er sich nach der Schule als Musikjournalist versucht hat mit dem festen Vorsatz, möglichst originelle und fiese Verrisse zu schreiben. Während seine Kumpel aus der Anfangszeit in andere Berufe oder zumindest ins politische Ressort wechseln, mutiert Victor zu einem Relikt, dem der Absprung nicht so recht gelingt. Doch dann, 1983, eher durch einen Zufall, interviewt er eine Politikerin, die ihm kurz vor dem Referendum zur Abtreibung gesteht, dass sie selbst abgetrieben habe und daher nicht für das scharfe Gesetz stimmen könne. Dieses Interview katapultiert Victor plötzlich in die Öffentlichkeit, er gefällt sich darin, in Radiosendungen Dinge auszusprechen, die im Irland der 1980er Jahre skandalös sind. Und irgendwann kündigt er vollmundig an, ein Buch über alles zu schreiben, was in Irland falsch läuft. Während dieser Zeit lernt Victor Rachel kennen, deren Partyservice „Meals on Heels“ gerade in den Startlöchern steht. Die beiden heiraten, doch während Rachels Geschäft durch die Decke schießt, kämpft Victor mit Schreibblockade und sinkender Bekanntheit. Bis er eines Tages live im Radio davon berichtet, wie ihn der Direktor seiner früheren Schule angefasst hat.

Roddy Doyle nimmt sich Zeit mit der Entwicklung der Geschichte. Victor lässt seinen schockierenden Schilderungen Anekdoten folgen, wie sie in der irischen Folklore und Literatur zuhauf zu finden sind. Der sexuelle Missbrauch wird relativiert und marginalisiert. Und wenn man diesem Mechanismus langsam auf die Schliche kommt, dann erinnert man sich auch wieder an Szenen etwas in Frank McCourts „Die Asche meiner Mutter“, wo man über die Schilderung der strengen Lehrer gelacht und die zugrundeliegende Brutalität und Verachtung gegenüber den Kindern gar nicht wirklich wahrgenommen hat. So sehr sind „strenge“ Nonnen und Priester Bestandteil irischer Kultur und Literatur. Was die „Christlichen“ Brüder Victor tatsächlich angetan haben, offenbart sich sowohl den Lesern als auch Victor selbst erst sehr spät; sein ganzer Lebensentwurf bricht wie ein Kartenhaus in sich zusammen.

Roddy Doyle gelingt es in „Lächeln“, seine Leser auf zahlreiche falsche Fährten zu locken, eine traurige Liebesgeschichte zu erzählen, deren tatsächliche Tragik sich erst auf den letzten Seiten abgrundtief auftut. Dabei muss man auf den typischen Roddy-Doyle-Sound nicht komplett verzichten, die Pub-Dialoge sind von lakonischem Humor und scharfer Beobachtungsgabe durchzogen, das Verhalten von Menschen in Kneipen schildert er bis in kleinste Gesten vortrefflich. Doch in seiner letztlichen Schonungslosigkeit erschüttert dieser Roman so wie vielleicht noch sein rund 20 Jahre altes Werk „Die Frau, die gegen Türen rannte“ über Gewalt in der Ehe. In der letzten Zeit arbeitet die irische Literaturszene verstärkt die Verbrechen auf, die hinter Kloster- und Schulmauern geschehen sind. „Lächeln“ dürfte bislang das aufwühlendste dieser Bücher sein: Ein wichtiges Meisterwerk.

Frank Schorneck

Roddy Doyle: Lächeln (Smile, 2017). Aus dem Englischen von Sabine Längsfeld. Goya Verlag, Hamburg 2022. 256 Seiten. 22 Euro.

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