Geschrieben am 15. August 2016 von für Crimemag, Kolumnen und Themen

Essay: Michael Friederici: Auf Raymond Chandlers Spuren

Zur richtigen Zeit am falschen Ort
– oder:  Chandler Square ist auch nur eine Kreuzung

Von einem der auszog, um Philip Marlowe zu finden, und Banken nebst einer Baulücke mit Müllcontainern entdeckte

Text und (Handy-)Fotos: Michael Friederici

Sicherheitswarnung!! "Objects in mirror are closer than they appear" - Eingraviert auf dem Rückspiegel an der Beifahrerseite des Leihwagens…

Sicherheitswarnung!! „Objects in mirror are closer than they appear“ – Eingraviert auf dem Rückspiegel an der Beifahrerseite des Leihwagens…

Marlowe ist ein klassischer Alt-Europäer – mitten in Kalifornien: Er liebt Mozart, kennt Proust, Hemingway, Flaubert, er spielt Schach (gegen sich

selbst), trinkt alles, was nicht süß schmeckt und ist –mitten in der Autostadt Los Angeles- „not fussy about cars“. Verständlich, dass Chandler-Fans alte Säcke sind, die eine Maus nicht von einer App unterscheiden können. Sie fachsimpeln allenfalls über die neuesten Rollatorenmodelle, takten verzweifelt „My, my, my, my Generation“ mit dem Gehstock aufs Pflaster und halten Techno ff. für den Stumpftakt der repressiven Entsublimierung. Opa erzählt zwar nicht mehr vom Krieg, dafür davon, dass die Bogarts früher auch schon mal besser waren. Die penetrant notorische Kombination von Altersstarrsinn und Sentimentalität äußert sich obendrein in Form der Verehrung von Philip Marlowe.

B ücher-Durchblick [161985]

Bitte nutzen Sie keine neuen Bücher als Requisiten. Alte aber auch nicht.: Altmodische Apps zum aufstellen, nicht zum herunterladen – in The Last Bookstore, downtown LA.

Die Nacht der lebenden Toten

„Vielleicht können wir nicht mehr miteinander leben,
aber miteinander sterben ist auch keine Lösung.“
 
(George A. Romero, Die Nacht der lebenden Toten)

Andererseits, werte Jugend von heute: Nach eurer „alternativlosen Anpassung an den Markt“ haltet ihr als krische Masse die Rote Fahne mittlerweile für eine Art Gottseibeiuns! Dafür starrt ihr massenhaft in euer ganz persönliches, eigenes und hochindividuelles, in China produziertes I(!!!)-Phone. So macht sich heute jeder -für sich- von euch sein kleines digitales Bildchen vom großen analogen Ganzen und stellt es dann in die „sozialen“ (!!!) Netzweltwerke. – Und ja, es ist wahr, dort findet sich inzwischen viel mehr als das, was sich die SPD-Visionäre Gabriel und Steinmeier je vom „richtigen Leben“ haben vorstellen können. Das war eh nie viel. Und, mal ganz unter uns, selbst ein Dienst wie Twitter lässt uns ewig Gestrige, also die  Rock’n Roll melancholisierenden Silversurfer doch staunend daran teilhaben, wie wenig Buchstaben die wirklich wichtigen Breaking News tatsächlich brauchen: Dörte geht wieder mit Sascha –  Malte wirft gerade einen Mac ein – und – Vivien hat jetzt Bock auf Party, aber sowas von… grins! – Cathy Hummels gibt sicher Schminktipps dazu. Das alles bitte in 5,5″ Multi-Touch Widescreen Display (13,94 cm Diagonale), mit LED Hintergrund-Beleuchtung, IPS Technologie und 1920 x 1080 Pixel bei 401 ppi. – Mit Verlaub und ganz viel Respekt: Sagt mal, tickt ihr noch sauber?

