Geschrieben am 1. Oktober 2020 von für Crimemag, CrimeMag Oktober 2020

Bloody Chops Oktober 2020

Kurzbesprechungen von fiction – Joachim Feldmann (JF), Sonja Hartl (SH), Alf Mayer (AM) und Ingrid Mylo (io) über:

Leonard Bell: Der Petticoat-Mörder
Steph Cha: Brandsätze
Sam Hawken: Vermisst
Sven Heuchert: Alte Erde
Harald Keller: Tod auf dem Zauberberg
Jan-Christoph Nüse: Vier Tage im Juni
Karin Schneuwly: Wein und Zeit
Sjòn: CoDex 1962
Axel Simon: Eisenblut

Die Wirkungen der Gewalt

(SH) Vielen ist der Name Rodney King bekannt. Als die vier Polizisten, die ihn verprügelt haben, von einem Gericht freigesprochen wurden, sorgte dieses Urteil 1992 für tagelangen gewaltvolle Unruhen in Los Angeles. Weitaus weniger bekannt ist Latasha Harlins. Sie war 15 Jahre alt, als ihr eine aus Korea stammende Ladenbesitzerin in Los Angeles in den Hinterkopf schoss, weil sie sie für eine Ladendiebin hielt. Sie wurde zu Bewährung, 400 Stunden gemeinnützige Arbeit und einer Zahlung von 500 Dollar verurteilt. Eine Woche vor den Unruhen 1992 wurde dieses Urteil von einem höheren Gericht abermals bestätigt. 

Dieser zweite Fall ist der Hintergrund zu Steph Chas packenden Kriminalroman „Brandsätze“. An einem Juni-Abend im Jahr 2019 hat die Kalifornierin Grace Feierabend in der elterlichen Apotheke gemacht und ist mit ihrer Mutter auf dem Weg zu ihrem Auto. Plötzlich taucht ein vermummter Mann vor ihnen auf und schießt auf die Mutter. Schon bald erfährt Grace einen möglichen Grund für diese Tat: Vor Jahren hat ihre Mutter eine Schwarze Teenagerin getötet und ist mit einer milden Strafe davongekommen. 

Steph Cha erzählt von den Auswirkungen der Gewalt auf zwei Familien. Im Los Angeles des Jahres 2019 finden gerade wieder Proteste gegen rassistische Polizeigewalt statt. Grace Park und ihre Schwester müssen fortan damit leben, dass ihre aus Korea eingewanderte Mutter eine Mörderin ist und als Rassistin gilt. Shawn Matthews musste 1991 mitansehen, wie seine Schwester Ava erschossen wurde. Nach Gangkarriere und Gefängnis hat er mittlerweile ein geordnetes Leben als Möbelpacker begonnen. Als sein gerade aus der Haft entlassener Cousin nun für die Schüsse auf Graces Mutter verhaftet wird, weiß er, dass die Polizei kaum weiter ermitteln wird – haben sie doch einen bequemen, plausiblen, politisch angenehmen Täter. Also will er dessen Unschuld beweisen.

Mit bemerkenswertem Gespür für die Atmosphäre in Los Angeles, die komplexen Beziehungen innerhalb beider Familien und den vielfältigen Diskriminierungsebenen zeichnet Steph Cha ein hochspannendes Porträt des Lebens Schwarzer sowie koreanischer Familien in den USA. Diese Taten betreffen nicht nur zwei Familien. Die Gewalt findet in einem Kontext statt, der von Furcht, Wut, Hass und Rassismus geprägt ist. 

Angesichts der Black-Lives-Matter-Proteste ist „Brandsätze“ ein hochaktueller Roman, der zu verstehen hilft, wie die Wut und Frustrationen vieler Amerikaner entstanden ist. Cha vermeidet einfach Schuldzuweisungen und Kausalitäten und bleibt inmitten der großen gesellschaftlichen und politischen Fragestellungen perspektivisch und erzählerisch nah bei den Familien. Dadurch erinnert „Brandsätze“ in den besten Passagen an Walter Mosleys großen Kriminalroman „Little Scarlet“ über die Watts Riots 1965. Die Geschichte von Los Angeles ist immer auch eine Geschichte der Unruhen der Stadt. 

Steph Cha: Brandsätze  (Your House Will Pay, 2019). Deutsch von Karen Witthun. ars vivendi, Cadolzheim 2020. 336 Seiten, 22 Euro. 

