Geschrieben am 1. März 2020 von für Crimemag, CrimeMag März 2020

Auszug: Frank Göhre – Verdammte Liebe Amsterdam

Eine kalte Morgensonne brach durch die Wolkendecke über dem Betondschungel im Südosten der Grachtenstadt. In den Wohnungen und auf den Fluren der wabenhaft miteinander verbundenen Hochhäuser wurde es noch lauter. Arabische TV-Sender, Afro-Rap, schrilles Zetern, alkoholisiertes Grölen und nerviges Kleinkindergeschrei überlagerten sich. Die Fahrstühle waren pausenlos in Betrieb, vor den Häusern jaulten die Motoren der tiefer gelegten Mittelklassewagen, knatterten die frisierten Mopeds hoch zur Zufahrtsstraße Richtung Zentrum.

Suse erwachte, ihr Handy mit beiden Händen umklammert. Keine Nachricht, noch im- mer keine Nachricht. Sie war enttäuscht. Der Platz neben ihr im Bett war leer. Arif war offenbar schon aufgebrochen, hatte gestern Abend noch von Terminen gesprochen, dringend notwendig gewordene Treffen, Absprachen zu was auch immer. Er redete nicht viel darüber.

Suse sah zur Wand hoch, sah auf das farbige Plakat, den Marktplatz in Marrakesch mit den unzähligen Buden, dem aufsteigenden Rauch, dem Sternenhimmel. Ist meine Heimat, sagte Arif oft, aber in der Heimat keine Arbeit, Holland ist gut, und Amsterdam ist beste Stadt für uns. Suse konnte weder das eine noch das andere beurteilen. Von Marrakesch wusste sie nur, was Arif ihr erzählte, und von Amsterdam hatte sie immer noch nicht viel gesehen.

Nebenan waren Küchengeräusche zu hören, das Klappern hölzerner Löffel, eine auf der Herdplatte gerüttelte Pfanne. Und natürlich der Fernseher, auf dem Al Jazeera lief. Arifs Mutter kochte. Suse kam es vor, als koche sie ständig, von morgens bis spät in die Nacht.

Sie schlug die dünne graue Decke zurück, stand auf und trat an das verhängte Fenster des schmalen Raums, Arifs Zimmer, das sie mit ihm bewohnte. Sie zog das Tuch beiseite und sah hinunter auf die Plastikmöbel vor dem türkischen Imbiss, auf das Suri-Change gegenüber und das sich anschließende Radio- und Fernsehgeschäft, auf den 1-Euro-Laden, den »de leckerste«- Fastfood-Automaten, das Treiben in der Passage, die jetzt stark belebt war, fast ausschließlich von Eingewanderten aus Ghana und dem Kongo, von Afghanen, Iranern und Irakern, Syrern und Marokkanern wie Arif und seine Freunde, wie seine Mutter, und natürlich von den vielen Surinamern, allesamt Bewohner der Hochhäuser mit Klein- und Kleinstwohnungen zum Häuserschacht oder zum Platz hin gelegen, mehrere Blocks.

Suse fröstelte. Sie schlüpfte in ihre Kapuzenjacke und kramte in den herumliegenden Kleidungsstücken nach Zigaretten. Sie fand aber nur eine leere Packung, sie war zusammengeknüllt, Tabakkrümel fielen heraus. Bibbernd ging sie nach nebenan, unter der Jacke nackt bis auf die Unterwäsche, das blonde Haar verklebt und strähnig.

Die Mama drehte sich zu ihr um, der Blick war sorgenvoll. Sie wischte sich die Hände an ihrem dunkelblauen Kittelkleid ab, umarmte Suse behutsam. »Ich habe Suppe gekocht«, sagte sie. »Gute Suppe.«
»Kann ich ein Glas Milch haben?«
»Du bist Familie«, sagte die Mama und ging zum Kühlschrank. »Arif ist froh, dass du nicht mit Mann aus Deutschland zurück bist …«

Arif hockte mit einem halben Dutzend etwa gleichaltriger Jungs im Kassenraum der längst schon geschlossenen Tankstelle an der Abzweigung zu den Blocks. Die Jalousien waren heruntergelassen, an den Wänden stapelte sich originalverpackte Elektronik.   

Draußen an den Zapfsäulen parkte ein altes Ford Coupé, auf dem Rücksitz zwei stark geschminkte Mädchen, rauchend und Kaugummi kauend.  

Arif war ein schmaler, aber kräftiger Neunzehnjähriger mit einem hübschen Gesicht, dunklen, sanft blickenden Augen, einer geraden Nase und vollen Lippen. Sein halblanges tief schwarzes Haar war gelockt, ein Stirnband hielt es zusammen.                                     

Die Jungs tranken Cola und Red Bull, ließen einen Joint kreisen und hörten de Prins zu, ihrem Boss, fett wie Sau und brutal wie ein Killerwal. De Prins sprach von den Einnahmen der letzten Tage, von besonders geglückten Coups, von Wachsamkeit und Schlauheit und all den Tugenden, die Mohammed gepriesen hatte. Dann rief er seine Leute einzeln zu sich und zahlte ihnen ihren Anteil aus. Sie dankten, sie legten die Hand auf die Brust und verbeugten sich leicht, sie klatschen sich gegenseitig ab, sie machten das Victory-Zeichen, und einer nach dem anderen stiefelte hinaus in den kalten, klaren Tag.

De Prins hielt Arif zurück, bot ihm eine Kippe an und klackte sein Zippo auf.
Sie rauchten.
»Du hattest Stress mit der Kleinen«, sagte de Prins. »Du weißt, dass das nicht sein muss.«
»Alles wieder okay.«                                      
»Wir sind Brüder, Brüder im Herzen. Ich bin jederzeit für dich da.«        
Arif wusste, was und wie es gemeint war.
»Du hast meine Bitte akzeptiert«, sagte er.
»So ist es. Wir haben gesprochen und sind übereingekommen. Du erfüllst deinen Teil, ich halte mich an meinen, völlig korrekt. Ich sage nur, du kannst immer noch anders entscheiden. Möge Allah bei dir sein.«
De Prins ließ die gerade erst angerauchte Zigarette zu Boden fallen und drückte sie mit dem Fuß aus. Er trug goldene Nike Air zu einem ballonseidenen Jogginganzug, schwarz mit roten Streifen und mindestens eine Größe zu knapp. Er umarmte Arif, drückte ihn an seinen Wanst und klopfte ihm auf den Rücken.
»Ich muss die beiden Täubchen zur Arbeit fahren«, sagte er. »Du kannst mich begleiten …«

  • Frank Göhre, Verdammte Liebe Amsterdam. Culturbooks Verlag, Hamburg, 158 Seiten, 15 €  Zur Verlagsseite.

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