Geschrieben am 16. September 2018 von für Crimemag, CrimeMag September 2018

Colin Harrison: Die Zügellosen

harrison 978-3-426-30633-8_DruckImmer Ärger mit Jenny  

Der New Yorker Anwalt Paul Reeves will eigentlich nur seine exorbitante Sammlung alter Landkarten vervollständigen. Doch die  attraktive  Nachbarin Jennifer und ihr plötzlich aufgetauchter ehemaliger Liebhaber aus Texas sorgen mit ihrer wiederbelebten heißen Affäre für paranoide Exzesse und Racheakte ihres Ehemannes Ahmed, einem einflußreichen Spezialisten für globale Investment-Projekte. Colin Harrison kombiniert im Thriller „Die Zügellosen“ Exkurse in die Welt der Auktionen und Sammler mit mörderischen Verfolgungsjagden und ironisch aufgeblasenen Prä-Kopulations-Dialogen. – Von Peter Münder.

Wir haben es hier zwar mit einem aktuellen US-Thriller zu tun, aber die Frage muss 200 Jahre nach Goethe dennoch  gestellt werden, weil sie sowohl den Autor Harrison als auch seine Hauptfigur, den Anwalt für Einwanderungsrecht Paul Reeves umtreibt: Sind Sammler wirklich glückliche Menschen? Paul erleben wir schon in der Eingangsszene bei einer Christie’s-Auktion, wo er für eine 150 Jahre alte New Yorker Landkarte bietet und seiner betörenden Nachbarin Jenny das Procedere bei einer solchen Auktion erklärt. Und mit seinen Kommentaren zur eigenen Sammlerwut auch klarstellt, dass sich dahinter auch geradezu militanter Kampfgeist und ein gewaltiger Besitzanspruch verbirgt. In diesen Auktionsbesuch platzt der aus Texas stammende Soldat Bill Wilkerson-Jennys Liebhaber aus früheren, prekären Zeiten – den sie  stürmisch umarmt und mit dem sie dann in die Kiste springt – woraus sich alle möglichen gefährlichen „Fatal Attraction“-Komplikationen ergeben.

Und noch eine Anmerkung zum Sammlerglück: Schon der  sammelwütige Goethe hatte ja  behauptet, dass Sammler glückliche Menschen wären. Er erwarb allein im Jahr  1817 für 200 Reichsthaler Limoges-Porzellan und Majolike; seine Kunstsammlung enthielt laut Nachlass-Katalog von Christian Schuchardt 26.000 Objekte. Goethe bezeichnete die Sammel-Leidenschaft zwar auch als „eine Art Thorheit“, doch die wollte er  weiterhin exzessiv auskosten und genießen.

You belong to me

Aber zurück zu den „Zügellosen“: Jenny  muss sich zwischen zwei Männern entscheiden, ihrem millionenschweren Harvard-Überflieger- Ehemann Ahmed und dem blauäugigen Elite-Soldaten Wilkerson im sandfarbenen Tarnanzug, der sie einfach in seinen  Pickup laden und mit ihr ins gelobte Texas zum einfachen, aber rosigen Neuanfang auf seiner Ranch fahren will. Zwischen Ahmeds Lifestyle of The Rich and Famous und wahrer Liebe zum einfachen Soldaten ist sie hin- und hergerissen und weiss einfach nicht weiter. Und weil der hilfsbereite Paul Jennys betrunkenem Liebhaber Unterschlupf gewährt, wird Paul in diese Geschichte hineingezogen, die von Ahmeds iranischstämmigem Familienclan mit paranoiden Bewachern brutal durchgezogen wird – auf Wilkerson werden sogar Auftrags-Killer angesetzt.

harrison51wINB7T8JL._SX268_BO1,204,203,200_harriuson 517bHmPByQL._SX327_BO1,204,203,200_„You belong to me“ lautet der Originaltitel; der ist eigentlich für jede Figur das Leitmotiv: Wilkerson reklamiert für sich die längst mit Ahmed verheiratete Jenny, die lieber ihren luxuriösen Gucci-Trip auskosten will, Ahmed lässt „seine“ aufsehenerregende Schönheit Jenny rund um die Uhr bewachen, damit sie ihm nicht entwischen kann und Pauls Geliebte Rachel, die von ihm unbedingt ein Kind haben will, erhebt auch Anspruch auf ihn – obwohl er schon zwei Ehen und diverse Affären hinter sich hat. Und für Paul haben natürlich die Landkarten einen viel höheren Stellenwert als das Plappermaul Rachel, das immer neue Geschichten – sogar während  ihrer Hochleistungs-Sex-Übungen – über Pauls Verflossenen hören will.      