Finster und realtitätstüchtig

(JF) Wäre Sam Hawken ein leichtfertiger Autor, würde sein Roman Vermisst anders ausgehen.  Es gäbe einen entschlossenen Helden, der ein unauffälliges Leben führt, bis ihn böse Menschen dazu zwingen, sich auf seine Erfahrungen als US-Marine zu besinnen. Am Ende würde er, körperlich  angeschlagen, aber ansonsten ungebrochen, aus dem Kampf heimkehren. Und jene, die er nicht verloren gab, wären gerettet.

Doch bei Sam Hawken ist alles anders. Als Jack Searle aus dem texanischen Laredo, dessen Stieftochter zusammen mit ihrer Cousine bei einem Konzertbesuch in Mexiko entführt wird, zur Gewalt greift, ist es längst zu spät. Das weiß auch Gonzalo Soler, ein aufrechter Polizist aus dem gleich hinter der Grenze gelegenen Nuevo Laredo. Trotzdem versucht er dem vor Verzweiflung rasenden Searle beizustehen. Denn ihm ist klar, dass es keinen Ausweg gibt, wenn man den konkurrierenden Drogenkartellen, die die Region beherrschen, in die Quere kommt. 

Es wird viel geredet in diesem Roman, und damit auch gelogen. Um die Wahrheit zu erfahren, ist Jack Searle irgendwann jedes Mittel recht. Und die blutige Katastrophe am Ende unabwendbar. Das erinnert an einschlägige Racheepen: Ein komplexer Film wie Martin Scorseses „Taxi Driver“ kommt in den Sinn, aber auch Michael Winners ebenso erfolgreicher wie umstrittener Streifen „Death Wish“ („Ein Mann sieht rot“. 1974), auf den Peter Henning in seinem Nachwort eingeht. Auch über die Figur des Jack Searle kann man diskutieren. Aber dafür muss man diesen finsteren Roman über die Macht des realen Bösen lesen.

Sam Hawken: Vermisst (Missing, 2014). Aus dem Amerikanischen von Karen Witthuhn. Polar Verlag, Stuttgart 2020. 400 Seiten, 22 Euro.

Das kurze Leben von „Wein und Zeit“

(io) Am Anfang der Rezension hätten die Fragen gestanden. Fragen wie: Was machen Frauen, während ihre Männer schlafen? Warum interessiert sich Rachel Kummer nicht mehr für das, was ihrem Mann gefällt? Wieso fühlt sich Ralf in der Wohnung der abwesenden Nachbarn wohler als zu Hause? Was hat es mit den vielen gelben Zetteln in Jakobs Haus auf sich? Und aus welchem Grund lassen gleich zwei Frauen ihre Handtaschen irgendwo liegen? Und nach den Fragen die Charakterisierung von Schneuwlys Stil: ihre umrissenen Aussagesätze, die sie ausführt wie kalkulierte Schachzüge: als befinde sie sich in einem Match mit dem Raymond Carver. Vor allem der Text ‚Die Torte‘ gemahnt stark an den amerikanischen Schriftsteller, auch andere Passagen klingen wie Variationen seiner Erzählungen.

Daß die Lesetherapeutin Schneuwly „ihre eigenen Texte nicht so gut“ findet, schrieb einer ihrer Patienten letzten November in der Neuen Zürcher Zeitung. Da liegt es nahe, Anleihen bei denen zu machen, die es besser können. Vielleicht nicht nur bei Carver. Trotzdem wäre in der Rezension am Ende auch von dem Gelungenen die Rede gewesen: von den kleinen Tragödien, die vom Zusammenleben handeln und von der Einsamkeit. Und daß bei all den bitterernsten Sätzen durch die Art ihrer Aneinanderreihung auch Komik ins Spiel kommt.

War alles längst geschrieben und lag, nachdem das Buch am 26. August erschienen ist, in der Redaktion. Am 7. September kam von einer Pressestelle die Nachricht, Lesetherapeutin und Verlag hätten sich entschlossen, das Buch zurückzuziehen: aus „urheberrechtlichen Gründen“. Am 9. September sollte eine Lesung aus Wein und Zeit im Sphère in Zürich stattfinden, sie wurde kurzfristig abgesagt: aus „gesundheitlichen Grunden“.