1995 bezeichnete Carters einstiger Sicherheitsberater Zbigniew Brzezinski (das ist derjenige, der die Blaupause für  die derzeitigen US und NATO-Kriegsvorbereitungen gegen Russland lieferte) die Aufgabe der Unterhaltungsindustrie als Tittytainment: Die prognostizierten 80%  arbeitslosen, mithin armen Massen lassen sich mit Titts & Entertainment sedieren . Deshalb ein Wort in eigener Sache – bevor es zu spät ist: Die letzten Tage der Menschheit will ich nicht mit lebend verblödenden Toten verbringen, die mit starrem Blick aufs I-Phone wie Wiederfußgänger durch die Stadt ziehen und blöde grinsend „Sorry“ sagen, wenn sie mal wieder mit der Realität kollidieren, weil sie dafür noch keine App zum herunterladen haben. Wer, bitteschön, will denn die Welt noch in grisseligem Schwarzweiß sehen, so, wie sie ist?

Man muss sich den seriösen Série-Noiristen gerade deshalb als glücklichen Menschen vorstellen. Denn Marlowe „geht“ nur in oder auf Schwarzweiß und – ohne die Errungenschaften und Prothesen des digitalen Zeitalters. Marlowe, „the personification of an attitude, the exaggeration of a possibility“ (Chandler), wirkte schon damals als radikal autonomes Subjekt wie aus der Zeit  gefallen, Vielleicht erscheint er gerade deshalb bis heute wie ein seltsam zeitgemäßes Versprechen. „Als Realist leben kann nur ein Verworfener“, schrieb Max Horkheimer (Notizen).Es ist an der Zeit, sich endlich wieder auf die Spuren dieses Flaneurs unter den Spurenlesern zu machen, vor Ort – in den Passagen Chandlers.

 

Der Weg im Stau ist das Ziel: Blick von der „Akropolis“ des Getty auf die große Freiheit des – Free-Way..

Der Weg im Stau ist das Ziel: Blick von der „Akropolis“ des Getty auf die große Freiheit des – Free-Way..

A Gumshoe in LA

Be good or sin
Don’t go right there
I tried to warn ya
Nothing could be
 
Prettier than this
Walking in Los Angeles
But who does it?
(Kate Micuccis, Walking in Los Angeles)

Die Ermittler (detectives), die sich in der großen Stadt die Füße wund laufen, heißen gumshoes, weil sie ständig in eklig durchgespeicheltes Kaugummi latschten. Bei den Tours durch die Universal oder Warner Studios bekommt man erklärt, wie die perfekte Illusion für Außenaufnahmen geschaffen wird: Selbst der Kaugummi auf dem Bürgersteig ist künstlich. Das ist ganz und gar realistisch. Als jüngst Oscar-Preisträger Ron Howard (61) auf dem auf Hollywoods Walk of Fame seine zweite Sternenplakette enthüllte, brachte er u.a. Michael Keaton mit. Der Schauspieler überreichte dem Regisseur als Geschenk eine Flasche Kaugummi-Entferner, weil auf den Plaketten der viel besuchten Touristenmeile schon mal Dreck und das eine oder andere Kaugummi kleben bleibt… Daran  wird deutlich, dass Gumshoes mehr ist, als ein Wort. Es ist eine ernste Warnung. In Los Angeles zumindest. Denn diese Stadt ist kein Pflaster für Fußgänger. Drive, don’t walk! Public Life in the streets ist so anrüchig wie eine öffentliche Toilette, die konsequenterweise auch nirgendwo zu finden ist. Die Stadt ist ein Drive in, das Leben ein Drive Through – und ein Fußgänger ist allenfalls ein Mensch, der von einem Auto kommt oder zu einem geht… Schon in den guten alten Western-Zeiten hieß ein ehernes Gebote: Ein Mann ohne Pferd ist ein Mann ohne Beine – mithin kein Mensch! Das gilt heutzutage immer noch, auch für Frauen – ohne Pferdestärken. Deshalb widerspricht es besonders in den teuren Vororten allen Regeln und Vorstellungen zu Fuß zu gehen, zumindest ohne offensichtlichen Grund – wie Hund, Katze, Kinderwagen oder Fitness-Look. Bürgersteige, falls überhaupt vorhanden, werden dort wieder zurückgebaut. – In Ray Bradburys Kurzgeschichte The Pedestrian, die in den 50ern entstand, befinden wir uns im Jahre 2052: Inmitten einer einsamen Stadt ist Spazierengehen ein Delikt, das von vollautomatischen Polizeiwagen geahndet wird, eine Art Drohne oder Roboter, wie er gegen Micah J.  eingesetzt worden ist. Micah J. soll die fünf weißen Polizisten in Dallas erschossen haben. Er   „wurde von der Polizei durch einen mit Sprengstoff ausgerüsteten Roboter getötet. Details zu dem ferngesteuerten Roboter nannte die Polizei nicht. Nach Angaben des Waffenexperten Peter Singer handelte es sich um den ersten Robotereinsatz dieser Art durch die US-Polizei. Die US-Streitkräfte im Irak hätten dagegen bereits einen Sprengstoffroboter namens „Marcbot“ eingesetzt. Unklar ist, ob der in Dallas verwendete Roboter von vornherein für tödliche Einsätze dieser Art entworfen wurde. Matt Blaze, ein Informatikprofessor an der University of Pennsylvania, schrieb im Internetdienst Twitter, wahrscheinlich sei der Roboter „provisorisch“ für die Tötung des mutmaßlichen Attentäters ausgerüstet worden.“ (Spiegelonline – http://www.spiegel.de/panorama/justiz/dallas-was-ist-geschehen-und-was-wissen-wir-ueber-den-taeter-a-1102187.html) 

