
Bruch im Biographieren
Ein Leseheft über die polnische Auschwitz- und Buchenwald-Überlebende Alina Dąbrowska, erstellt von Studierenden aus Jena und Warschau, wird zum Zeugnis des Verlusts von kommunikativem Gedächtnis. Umso wichtiger ist, dass und wie diese Broschüre gelesen wird.
‚Sto lat, sto lat – niech żyje, żyje nam‘, singt man in Polen zum Geburtstag: Hundert Jahre alt mögest du werden.
Alina Dąbrowska, geborene Bartoszek, Widerstandskämpferin aus Pabienice bei Łódż, der nach ihrer Verhaftung und Deportation nach Auschwitz die Häftlingsnummer 44165 eintätowiert wurde und die Birkenau ebenso wie die Todesmärsche in Außenlager der KZs Ravensbrück und Buchenwald überlebte, wäre am 23. April 2023 einhundert Jahre alt geworden.
Knapp zwei Jahre zuvor verstarb sie: 76 Jahre nach 1945, als alliierte Truppen die meisten nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslager erreichten.
Es ist also noch ein junges Twen-Leben bis zum einhundertsten Jahrestag der Befreiung dieser Lager.
Der Zeitpunkt ihres Todes, der 23. August 2021, kam über lange Jahre (es klingt notwendigerweise perfide) spät. Die Nazis hatten Alina Dąbrowska am 6. Mai 1943, als sie aus dem Gestapo-Gefängnis in Łódż nach Auschwitz gelangte, ausersehen zum Tod durch entweder Gas oder, wenn sie bei der Selektion an der Rampe in Birkenau auf die andere Seite gewinkt wurde, den durch Arbeit. Sie überstand beides und überlebte.
Ihre Erinnerungen an diese Zeit begann sie ein halbes Jahrhundert später zu teilen. Mitte der 1990er Jahre fing an, ihr Erlebtes anderen als ihren engsten Angehörigen – ihrem Mann, den sie 1957 heiratete, und ihren zwei Töchtern – zu erzählen:
„Erst fünfzig Jahre nach ihrer Befreiung kehrte sie das erste Mal nach Auschwitz zurück. Nach einer langen Zeit des Schweigens überkamen sie bei der Rückkehr ihre Gefühle. So entschied sich die Überlebende, Anderen von ihren Erfahrungen zu berichten. Über zwanzig Jahre lang nahm sie in Zusammenarbeit mit verschiedenen Initiativen als ehrenamtliche Zeitzeugin an Treffen mit Jugendlichen teil“.
So steht es in einem Leseheft, das die Gedenkstätte Buchenwald zusammen mit Ewa Krauß von der Universität Jena und Agnieszka Dickel (Universität Warschau) und ihren Studierenden soeben herausgegeben hat, zusammen mit Jan Malecha.
Diese Broschüre, die Aufmerksamkeit verdient wegen ihrer klugen Anlage, der sorgfältigen Recherche, den aus dem Polnischen übersetzten Passagen aus Dąbrowskas Memoiren Wiem, jag wygląda piekło und den 2021, mitten in der Pandemie mit ihr per Zoom geführten Interviews, ist per se ein Zeugnis.
Alina. Ein biographisches Leseheft, so der Titel, dokumentiert einen Bruch im Biographieren, was als solcher, als ‚Bruch‘, den in der Biographie von Alina Dąbrowska nach ihrer Verhaftung dupliziert. Kurz vor Erreichen ihres einhundertsten Geburtstags verstummte mit ihrer eine weitere Stimme des kommunikativen Gedächtnisses an die NS-Konzentrationslager und den Holocaust.
Diesen Bruch mitzulesen, ist Appell an und Aufgabe für die Leser:in, damit einhundert Jahre nach Alina Dąbrowskas Geburt (an) zweierlei gedacht wird: dem in den Lagern geschehenen Vergangenen, und an dessen Zukunft.
Ewa Krauß & Agnieszka Dickel (Projektverantwortliche) / Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora (Hg.): Alina – Ein biographisches Leseheft. Weimar, Buchenwald 2022. Verfügbar auch als digitale Version: ewa.krauss@uni-jena.de.

Bruno Arich-Gerz beschäftigt sich seit einem Dutzend Jahren unter anderem mit den Kulturen, Literaturen und Sprachen Namibias. Er war DAAD-Kurzzeitdozent an der University of Zimbabwe in Harare und sitzt im Advisory Board des Journal of Namibian Studies. History – Politics – Culture (JNS). Seit 2012 schreibt er für CulturMag. Sein Jahresrückblick 2022 hier.