Mache sich darauf jeder seinen eigenen Reim. ©  2020 ingrid mylo

Karin Schneuwly: Wein und Zeit. Erzählungen. Dörlemann, Zürich 2020. 160 Seiten, gebunden, 20 Euro – auf der Verlagsseite als „vergriffen“ gemeldet.

Archaische Wucht

(JF) Eine Tasche voller Geld. Eine geölte Schrotbüchse. Ein Hund, der wartet. Beinahe ließe sich das Ende von Sven Heucherts zweitem Roman Alte Erde als Stillleben bezeichnen. Wäre da nicht noch ein Mensch, von dem wir nicht viel wissen. Auch über die anderen Figuren erfahren nicht immer genug, um ihre Handlungen auf Anhieb zu verstehen. Aber wir haben eine Ahnung. Und die ist finster.

Es würde nicht verwundern, handelte es sich bei den Banknoten in der Tasche um D-Markscheine. Denn das Szenario des Romans wirkt wie aus der Zeit gefallen. Man raucht Ernte 23 und trinkt Zinn 40. Ein alter Opel Admiral, das Seitenfenster mit einer Plastiktüte zugeklebt, ist noch fahrtüchtig. Aber der Eindruck täuscht. Es gibt das Internet und einen weltbeherrschenden Warenversender, der dort, wo jetzt noch Wald und Acker sind, ein Großlager bauen will. Doch die Vergangenheit vergeht nicht so einfach. Weder für die feindlichen Brüder Karl und Thies noch für den alternden Revierjäger Wouter Bisch, der seinen Kummer in sich hineinfrisst. Da ist eine latente Gewalt, die nur einen Katalysator braucht, um auszubrechen. Und weil hier alle bewaffnet sind, geht die Geschichte alles andere als glimpflich aus.

Eifel-Noir oder deutscher Neo-Western, es gibt manches Etikett, das man auf dieses bemerkenswerte Buch pappen könnte. Am besten aber lässt man ihm seinen solitären Rang in der oft so kraftlos wirkenden Literaturszene hierzulande. Denn Sven Heuchert ist ein erstklassiger Erzähler, der sein Handwerk versteht. Einer, der genau weiß, wann er besser auf Erklärungen verzichtet. Das ist selten. Und ein Leseerlebnis. Denn „Alte Erde“ ist poetisch und dramatisch zugleich, ein Roman von archaischer Wucht.

Sven Heuchert: Alte Erde. Ullstein Verlag, Berlin 2020. 216 Seiten, 22 Euro.

Eine unendliche Geschichte

(AM) Eine Liebesgeschichte, eine Kriminalgeschichte und ein Science-Fiction-Roman werden uns im Inhaltsverzeichnis von CoDex 1962 avisiert. Sjón, mit vollem Namen Sigurjón Birgir Sigurðsson, ist der erste nordische Schriftsteller, der je für einen Oscar nominiert wurde, das war 2001 für die Liedtexte von Björk in Lars von Triers Film „Dancer in the Dark“. Es war ein Film, in dem ein Mörder und sein Opfer im Akt der Tat gegeneinander singen, in dem in Fabrikhallen und auf Eisenbahnwaggons getanzt wird, in dem das Herkömmliche gegen den Strich gebürstet und aus Unsinn Sinn wird. Sjón ist ein Grenzgänger, hat seine Wurzeln im Surrealismus ebenso wie in den isländischen Volkssagen, 1979-86 war er Mitglied der Punk/Dada/Performance/Poesie-Gruppe „Medusa“.

1962, das ist sein Geburtsjahr. 24 Jahre schrieb er an diesem, seinem neunten Roman. Der lässt sich nicht klassifizieren, irrlichtert zwischen Golem und Genom, Simplizissimus und Troll, Apokalypse und Idylle, Romankonvention und Experiment. In diesem Roman singen die Stilmittel gegeneinander an und kommen dem Erzengel Gabriel, der mit seiner Posaune das Jüngste Gericht verkünden soll, die Zweifel. Im zweiten Weltkrieg zeugt der jüdische Flüchtling Leo Löwe in einem deutschen Gasthof mit dem Zimmermädchen Marie-Sophie einen Sprössling. Es ist ein Lehmklumpen, den sie in einer Hutschachtel mit nach Island nehmen, wo Leo in einen Plot mit Nazigangstern verwickelt wird. 1962 erwacht der Lehmklumpen zum Leben, entwickelt sich zu einem Poeten, der Medizin studiert und einem Genetiker begegnet, der große Pläne hat. Wikingersagen, Feengeschichten, Fabeln und Schöpfungsmythen schieben sich wie tektonische Platten über andere Erzählstränge, verkeilen sich, spucken wie Geysire. Dieses Buch sprudelt von Einfallsreichtum. Sein Autor ist ein Erzähler der Art, wie sie früher in den Höhlen saßen und Platos Schatten an die Wände zauberten. „Obwohl der Autor sich entschieden hat, hinter seine Geschichte einen Punkt zu setzen, ist dieses Buch noch lange nicht zu Ende. Die Romanfigur, die zum Schluss noch am Leben ist, lebt weiter und tastet sich voran in eine ungeschriebene Zukunft, sei sie kurz oder lang oder sogar endlos …“ heißt es im Epilog. – Ein Textauszug aus dem Roman, in dem es um die Besonderheiten des Isländischen geht, findet sich in dieser Ausgabe nebenan.