 

Banken zu Buchhandlungen!

California, the department-store state.
The most of everything and the best of nothing.
Here we go again
.”
(Raymond ChandlerThe Little Sister)
The Last Bookstore: Eine Buchhandlung, die es nicht geben dürfte, jedenfalls nicht in Los Angeles.

The Last Bookstore: Eine Buchhandlung, die es nicht geben dürfte, jedenfalls nicht in Los Angeles.

Thomas Crown war nie zu fassen. Marlowe ist immer noch zu finden. Zumindest in jeder gut sortierten Buchhandlung. Und wider Erwarten existiert noch eine in Los Angeles. Die letzte! The Last Bookstore (453 S Spring St.). Als überzeugter Alt-Europäer hatte ich von Los Angeles auch nichts anderes erwartet, zumindest nicht Downtown. – Der Name ist natürlich nicht Ausdruck des erwarteten abendländischen Untergangs, sondern einfach gut gewählt. Fakt ist: Es gibt einige ausgesprochen lohnenswerte Buchhandlungen in LA. Aber The Last Bookstore ist eine Buch-Kathedrale, die es eigentlich nicht geben dürfte! Jedenfalls nicht in Amerika! Nicht in Los Angeles. Nicht Downtown. Nicht aufgemacht von einem Seiteneinsteiger, der vorher, typisch Ami, alles verhökert hat, von Autos bis Textilien. In den Regalen gibt es keine Diskriminierung der Alten; gebrauchte und antiquarische Bücher stehen neben neuen; es ist dunkel, borgeistisch labyrinthisch, selbst-ironisch, spielerisch – auch im ersten Stock; es gibt Durchblicke, Einblicke, einladende alte Sitzgelegenheiten und keines dieser I-Phone-Generation-Smarties süßelt einen dauergrinsend an, ob man helfen könne  und – „Have a nice day“… (das  deutsche Mode-Pendant „Schönen Tag noch“ gehört nicht zufällig  zum festen Bestandteil des Rituals an der Einkaufskasse, wenn die Seele aus dem Fegefeuer springt…). Nichts von alledem im Last Bookstore. Das war zutiefst verstörend!  Zumal, man muss sich das mal vorstellen: Diese Buchhandlung ist noch dazu in einer ehemaligen Bank untergebracht. Die riesige Schalterhalle mit den Ausmaßen eines Kirchenschiffes ist statt mit Kohle mit Büchern zugestellt. Geld hat schließlich weniger mit Materialismus zu tun, als vielmehr mit dem Glauben an eine  Abstraktion, die der theologischen in nichts nachsteht. Der Tresor, bei dem die sicherlich mehr als ein Meter dicke Stahltür immer offen steht und die Sicherheitsversprechungen von einst dokumentiert,  ist begehbar und – ein Bücherlager. Ja, hier ist sogar in einer Abteilung der Fußboden mit Cent-Stücken „gepflastert“, eine trittfeste und zugleich   währungsschwankungstechnisch stabile Alternative! Kurzum: Im ehemaligen Tempel des allmächtigen Mammon kann man