Frappierend und begeisternd ist es, wie locker und überzeugend Harrison die Verzahnung dieser mörderischen Jagd auf den nichtsahnenden Geliebten Jennys mit Pauls Spekulationen über die Sammlerwut verbindet. Eigentlich läuft alles auf eine subtile Art von Powerplay hinaus, dämmert es Paul: Denn er will ja alle (!!!) New Yorker Landkarten besitzen und eine beinah göttliche Macht auskosten. Niemand soll ihm bei seinem Sammeleifer in die Quere kommen! Ähnlich besitzergreifend war er auch immer gegenüber Frauen gewesen, grübelt Paul, und bei juristischen Schlachten vor Gericht verhielt er sich mit ähnlich überwältigender Dominanz. Das sublime Einblenden des N-Faktors, der hier als nostalgische Rückblende mit scharfem analytischen Filter funktioniert, ist in diesen Zeiten der Glorifizierung von allem, was irgendwie digital anmutet, absolut überzeugend: Die  seltenen alten Landkarten von Manhattan sind auch eine Art Kampfansage an GPS-Maps, deren flüchtige Dots nicht greifbar sind und auch keine Hinweise auf Buden, Läden, Irrenhäuser, Bordelle oder Schulen vor 200 Jahren liefern. Wenn Paul begeistert registriert, dass  auf seiner ersteigerten Valentines-Karte von Manhattan noch Obstgärten eingezeichnet sind und sich auch der handschriftliche Vermerk befindet „Route von Mr. Charles Dickens aus England bei seinem ersten Besuch in den Vereinigten Staaten 1842“, dann spürt der Sammler eben auch, dass mit dieser Karte  ein papiernes Symbol aus einer vergangenen Epoche festgehalten und ein Stück Lebensqualität gewonnen wird. Nostalgischer Rückblick, psychologische Betrachtungen, auch die Vergleiche von Football-Positionen mit den Funktionen in einer Anwaltskanzlei (ein knallharter Football-Verteidiger ist meistens auch ein guter Anwalt!) – das alles wird von Harrison lässig-brillant und plausibel entwickelt.

harrison 9780747598459Komm schon, tränke mich mit deinem Alpha-Sperma!

Der ehemalige Harpers-Redakteur  und Scribner-Lektor Harrison, 58,  ist ja bekennender Chandler-Verehrer und Manhattan-Fan. In „Manhattan Nocturne“ beschrieb er 1996 den Alltag des mit Mord, Klatsch, Drogensüchtigen, Intrigen und Politiker-Egomanie konfrontierten New Yorker  Boulevardjournalisten Porter Wren; er demonstrierte mit lässiger Dynamik, wie man die Ambivalenz des  Eindeutigen in diesem chaotischen Mikrokosmos freilegen und beschreiben kann. Spätestens seit „Der Moloch“ (2008) gehört er zu den ganz großen Sozialkartographen von New York City, konstatierte damals Thomas Wörtche. (Seine „Zügellosen“-Besprechung hier.) 

Harrison nimmt den Leser jedenfalls ernst und versucht nicht, mit pyrotechnischen  Budenzauber-Effekten zu beeindrucken. Auch wenn seine Vorliebe für groteske rhetorische Pirouetten gelegentlich an Tom Wolfes „Bonfire of the Vanities“ erinnert.

Als Rachel  ihren Eisprung hat und  glaubt, das anvisierte  Abenteuer Schwangerschaft  endlich erfolgreich durchziehen zu können, heißt es: „Heute war die perfekte Nacht, das Ei schrie geradezu: Komm schon, tränke mich mit deinem Alpha-Sperma! Sie würde den guten alten Mr. Paul ihren charmanten, geistesabwesenden Freund, dazu bringen, sie heute Nacht zu schwängern… Er würde eine Schippe drauflegen und sie heiraten, da war sie sich sicher.“   

Von wegen charmant und geistesabwesend: Wie der gute alte Paul sich schließlich als mit harten Bandagen kämpfender Tough Guy durchsetzt und sich im Duell mit Ahmed, diesem hypertrophen „Master of the Universe“ behauptet, darin zeigt sich Harrisons  große, originelle  Erzählkunst. Eine muntere „Go with the Flow“-Technik verwirbelt dieser Sprachartist mit dem analytischen Blick für historische Hintergründe und aktuelle Prozesse einer überhitzten  Digitalisierungswelle locker und scharfsinnig zu einem spannenden Thriller der Extraklasse.       

Peter Münder

Colin Harrison: Die Zügellosen (You belong to me, 2017). Aus dem Amerikanischen von Anke & Eberhard Kreutzer. Droemer Knaur, München 2018. Klappenbroschur, 415 Seiten, 14,99 Euro.

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