Sjòn: CoDex 1962 (2016). Aus dem Isländischen von Betty Wahl. S. Fischer Verlag, Frankfurt 2020. 639 Seiten, 32 Euro. 

Komplexes Historiengemälde

(JF) Als John F. Kennedy am 22. November 1963 in Dallas einem Attentat zum Opfer fiel, stand die Welt unter Schock. Vor allem in der Bundesrepublik Deutschland und Westberlin war die Trauer groß. Schließlich lag sein vielumjubelter Staatsbesuch („Ish bin ein Bearleener.“) erst ein halbes Jahr zurück. Dabei hatte er nicht nur Freunde in der politischen Klasse der jungen Bonner Republik. Manchen schien seine Haltung gegenüber der Sowjetunion zu weich, nicht wenige, unter anderem Kanzler Adenauer,  hätten die Bundeswehr gerne atomar aufgerüstet. Und dass in der Führung von Geheimdiensten und Armee alte Nazis mit ganz eigenen Interessen aktiv waren, birgt seit jeher Stoff für Verschwörungstheorien. Ein Attentat auf Kennedy während seines Deutschlandbesuches liegt also nicht außerhalb des Möglichen.

Das wird sich auch der Journalist Jan-Christoph Nüse, der bereits die Währungsreform von 1948 als Stoff für einen spannenden Politthriller genutzt hat („Operation Bird Dog“. 2018), gedacht haben, als er sich gleich zwei konspirative Gruppen einfallen ließ, die Kennedys Leben aus machtstrategischen Gründen ein gewaltsames Ende setzen wollen und dabei einander in die Quere kommen. Vier Tage im Juni heißt, vielleicht in Anlehnung an Stefan Heyms Roman über den Aufstand in der DDR am 17.6.1953, Nüses komplexes Historiengemälde, in dem es viele Schurken, aber auch einige Helden gibt.  Zu letzteren gehört zweifellos Thomas Malgo, ein Geheimdienstmann mit einer Vorliebe für süßes Gebäck, der fast im Alleingang einen der Attentatsversuche vereitelt. Erzählen darf er davon nichts. Also wird er brav neben seiner kinobegeisterten Frau sitzen, während diese Sean Connery im ersten James-Bond-Film anhimmelt. So endet dieser ausgesprochen unterhaltsame und gut recherchierte Thriller, der den Vergleich mit internationalen Vorbildern nicht zu scheuen braucht, mit einer erfrischend ironischen Reverenz an das wenig glamouröse deutsche Beamtentum.

Jan-Christoph Nüse: Vier Tage im Juni. Gmeiner Verlag, Messkirch 2020. 352 Seiten, 16 Euro.

Ein Privatdetektiv im Kaiserreich

(SH) Ein seltsames Buch ist Eisenblut von Axel Simon. Es spielt 1888, dem Drei-Kaiser-Jahr und setzt 44 Tage vor dem Tod des Kaisers – also, des zweiten in diesem Jahr – ein. Ein Mann sitzt auf dem Abort, hasst das Landleben und wird kurzerhand überfallen. Ein Beginn auf dem Klo ist schon einmal eine Ansage, zumal, wenn das gesamte Buch im Kaiserreich spielt. Danach wechselt der Schauplatz nach Berlin. Dort wacht Gabriel von Landow in seiner ranzigen Wohnung im Osten von Kreuzberg auf. Er ist dick, Ende 30, sieht aber älter aus, ist mit der ostpreußischen adligen Familie zerstritten und arbeitet als Privatdetektiv. Ja, in Berlin im Kaiserreich. Eigentlich schlägt er sich mit Überwachungen von untreuen Ehemännern durch, aber dann bekommt er von sehr hoher Regierungsstelle aus dem preußischen Innenministerium den Auftrag, das Ableben dreier Männer zu untersuchen. Möglicherweise geht es dabei um U-Boot-Sabotage. Möglicherweise ist das alles aber auch nur ein Scherz. 