Eine Grundlage des modernen Geistes, auf der sich zumindest gut gehen lässt…: Passender Fußbodenbelag aus Kupfergeld in einer Bank, die jetzt ein Buchladen ist. The Last Bookstore

Eine Grundlage des modernen Geistes, auf der sich zumindest gut gehen lässt…: Passender Fußbodenbelag aus Kupfergeld in einer Bank, die jetzt ein Buchladen ist. The Last Bookstore

sogar die herrschende Abstraktion, das Geld, endlich einmal mit Füßen treten! Walking in LA bekommt so einen neuen, viel tieferen Sinn. Deutet sich hier etwa, mitten im Moloch des Kapitalismus, eine wahrhaftige, real existierende Alternative an? Geld zu Bodendeckern?  Schwerter zu Pflugscharen, Banken zu Buchhandlungen? Auferstehung der Buchkultur aus den Ruinen des Bankensterbens? Das wäre doch ein Zukunftsmodell für kreative Buchhaltung! Vor allem aber: Gegen diese Form der Bankenrettung gäbe es wenig Widerstand..!

Da diese Idee aus Los Angeles stammt, der Potenzierung all dessen, was Amerika für unsereins (natürlich voll und ganz vorurteilsfrei) bedeutet, machte sich prompt Mutlosigkeit breit. Zumal sich genau an diesem verwirrenden Ort ein ganz besonderes, ein altes, abgegriffenes, offensichtlich unhygienisch, unökologisch, wohl noch aus Käfighaltung  gerettetes  Buch ungeniert an mich heranmachte: Raymond Chandler’s Philip Marlowe, A Centennial Celebration. Natürlich glaube ich nicht an diesen Spökenkiekerzirkus. Aber warum, bitte, gerade hier? Warum schlug ich sofort die Seite mit dem eindeutigen Hinweis auf: „Marlowe’s Office 615, Cahuenga Boulevard“? Kann mir das bitte  mal jemand glaubwürdig verklären?

Marlowe lebte und überlebt – in einer Bank!

 “Take this down. My name is Philip Marlowe.
My address is
 615 Cahuenga Building, Hollywood.
That’s on Hollywood Boulevard near Ivar.
My phone number is Glenview 7537.”
I spelled the hard ones and waited. “
Yes, Meester Marlowe. I ‘ave that.”
 
(Raymond Chandler, Farewell, my Lovely)

Wirkliche Kenner erinnern natürlich sofort, dass Raymond Chandler das fiktive Büro der fiktiven Fiction-Figur Philip Marlowe, dem „man with no home“, ins „Cahuenga Building“ gelegt hat. Die „Raymond Chandler Map of Los Angeles“ fand ich erst später. Mitte der 30er lag das eigentümlich abstoßende Office im sog. Condor Building, 1936 zog er dann um,  in  die 7. Etage des Cahuenga Building, drei Jahre später endlich(Farewell, My Lovely) in den  6. Stock, Suite 615; am Hollywood Boulevard, Nähe Ivar Street, hinter einer schäbigen Tür mit Riffelglas . 1953 scheint er von der 6 in die 5 umgezogen, ist aber letztendlich wumpe. Interessant scheint, warum es immer zwischen dem 5. Und 7. Stock lag; aber das sollen Numerologen ergründen: „Ich hatte anderthalb Zimmer im sechsten Stock nach hinten. Das halbe Zimmer war ein abgeteiltes Büro, so daß das zwei Empfangsräume ergabt. Mein Name stand an der Tür des Empfangsraumes, sonst nichts. Diese Tür schloß ich nie ab, für den Fall, daß ein Klient kam und dieser Klient vielleicht Platz nehmen und warten wollte…“ Das zählt!

