Geschrieben am 1. April 2022 von für Crimemag, CrimeMag April 2022

Frank Göhre liest Jens Eisel

Short Stories, ein Roman und True Crime

            Rechts und links von der Autobahn tauchten Hafenkräne und bunte Container auf, und in einiger Entfernung konnte Richard ein Riesenrad erkennen. Es war bereits dunkel, aber die Lichter vom Hafen erleuchteten die Straße. 

            „Hafenlichter“. 17 Geschichten von Jens Eisel, betitelt mit meist nur einem Wort: „Hunde“, „Brüder“, „Anna“, „Fernsehen“, „Glück“ und „Abschied“, „Tanzen“ und „Sturm“. 

Sprachlich klar und knapp erzählt. Lakonisch. 

Ein beeindruckendes Debüt. 

            Jens Eisel kommt aus dem Saarland. Aus dem kleinen Ort Wiebelskirchen, einem Stadtteil von Neunkirchen, in dem auch Erich Honnecker geboren und aufgewachsen ist. Aber das hat nichts weiter zu bedeuten.

            Nach der Hauptschule macht er eine Schlosserlehre. Schlägt sich dann mit verschiedenen Jobs durch. Macht konkrete Arbeitserfahrungen. Das für ihn Entscheidende aber ist, dass er mit Siebzehn seine Leidenschaft für die Literatur entdeckt hat. Er liest. Er liest viel. Primär die Amerikaner. Aber auch Böll und Siegfried Lenz, die großen Erzähler der Nachkriegsgeneration. 

            Er liest Salinger, Der Fänger im Roggen, und Kerouac, On the road. Faulkner und Hemingway, Bukowski, Nelson Algren und Hubert Selby. Short Stories und Romane. 

Stark beeindruckt ist er von Sherwood Anderson, Winesburg, Ohio. Es ist ein Roman in Geschichten. Es sind locker miteinander verbundene Schicksale mehrerer Menschen eines Ortes. Ein Klassiker. Eine Orientierung für Jens Eisel, der nun auch mit dem Schreiben beginnt. 

In Hamburg. In Hamburg St. Pauli.

Im fortan seinem Viertel angekommen. 

            Dann tauchten ein paar Gebäude auf. Zuerst Lagerhallen, dann Wohnhäuser – nach einer Weile waren sie auf der Köhlbrandbrücke; man konnte einen Großteil des Hafens überblicken, und die Wasseroberfläche wirkte wie zerknittertes Papier. 

            Zehn Jahre arbeitet Jens Eisel auf der Sozialstation der Diakonie St. Pauli Süd. Er wohnt parallel zur Reeperbahn, ist sowohl mit und bei den einsamen, alten und kranken Menschen, wie auch den kleinen Gewerbetreibende, die um ihre Existenz kämpfen.

            Die Flaschen im Wagen klirrten, als er am Tropeninstitut vorbeilief. Es war seine dritte Runde, und es war schon einiges zusammengekommen … Er sah zu den Gebäuden hinüber. Früher hatte hier die Brauerei gestanden, Karl dachte an die Bierkisten, die sich auf dem Hof getürmt und die Mauer überragt hatten. Er hatte sein ganzes Leben hier verbracht, und auch wenn er oft weg gewesen war, war er immer wieder hierher zurückgekehrt – sein Heimathafen eben. Aber seit einer Weile fühlte er sich fremd hier, und das, obwohl er die Stadt schon lange nicht mehr verlassen hatte. 

            Erste Skizzen entstehen. Ein Bild zeichnet sich ab. Das Porträt eines Stadtviertels am Fluss. Ein norddeutsches „Winesburg, Ohio“, oder „New Orleans. Skizzen und Erzählungen“ des 27jährigen William Faulkner, übersetzt von Arno Schmidt. 

            2009 bewirbt sich Jens Eisel am Leipziger Literaturinstitut. 

Seine Arbeitsproben überzeugen. Er wird aufgenommen, lernt von praktizierenden Lehrenden die diversen Schreibmethoden und diskutiert mit ihnen und den Kommilitonen*innen  eigene und fremde Texte. 

Vier Jahre lebt er in Leipzig.  

Mit der Story „Glück“ gewinnt er den „Open Mike“ der Literaturwerkstatt Berlin. 

            Zurück in Hamburg wird „Hafenlichter“ veröffentlicht. Die Kritik reagiert weitgehend positiv auf die Erzählungen. Jens Eisel beginnt, sich als Autor zu etablieren. Er ist verheiratet und Vater einer Tochter. Seine Frau arbeitet als freie Fotografin. Finanzielle und das Schreiben fördernde Unterstützung erhält der inzwischen Vierunddreißigjährige mit Stipendien in Eckernförde, Spreewald, Künstlerhof Schreyahn und vom Goethe-Institut Zagreb. 

            2017 kann er seinen ersten Roman veröffentlichen „Bevor es hell wird“. Die eigentliche Geschichte beginnt mit einer klassischen Filmeinstellung: Ein junger Mann verlässt nach zwei Jahren Haft

die Hamburger Strafvollzugsanstalt „Santa Fu“. Zehn Jahre zuvor ist seine Mutter mit ihm und seinem Bruder nach Hamburg gezogen. 

