
Bücher kurz serviert
Kurzbesprechungen von fiction und non fiction. Alf Mayer (AM), Frank Rumpel (rum) und Thomas Wörtche (TW) über:
Massimo Carlotto: Blues für sanfte Halunken und alte Huren
Ta-Nehisi Coates: Captain America #1
Lars Fiske: Grosz. Berlin – New York
Chris Fitch: Globalografie
Hans-Ludwig Kröber: Mord im Rückfall. 45 Fallgeschichten
Fernanda Melchor: Saison der Wirbelstürme
Josephine Rowe: Ein liebendes, treues Tier
Jörg Schröder: Siegfried
Brendan Simms: Die Briten und Europa
Wallace Stroby: Der Teufel will mehr
Johnny Temple: USA Noir

Pseudonym Hari Beaux
(AM) Solch einen Verleger muss man mit der Lupe suchen: „Ihr Siegfried ist nicht mehr lieferbar, das geht gar nicht. Ich kann mir eine gebundene Neuausgabe bei uns sehr gut vorstellen, als Termin wäre vielleicht der Oktober 2018 denkbar. Was meinen Sie?“, schreibt Klaus Schöffling im Januar 2017 an Jörg Schröder und Barbara Kalender. Im Februar ist er bei ihnen und erklärt: „Die Ausgabe könnte durch Fotos, Faksimiles etc. erweitert werden.“ Und tatsächlich, seit Oktober 2018 und passend zum 80. Geburtstag des Autors gibt es Jörg Schröder erzählt Ernst Herhaus Siegfried wieder, 366 legendäre Seiten, ergänzt jetzt um „Das ganze Leben. Jörg Schröders Vita aufgezeichnet von Barbara Kalender“, 170 Seiten bestens illustrierter Anhang – eine Rückschau auf die (west)deutsche Bücherwelt, die Ihresgleichen sucht. Stoff für 200 Dramen und Gaunerkomödien. Was für ein Buch. Was für ein Leben.
„Muss sich mehr zusammennehmen“ steht im Zeugnis des Ernst Moritz Arndt-Gymnasiums II in Bonn. Den Lustmenschen Schröder ficht das nicht. Er lernt in Düsseldorf in der Schrobsdorff’schen Buchhändler, danach beim legendären Witsch in Köln das Verleger-, Buchmacher- sowie das Typografenhandwerk, führt den wegen einer unverkäuflichen Ludwig-Börne-Ausgabe überschuldeten Melzer Verlag an neue golden-gelbe Ufer, hat keine Berührungsängste mit pornographischer Literatur (wer da nicht alles die Bände der Olympia Press aus Paris übersetzt haben soll), legt sich zeitweise das Pseudonym Hari Beaux zu. Er ist 34, als er dem Schriftsteller Ernst Herhaus seine Abrechnung mit dem Literaturbetrieb diktiert. Es ist der Satz überliefert: „Ich erzähle diesen Muff, weil sich kein Mensch vorstellt, was für eine Scheiße das ist, die man in den Feuilletons Kultur nennt.“ Ab 1975 gibt es von „Siegfried“ nur noch gerichtlich zensierte Ausgaben, zeitweise ist es das meistbeklagteste Buch der Republik, heute noch hat die Neuausgabeunkenntlich gemachte Stellen.
Tausendsassa Schröder ruht sich auf der „Bombe im gelben Umschlag“ (Dieter E. Zimmer in der „Zeit“) nicht aus. Als alles den Bach runter ist, bringt er 1990 bis Mitte 2018 zusammen mit seiner Frau Barbara Kalender und einem ziemlich einmaligen Vertriebskonzept die Desktop-Reihe „Schröder erzählt“ heraus, Hardcore-Geschichten aus dem Literatur- und Medienbetrieb. Das Prinzip: Einmal beleidigen und an die Abonnenten verbreiten, Unterlassungsklagen ins Leere laufen lassen. Einmal habe ich versucht, eine seiner Geschichten (über einen heute zu Recht vergessenen Kulturdezernenten) an Frankfurter Zeitungen und Medien zu vermitteln, wenigstens dann eine Rezension. Aber niemand wagte es, das anzufassen. Dabei muss ich heute noch lachen, wenn ich nur an den Wein im Autoreifen und den auf Verlangen ausgepumpten Magen denke. – Schöner Satz übrigens von Schröder: „Wir leben vom Mythos, nicht von der Stückzahl.“
- Jörg Schröder: Siegfried. Jörg Schröder erzählt Ernst Herhaus (1972). Neuausgabe mit einem umfangreichen Anhang mit zahlreichen Abbildungen und Faksimiles. Verlag Schöffling und Co., Frankfurt 2018. 544 Seiten, gebunden, 28 Euro.