Für Orientierungslose gibt es heute Autopiloten. Aber wohin führen die uns, die Auto-Piloten?

Für Orientierungslose gibt es heute Autopiloten. Aber wohin führen die uns, die Auto-Piloten?

Das Cahuenga Building hat es nie gegeben. All das allerdings, was Chandler darüber schreibt, traf auf einen singulären, nicht uninteressant wirkenden Klotz an der Ecke Hollywood Blvd./Cahuenga Blvd. zu, ein markantes sechsstöckiges Bürogebäude. Buster Keaton und Charlie Chaplin drehten u.a. hier… Jahrzehntelang diente dieses Haus als Heimstatt für Bankster, vor 50 Jahren fand hier sogar mal ein kleinerer Bankraub statt. Bond’s Department Store nutzte damals die oberen Stockwerke, um Männer ordentlich zu kleiden. Textilien also auch hier… – Zwei eigentümliche Brandstiftungen in den 70ern sorgten für den endgültigen Niedergang. Jetzt hat der Klotz seine besten Zeiten hinter sich. Irgendwann   wollte ein Investor ein 180-Zimmer-Boutique-Hotel mit einem Pool auf dem Dach daraus machen, eine Diskothek sollte im alten Banktresor entstehen … – Jedenfalls keine Buchhandlung …

Abgesehen von den möglichen optischen Affinitäten: Die Benamsung schafft Raum für weitergehende Assoziationen! Cahuenga, das war der historische Kern Hollywoods. Darauf verweist der Straßenname. Einerseits. Andererseits sollte dort damals, Anfang der 1920er Jahre, eine vornehme Wohnsiedlung von Los Angeles entstehen. Der Entwickler, der Herausgeber der Los Angeles Times, hieß – Harry Chandler – nicht verwandt und nicht verschwägert, nur  zufällig namensgleich … Harry Chandler ließ die berühmten Buchstaben (damals noch Hollywoodland) auf dem 580 Meter hohen Cahuenga Peak installieren, um Käufer für das Areal anzulocken. Der monumentale Werbegag entwickelte sich zur „heiligen Schrift“, zum Emblem Hollywoods. – 1940 soll Howard Hughes, diese Inkarnation des erfolgreichen Amerikaners, Flugpionier, Milliardär, Filmmagnat (u.a. RKO), Paranoiker, Hypochonder mit Bazillen- und Kommunistenwahn – und vieles mehr, das Land rings um das Denkmal Harry Chandler abgekauft haben. Hughes wollte dort, einigermaßen hoch über Los Angeles, für sich und die Schauspielerin Ginger Rogers ein Schloss bauen. Das ist Hollywood, das ist Amerika pur. – 1940 erschien Raymond Chandlers „Farewell My Lovely“ mit dem so präzisen Hinweis auf das „Cahuenga Building“. Vielleicht liegt ja hier ein weiterer Schlüssel für den Zugang zu Chandlers Besc hreibung des „amerikanischen Hauses“, des Cahuenga Building?! – Der offizielle Zugang zum vermeintlich realen Vorbild der Fiktion befindet sich heute 6385 Hollywood Boulevard, Ecke Cahuenga Blvd. –  Am 5. August 1994 benannte die Stadt Los Angeles diese Kreuzung offiziell als „Raymond Chandler Square“. Ein Platz ist es nicht, eine Kreuzung, an der die Ampeln den Verkehr regeln. Wahr ist auch, dass vielen Eingeborenen die Bedeutung des Namensgebers überhaupt nicht bewusst ist, nicht einmal denjenigen, die im selben Gebäude ein paar Dollars mehr machen. 2012 schrieb jemand der LA Times, dass er sein Office im ehemaligen Büro Marlowes bezogen habe. Derzeit steht das Erdgeschoß leer. Obdachlose leben vor, einige auch im Gebäude – als lebender Ausdruck des Bankenwesens, so zuschreiben. Zu Chandlers Zeiten war dort die Security Pacific Bank zuhause. Einer der letzten Unbestechlichen hatte sein Büro über einer Bank, also über der Institution die dokumentiert, das alles und jeder seinen Preis hat.