            Unsere Wohnung lag in einem Arbeiterviertel aus den zwanziger Jahren. An den Straßen standen Bäume, die kleinen Vorgärten waren verwildert, und die Häuser sahen alle gleich aus – vierstöckige Backsteingebäude, von deren Fenster und Türen der Lack abblätterte. In der Nähe unserer Wohnung führten die S-Bahngleise entlang, und wenn ich abends beim offenen Fenster im Bett lag, konnte ich die Züge hören, die durch die Nacht rollten.

            Die Mutter arbeitet als Kassiererin im „Baumarkt“. Der ältere Bruder findet einen Ausbildungsplatz als Koch. Der jüngere und Ich-Erzähler stromert herum und schließt Freundschaften 

Doch dann bricht diese kleine Idylle in sich zusammen und es endet in nachvollziehbaren Unvermögen, Fehlentscheidungen, Trauer und Tod. 

            „Eine Geschichte aus dieser, unserer Zeit und sie erhellt das Leben der literarisch gern vernachlässigten ‚kleinen‘ oder ‚einfachen Leute‘“, schrieb ich seinerzeit an dieser Stelle. 

            In diesem Jahr hatte ich nun die Gelegenheit Jens Eisel persönlich kennenzulernen. Er ist ein großer, schlanker Mann, wirkt sportlich, gut durchtrainiert. Seit vielen Jahren boxt er und als  „Bevor es hell wird“ erschienen und einigermaßen erfolgreich war,  hatte er den Plan, einen zweiten Roman im Boxmilieu anzusiedeln.

Da gab es schon viel zu lesen: „Fat City“ von Leonard Gardner, der großartige Roman „Calhoun“  (= Rubin „Hurricane“ Carter, über den Boy Dylan einen Song schrieb) von Nelson Algren, die Erzählungen von Jack London und Hemingway, die Essays von Joyce Carol Oates und Jan Philipp Reemtsma, die Reportagen von Bill Cardoso und Wolf Wondratschek, die Gerd Kroske Dokumentation „Der Boxprinz“, der auch auf dem Hamburger Kiez aktiv war.

            Der Plan und die begleitende Lektüre, Thema und Umfeld bestimmen eine zeitlang unser Gespräch. Es gibt Gemeinsamkeiten bei Schule und Ausbildung, bei der Entwicklung zum Autor, seinem Stil, seiner Haltung. Eisels Befürchtung, mit einem Roman über die Licht- und Schattenseiten des professionellen Boxsports in die Schublade „Milieu“ gesteckt zu werden, teile ich. 

            Durch Zufall stößt Jens Eisel dann auf auf eine Zeitungsnotiz über den Amerikaner Dan Cooper. 

Cooper hat auf dem Flug von Portland nach Seattle mit einer simpel gebastelten Bombenattrappe gedroht und 200.000 Dollar plus vier Fallschirme gefordert. Das bekommt er im Austausch mit den 36 Passagiere. Mit drei Piloten und einer Stewardess startet das Flugzeug wieder. Irgendwo im Bundesstaat Washington springt Cooper mit seiner Beute ab und wird nie wieder gesehen.

Das macht ihn bei einem Teil der US-Bevölkerung zum Volkshelden. 

            Jens Eisel entwickelt ein Konzept, erhält von der Hamburger Kulturbehörde ein Reisestipendium und kann einen Monat im Nordwesten der USA recherchieren. Er sucht die Stationen des Geschehens auf, notiert und fotografiert viel. 

Das Ergebnis sind gestochen scharfe Bilder von Motels bis Airport. Atmosphärisch dichte Momente. 

Cooper hat seinen Coup im November 71 durchgezogen. 

Jens Eisel bleibt in diesem Roman nach einer wahren Geschichte bei den damals ermittelten Fakten. 

Allein der minutiös geschilderte Ablauf der Aktion in Eisels an den bereits zitierten amerikanischen Autoren geschulten Schreibe bringt reichlich Spannung. Ergänzt und vertieft durch die Erkundung von Coopers Psyche und seinem Background als Vietnam-Soldat. Hier beweist sich Eisel als empfindsam nachfühlender Autor.  

            Es war so einfach, den Anfang von etwas zu entdecken, aber das Ende zu erkennen war so gut wie unmöglich.

            Dan Cooper war und ist mit den 200.000 Dollar verschwunden. Jens Eisel erinnert an ihn. Mit einem fiktiven aber in sich stimmigen Ende. Mit einem großartigen „True Crime“-Roman.

Frank Göhre – seine Texte bei uns hier.

Sein jüngstes Buch „Verdammte Liebe Amsterdam“ hier im Textauszug. Und hier bei CulturBooks:  CulturBooks Verlag, März 2020. Klappenbroschur. 168 Seiten. 15,00 Euro (D), 15,40 Euro (A). E-Book: 9,99 Euro. 

Frank Göhre & Alf Mayer: Cops in the City. Ed McBain und das 87. Polizeirevier. Ein Report. Mit einem Vorwort von Thomas Wörtche. Digitales Original. CulturBooks Longplayer, Juni 2015. 220 Seiten. 8,99 Euro. Es gibt auch eine Printausgabe.

Frank Göhre & Alf Mayer: King of Cool. Die Elmore-Leonard-Story.CulturBooks Verlag, März 2019. 240 Seiten. 15,00 Euro (D), 15,40 Euro (A). eBook: 9,99 Euro.

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