Geschrieben am 1. März 2023 von für Crimemag, CrimeMag März 2023

Elegant, gnadenlos – Günther Grosser liest Megan Abbott

Das Tanzen traf es am Härtesten. Als das Bürgertum im Zuge seiner Machtübernahme vor ein paar hundert Jahren auch die Künste gemäß ihren Vorstellungen und Ideologien auf Leistung, Individualismus und Erfolg ausrichtete, erwischte es die darstellenden Künste besonders hart. Ihnen wurde das Spielerische, Improvisatorische, das Leichte ausgetrieben, Zirkus, Puppentheater oder Pantomime und die Musik, die dazugehört,  wurden mit all ihrem Können und dem ganzen Spaß ins Abseits der bloßen Unterhaltung und des billigen Tingeltangel abgeschoben, Sprechtheater, Oper, Symphonieorchester und Ballett hingegen als Hochkultur etabliert und großzügig finanziert, allerdings dabei auch mit den entsprechenden Anforderungen befrachtet: Leistung, Virtuosität, strenge Hierarchien. Den Tanz erwischte es dabei am Härtesten, nichts blieb vom Spaß der Tanzböden übrig, und Höhenflüge im Ballett waren nur auf einem einzigen Weg zu einreichen – durch Zurichtung der Körper. 

Ganz unten, im Kindesalter fängt es bereits an, und Megan Abbott singt in ihrem brillanten Ballett-Cum-Crime-Roman „Aus der Balance“ das Lied vom Weg durch die Torturen. Obwohl es am Anfang in der Tanzschule von Dara, Marie und Charlie in irgendeiner Stadt an der US-amerikanischen Ostküste so gar nicht nach Crime, eher nach Leidenschaft, nach Ausbruch, vielleicht nach einem kleinen Familienzerwürfnis aussieht. Denn wenn die kleinen Mädchen sich unten im Saal B die Tutus zurechtzupfen und zitternd auf die Proben zum Nussknacker warten, reißt Marie oben dem Bauunternehmer, der den anderen Saal  repariert, die Kleider vom Leib und wartet auf die Erfüllung. Dann allerdings frisst sich die Säure der Intrigen, der Gier und des Misstrauens langsam durch die Körper und die Seelen. Am Ende? Ganz am Ende wächst wie immer das Neue aus den rauchenden Ruinen des Alten. Vorher aber rauschen die Gefühle von Liebe zu Hass und zurück. All das während man monatelang mit den Kleinen die alljährlich so schmerzlich herbeigesehnte Nussknacker-Aufführung probt. 

Megan Abbott (52), ewiger Geheimtipp aus Detroit, hantiert in ihren bislang zehn Romanen mit den üblichen US-amerikanischen Genre-Themen Geld, Familie, Ambitionen und schlägt Funken aus den Gegenstücken Gier, Neid, Rivalität. Allerdings dreht sie die Geschlechterverhältnisse um – Nebenfiguren sind hier die Männer, und kampfbereit stehen sich die Frauen gegenüber: unzertrennliche Freundinnen, eifersüchtige Schwestern, ambitionierte Cheerleader, knallharte Ballettmäuschen. „There´s something dangerous about the boredom of teenage girls“, heißt es im Cheerleader-Nightmare „Dare Me“, und diese gefährliche Langeweile ist häufig der Kampfplatz in Abbotts Romanen. Vor zehn Jahren hatte der Kiepenheuer und Witsch-Verlag sie für den deutschsprachigen Markt mit einer einzigen Übersetzung – „Das Ende der Unschuld“ – „entdeckt“ und dann wieder fallen gelassen; jetzt hat Pulpmaster Frank Nowatzki beherzt zugegriffen und „The Turnout“ (2021) übersetzen lassen; folgen wird später im Jahr noch „Dare Me“ (2012). 

Man kann ihm nur gratulieren, denn allein schon „Aus der Balance“ ist ein Meisterstück, ein elegant geführter und gnadenlos exerzierter Tanz der Motive, der manipulativen Dramaturgie und verhängnisvollen Bezüge. Hier die Zurichtung der Körper, die Kinder, die sich in ihr Glück hineinquälen, enge Schläppchen, gerissene Tutus, immer wieder Tränen, dort, bei den Lehrern, die späten Resultate, „die schlimmen Füße, verdrillten rohen Fleischlappen“, die ruinierten Knochen, Wirbel, die ewigen Salben und Tabletten. Hier die Lust und Obsession bei Marie, der unansehnliche, manipulative, verführerische Bauunternehmer, der Prolet mit seinem Hammer, der alles abreißt und alle ins Bett holt; dort die Sorge, das Misstrauen, schließlich das blanke Entsetzen bei Dara (aus deren Perspektive alles erzählt wird). Hier die wachsende, sich entwickelnde Inszenierung des Nusskackers mit all seinen Anspielungen auf die ersten Zeichen erotischen Interesses; dort der Zerfall, die Zerstörung der familiären Beziehungen – und auch gleich des halben Gebäudes – durch Sex und Gier. Hier die schmutzigen Intrigen der Konkurrentinnen um die Hauptrolle im Nussknacker (Rasierklingen in den Tanzschuhen, tote Ratten im Umzugsspind); dort die subtilen Manipulationsmechanismen der Erwachsenen.

Immer hat Abbott souverän die Sprache zur Hand, mit der sie uns durch dieses ewig Dräuende, Lauernde, Besessene der Körper und der Seelen zieht. Und so nutzt sie auch das Motivrepertoire der Gothic- und der Noir-Tradition, um alles aufzuladen mit Schicksal und Unausweichlichem, denn letztendlich hatte es die Familie – die Mutter ein ehemaliger Ballettstar, der Vater ein Säufer – immer schon in sich, alles Wehrhafte, Widerständige und sich Sträubende schaffte es nie bis in die Freiheit, höchstens auf den Dachboden, um dann zurückgeholt und eingebunden zu werden. Jetzt gibt es nur noch die Schmerzen und das ewige Kreiseln der Pirouetten oder den Tod. 

Bis dann nach 350 Seiten „sich etwas Vages in Daras Hinterkopf nach und nach lauter zu Wort meldet“, plötzlich das verrückt sich drehende Karussell anhält, alle verwundert die Köpfe schütteln und mit Entsetzen die allerletzte Schraubendrehung zur Kenntnis nehmen: Alle wurden hier manipuliert, wir Leser auch. Dann springt die kleine Klara auf die Bühne, die Schmerzen, die Zurichtung, die Erniedrigungen: Alles vergessen, und der Nussknacker beginnt, wie immer, und wie jedes Jahr. Und dieses Jahr hat mit Megan Abbotts „Aus der Balance“ mehr als sehr gut angefangen.

Günther Grosser seine Texte bei uns hier

Megan Abbott: Aus der Balance Deutsch von Karen Gerwig und Angelika Müller. Pulp Master, Berlin 2023. 416 Seiten, 16 Euro.

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