Ich hätte ahnen können, dass es kein Zufall ist, dass Marlowe in einer ehemaligen Bank weiterlebt, downtown. Ich bin dem Hinweis einer Jubiläumsschrift gefolgt, die mit Chandlers Tod noch einmal die schnelle Kohle machen wollte, der Realfiktion Geld, nicht der fiktionalen Realität Chandlers.

Marlowe lebt hier nicht

„Wir sehen uns später.“
„Danke für die Warnung.“
(Martin Scorsese, Alice lebt hier nicht mehr)

Walter ist gefahren. Er hat einen Führerschein. Ich kann einen Autopiloten bedienen. Manchmal. Diesmal klappte es. Die Nachbarschaft an der gesuchten Adresse besteht aus typischen Vorort-Einfamilienhäusern mit Latino-gepflegten Vorgärten, in denen Armed-Response-Schilder etwaige Fußgänger freundlich darauf hinweisen, was passiert, wenn sie nicht gefälligst weitergehen. Es gab dort noch Bürgersteige, aber keine Haus-Nummer 615. Das Nichts füllte eine Baulücke mit Müllcontainern und Wohlstandsabfall. Nebenan stand ein Porsche vor der Garage Es war gegen 19 Uhr Ortszeit. Die Straße war, wie es sich für LA gehört, menschenleer. Von Marlowe keine Spur. Und dann kam diese Frau aus dem Porsche-Haus, keine Marlowe-Blondine, eher der Typ Vorstadtweiber mit SUV. In diesem Fall  mit Abfalltüte, was ja irgendwie ähnlich ist. Sie wirkte nervös. Sie hatte uns offenbar schon die ganze Zeit beobachtet: Was wir hier vorhätten. Der Platz, an dem wir parkten, müsse frei bleib en. Wir sollten gefälligst weiterfahren … sonst … – Ich habe versucht der Amerikanerin auf Englisch zu erklären, dass wir eigens aus dem alten Europa hergefahren seien, dass Philip Marlowe hier gewohnt haben müsse, ob sie davon wisse … – Sie wusste von nichts. –

Folgte der Auftritt ihres Mannes: Er kam aufrecht aus der Tür, wie einer der mehr wissen will, und tatsächlich zuerst fragt. Untypisch für einen Porsche-Fahrer, dachte ich – und: Gut, dass ich scharf rasiert war. Aber ich konnte ihm auch nicht mehr sagen. Leider. Er konnte. Er kannte sich aus. Er sagte, dass wir zum Chandler Square fahren müssten …

Die Frau wirkte danach noch immer nicht angstfreier. Wir müssten jetzt aber weg. Diesmal begründet: Die Müllabfuhr sei unterwegs …  – Wir haben uns höflich für die Informationen bedankt und sind dann abgefahren, in die untergehende Sonne. Wirklich wahr. Zur Kreuzung Cahuenga/Hollywood Blvd. sind wir nicht mehr gekommen. Das machen wir beim nächsten Mal. Dann besuchen wir auch den Friedhof von San Diego.  Da liegen Raymond und Cissy seit einigen Jahren – endlich – zusammen. – Bis dahin kann ich dann hoffentlich auch die Zeichen lesen und ein Smartphone bedienen … Kann mir jetzt bitte mal jemand von den jungen Leuten über die Straße helfen? Ihr habt doch ein I-Phone und könnt mir sagen, wo es lang geht …?!       

Michael Friederici      

Tags : , , ,