Geschrieben am 1. August 2021 von für Crimemag, CrimeMag August 2021

Filmkultur hinterm Eisernen Vorhang

Thomas Wörtche über das Buch von Lisa Gotto und Dominik Graf

„Unser Staunen darüber, wie unter politischer Einflussnahme, Zwang und Zensur die klügsten und kraftvollsten Filme der Welt konnten, wie sich Originalität und Komplexität an den Grenzhütern der Regelungsbetriebe vorbeischmuggeln lassen, führt vom Gestern ins Heute. Wenn das gegenwärtige System der Fördergeldbürokratie zu Anpassungsdruck führt, wenn man Frauen vor und hinter der Kamera vermisst, wenn man sich fragt, was unserem Kino heute fehlt – dann sollte man bei der Suche nach Antworten bei den osteuropäischen Filmen anfangen“ Sorry, ich sehe gerade, dass der Verlag dieses Zitat als Klappentext benutzt, aber es trifft die Intention des Buches auf den Punkt. Unter diesen Parametern betrachten die Wiener Filmwissenschaftlerin Lisa Gotto und der Filmemacher Dominik Graf in diversen Essays, Porträts und Rezensionen noch einmal Filme aus dem damaligen Ost-Block: aus der Tschechoslowakei, der UdSSR aus Ungarn und Polen.

Aber was heißt „noch einmal“? Man muss befürchten, dass die meisten der erwähnten Filme hier nur schwer, wenn überhaupt, wahrzunehmen waren. Filme von Judit Elek, Márta Meszarós und Ildikó Enyedi aus Ungarn oder von Vĕra Chytilová aus der ČSSR, um nur wenige Namen zu nennen. Und selbst wenn Filmschaffende wie István Szabo, Andrzej Wajda oder Agnieszka Holland eher bekanntere Namen sind, bedeutet das noch lange nicht, dass sie bei einem nur ein wenig breiteren Publikum präsent sind, und schon gar nicht sind es ihre „frühen“ Filme. Und das ist schade. Könnte man doch, so Gotto und Graf, so vieles lernen, so viel verstehen, was „Kino“ ausmacht, das nicht formatiert und optimiert, aber dennoch mit dem Publikum kommuniziert. Das aber hätten wir aber dringend nötig, im deutschen Film-System, in einer Situation, „die der totalen Branchen-Finanzierung durch eine oder mehrere Zensurbehörde/n entspricht“.

Die Entscheider über die Gelder, so Graf, sind Teil der „Gremienkultur“ und letztendlich „Programmdirektoren“, die von Filmkunst keine Ahnung haben und auch keine Ahnung davon haben wollen, weil sie als Laien ihren ganz eigenen Kriterienkatalog anlegen wollen, der Urteile zu fällen sie befähigt, unbeleckt von jeglicher kinematographischen Bildung. Sie glauben, nur sie sprächen dem Publikum aus der Seele …“ (Das ist ja, denkt man sich, ja fast wie in bestimmten Bereichen des Literaturbetriebs). Immerhin lenken solche Ausbrüche von Graf, der ja in vielem völlig recht hat, nicht allzu sehr von dem Kern des schmalen Büchleins ab – eben der Würdigung des osteuropäischen Filmschaffens.

Ein Regisseur hat es Graf besonders angetan: Zbynĕk Brynych, der nach dem Einmarsch der Russen in der ČSSR nach München emigrierte und dort unter anderem ein paar Episoden für den KOMMISSAR und für DERRICK drehte. Graf bewundert Brynych für seine bizarren Inszenierungen inmitten des ZDF/Ringelmann-Korsetts, in dem Drehbuchautor Herbert Reinecker (gewesener SS-Kriegsberichterstatter) seine bizarre These von „moralischen Kompass“, der der bundesrepublikanischen Wirtschafswundergesellschaft abhandengekommen sei, austobte, in dem er so ziemlich jede Art von „Außenseiter“ (vor allem sexuell autonome Frauen und „Drogensüchtige“) erstmal umbringen ließ, bevor seine Spießercops die Ordnung in Grünwald wieder herstellten. Anyway, Brynych-Episoden waren sofort zu erkennen – schrill, bunt, mit irren Einstellungen, durchgeknallten Kameraschwenks und -fahrten, psychodelischen Effekten, intensivem Soundtrack etc. Brynych-Episoden, und ich erinnere mich sehr genau, ohne sie je wieder gesehen zu haben, was ich vielleicht bei Gelegenheit tun sollte, wenn ich mal Zeit hätte, „passten“ einfach nicht, waren schräg und, letztendlich nervig. Nicht, weil sie die berühmten „Konsumgewohnheiten“ gestört hätten, sondern weil sie mit filmischen Mitteln, die man einem eher „emanzipatorischen“, „progressiven“ oder sonst wie „fortschrittlichen“ Kino zugeordnet hätte, einem stockreaktionären Konzept von „Krimi“ einen „modernen“ Anstrich verpassten, ohne dem ideologischen Beton ästhetische Risse zuzufügen.

Insofern könnte Grafs gebrochene Lanze für Brynych eine immer noch spannende Problematik zu neuer Diskussion bringen, nämlich die über Funktions- und Strukturanalogien und über die Meaning of Structure. In Film und Literatur gleichermaßen.

Lisa Gotto/Dominik Graf: Kino unter Druck. Filmkultur hinter dem Eisernen Vorhang. Alexander Verlag, Berlin 2021. 160 Seiten, 16,90 Euro.

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