In diesem Buch steckt so einiges, was Spaß macht: da sind die derben, direkten Beschreibungen von dreckigen Wohnungen und peinlichen Situationen; die oftmals lakonischen Sprüche von Landow, die so gar nicht ins Kaiserreich passen wollen; und allerhand Nebenfiguren, die gerade so eben nicht zu Karikaturen geworden sind. Es gibt sprachlichen Witz, oft auch überraschende Bilder. Aber leider schießt Simon auch oft über das Ziel hinaus. Dann ist es nicht mehr lustig, sondern wirkt, als werden vorzugsweise Penisse nur erwähnt, damit auch Pennälerhumorbegabte etwas zu kichern haben. Auch widersteht er der Versuchung, eine historische Figur ein wenig der Lächerlichkeit preiszugeben, nur selten. Zudem sind die Hintergründe leider recht leicht zu durchschauen. Aber inmitten all der generischen historischen Kriminalromane macht Axel Simon mal etwas anderes und liefert alles andere als eine Hochglanzversion des Jahres 1888. Alleine das schon verschafft einige vergnügte Abwechslung. 

Axel Simon: Eisenblut. Wunderlich Verlag, Hamburg 2020. 416 Seiten, 20 Euro.

Gesundheitssystem, mit Mord

(JF) Ein allseits verhasstes Mordopfer, ein sympathisches Ermittlerteam und jede Menge falsche Fährten. Harald Keller, Journalist aus Osnabrück, setzt in seinem neuen Kriminalroman Tod auf dem Zauberberg auf vertraute Muster. Den Titel darf man ironisch verstehen. Die Kurklinik im Taunus, in der das Verbrechen geschieht, erinnert mehr an Kinderlandverschickung als an ein Schweizer Sanatorium. Motive, die wenig beliebte Verwaltungsmitarbeiterin, deren übel zugerichtete Leiche im Waschkeller gefunden wird, aus dem Weg zu räumen, hatten viele. Ob allerdings tatsächlich alle 480 Patienten in Frage kommen, wie der Werbetext auf der Rückseite des Buches suggeriert, ist fraglich. Schließlich wissen die armen Teufel nicht, wessen trickreiche Machenschaften daran schuld sind, dass, während sie in einer Badewanne mit Rapssamen ihre Selbstheilungskräfte mobilisieren, eine teure Massage abgerechnet wird. Der Rubel muss rollen im privaten Reha-Betrieb, und das ist heutzutage nicht ganz so einfach zu organisieren.

Also hat Kommissar Lohse von der Limburger Kripo alle Hände voll zu tun. Schließlich muss er, wenn er nicht gerade eine falsche Spur verfolgt, seine sich vernachlässigt fühlende Lebensgefährtin besänftigen oder einer Mieterin mit Beziehungsproblemen zur Seite stehen. Währenddessen schlummert der entscheidende Beweis … Doch das sei hier nicht verraten. Wer sich im Genre auskennt, dürfte dem Täter leicht auf die Schliche kommen. Dass sich  der Rezensent dennoch nicht schlecht unterhalten fühlte,  verdankt sich den amüsanten Schilderungen aus dem Klinikalltag, die den beklagenswerten Zustand dieser Sparte unseres Gesundheitssystems drastisch illustrieren. Und das ist doch auch etwas.

Harald Keller: Tod auf dem Zauberberg. Epubli, Berlin 2020. 391 Seiten, 13,99 Euro.

Tote Nazis in den 1950er Jahren

(SH) Es gibt viele interessante Ansätze in Leonard Bells „Der Petticoat-Mörder“. Seine Hauptfigur ist Fred Lemke, ein ehemaliger Laternenanzünder, der im Berlin des Jahres 1958 erkannt hat, dass die Elektrizität seinen Job bedroht und nun als Quereinsteiger bei der Kriminalpolizei anfängt. Er ist 23 Jahre alt, also alt genug, um etwas vom Nationalsozialismus und Zweiten Weltkrieg mitbekommen zu haben, aber jung genug, um nicht aktiv schuldig geworden zu sein. Er mag Rock’n’Roll, ist ziemlich unsicher gerade im Umgang mit Frauen und gerät nun an seinen ersten Fall: Am Ufer des Fennsees wurde ein toter Mann gefunden. Sein (natürlich) unsympathischer Kollege würde den Mord gerne einem ehemaligen Wehrmachtssoldaten in die Schuhe schieben, aber Lemke glaubt, dass der Motiv in der Vergangenheit des Toten liegt: Er hat im Reichssicherheitshauptmann gearbeitet und unzählige Menschen ins KZ geschickt. Also ermittelt er mit seiner neuen Kollegin Ellen von Stain weiter. Sie ist in einem ähnlichen Alter, aber ihre Familie war sehr eng mit den Nationalsozialisten – ihre Mutter war die Patentante von Hermann Göring – und muss nun irgendwie mit diesem familiären Erbe umgehen. 

Allein diese Figurenkonstellation mitsamt dem Mordfall bietet ausreichend Spannung für einen historischen Kriminalroman, aber leider belässt es Bell nicht diesen Konflikten. Stattdessen bekommt Fred Lemke den ungeschriebenen Regeln des historischen Kriminalromans gemäß noch ein persönliches Trauma, das ihn noch unschuldiger erscheinen lässt als er es ohnehin in jeglicher Hinsicht ist, plus daraus resultierende Klaustrophobie. Natürlich ist er in der Polizeischule schon unangenehm aufgefallen, weil er sich der Wahrheit verpflichtet fühlt und vor allem in der Tatort-Analyse äußerst fähig ist. So ganz wird nicht entschieden, ob er nun besonders empathisch oder besonders analytisch ist, deshalb ist er je nach Situation einfach beides. Und natürlich ist Lemke nicht nur aus Angst vor Jobverlust zur Polizei gegangen, sondern hatte noch einen weiteren persönlichen Antrieb. Man ahnt es: er hat beim Laternen anzünden beobachtet, wie der von ihm aus der Ferne bewunderten jungen Frau Gewalt angetan wurde. Was an der Vorstellung romantisch ist, dass ein Laternenanzünder heimlich in das Zimmer einer Frau schielt und sie beobachtet, das weiß ich nicht, aber das ist ja in Filmen und Büchern recht häufig zu finden. Immerhin ist er nun umgeben von kompetenten, patenten und kecken Frauen, die ihn gerne in ihre Arme schließen und helfen, sehr viel helfen.

Diese Hilflosigkeit vom Lemke könnte rührend sein – wären da nicht zwei Dinge: Leider ist er die Hauptfigur dieser Reihe, während die weitaus interessante Ellen von Stain lediglich von außen betrachtet wird. Und dieser harmlose Tropf soll gleichzeitig ein scharfsinniger Ermittler sein, von dem man sich auch erhoffen können soll, dass er in der weiterhin mit Alt-Nazis besetzen Behörde aufräumt. Dass er nicht ganz so scharfsinnig sein kann, zeigt dann aber auch der Fall, bei dem routinierte Leser*innen schnell wissen, wer hinter der Tat steckt. Aber hier würde Scharfsinn ja die vielen erklärenden Umwege und menschelnden Momente verhindern. Es ist schon erstaunlich, wie häufig historische Kriminalromane einen großen Fall mit politischen und historischen Implikationen aufbauen, um dann letztlich auf einen Täter mit einem Motiv zurückzufallen, das alles andere als zeitgebunden ist. Und in diesem Fall ist es besonders ärgerlich, weil es nur noch einmal die Perversität und Grausamkeit des Toten betonen soll.

Es ist schade, dass „Der Petticoat-Mörder“ so sehr jedes Kästchen der Erfolgsformel für historische Kriminalromane abhaken will, denn das Buch lässt sich gut lesen. Es könnte ein spannender, unterhaltsamer Kriminalroman sein. Aber das unnötige Trauma, die langweilige Auflösung, die nur noch einmal einen kleinen Ekelschauder auslösen soll, die unnötigen Erklärungen und Wissensdemonstrationen und die unnötig eindimensional entwickelten Nebenfiguren verhindern das. 

Leonard Bell: Der Petticoat-Mörder. Ullstein Verlag, Berlin 2020. 432 Seiten, 9,99 Euro.

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