Überzeugendes Konzept
(TW) Simpel wie ein Strich und genauso vorhersehbar sind die Crissa-Stone-Romane von Wallace Stroby. Der vierte und vorerst letzte Teil der Saga, Der Teufel will mehr (dt. von Alf Mayer), weicht keinen Millimeter von diesem Generierungsprinzip ab: Crissa, die Profigangsterin mit ethischem Rückgrat, bekommt ein schickes Angebot (es geht um illegal aus dem Irak geschmuggelte, antike Kunst), einer ihrer Kumpane spielt falsch, es wird blutig, und am Ende … naja, man muss ja noch nicht mal spoilern, everybody knows (und sei´s aus den Parallelbüchern von Donald Westlake oder Garry Disher). Die große Kunst von Wallace Stroby liegt in seinem Minimalismus, selbst das schlichteste Gemüt kann der Handlung einfach folgen, irgendwelche komplexen Implikationen sind nicht zu befürchten, „meta“ ist ein Fremdwort. Aber das Konzept ist absolut überzeugend, weil Stroby seine Ästhetik und seine Figuren ernstnimmt, so artifiziell die natürlich sind. In dem er darauf verzichtet, mit ihnen herumzuspielen, und weil er auf alle möglichen brechenden Verfahren verzichtet, entsteht dadurch Literatur pur, die, bis auf ein paar Grundannahmen über das Wesen von homo sapiens, nichts transponiert, keine Thesen, keine Überzeugungen, keine Ideologien. Grandiose U-Literatur, spannend, rasant, fettfrei.
- Wallace Stroby: Der Teufel will mehr (The Devil’s Share, 2015). Aus dem amerikanischen Englisch von Alf Mayer. Pendragon Verlag, Bielefeld 2019. 314 Seiten, 17 Euro. Überblick der Crissa Stone-Romane hier.
Winter in America
(AM) „Neustart. Die echten Helden sind zurück“, steht in der Titelleiste von Marvels Captain America #1, als Autor genannt wird Ta-Nehsi Coates. Einen Prolog und sechs US-Ausgaben, Mai 2018 bis Februar 2019, enthält die gerade bei Panini erschienene, sehnsüchtig erwartete Graphic Novel. Jetzt kommen auch die deutschen Leser auf den Stand.

„Für deinen Vorgänger, den ersten Supersoldaten …
… war alles so einfach.
Captain America hatte Recht, weil Amerika Recht hatte.
Und er war gut, weil Amerika zu den Guten gehörte.
Heute ist alles anders.
Die großen Kriege sind vorbei, heißt es.
Die großen Fragen beantwortet.
Moral
ist eine Frage der Einstellung.
Alles ist relativ.
Welche Bedeutung hat „Gut“ oder „Richtig“
in diesem gespaltenen Amerika?
Man sagt, der Supersoldat nennt sich immer noch „Captain“.
Aber Captain von was?“
Seit seinem Debüt im Jahr 1940, als er Adolf Hitler ins Gesicht schlug, war „Captain Amerika“ der mustergültige Patriot, überstand Korea, Vietnam, Watergate und den Krieg gegen den Terror, reflektierte immer wieder, welchen Weg sein Land einschlägt. Im letzten Abenteuer aber, in „Secret Empire“ von 2017, wurde es blasphemisch, erwies der Superheld sich als heimlicher Anführer der Nazi-Terrororganisation Hydra. Welch eine Pervertierung. Dass es letztlich „nur“ ein Doppelgänger war, der da sein Unwesen trieb, ließ Verunsicherung genug zurück.
Dann kündigte Marvel an, dass „Atlantic“-Kolumnist Ta-Nehisi Coates neben „Black Panther“ nun auch „Captain America“ weiterschreiben würde (CrimeMag dazu hier und Sonja Hartl zur Verfilmung). Man konnte gespannt sein, wie der preisgekrönte Autor von „Zwischen der Welt und mir“ (ein Buch in der Tradition von James Baldwin, über die Erfahrung, in Amerika schwarz zu sein), diese Aufgabe erfüllen würde. Ihm war klar: „My dude has a flag on his chest. It’s not incidental.” Die US-Flagge auf der Brust trägt der „Cap“ nicht zufällig. Ta-Nehisi Coates‘ Neustart kam denn auch am amerikanischen Unabhängigkeitstag auf den US-Markt.
Was Ta-Nehisi Coates – im Zeitalter von Trump, und dies reflektierend – mit „seiner“ Figur macht, ist aufregend, soviel kann man nach sechs Ausgaben nun ganz klar sagen. Er nimmt es mit den Pseudo-Superpatrioten (Trumps) auf; wie die Bürgerrechtsaktivisten der 1960er Jahre (siehe in dieser CrimeMag-Ausgabe nebenan) reklamiert er im „Winter in America“ die US-Flagge für die originären Werte und Ideale der Nation. Dieser Kampf ist noch lange nicht vorbei. (Zeichnungen von Leinil Francis Yu, Cover von Alex Ross.)
- Ta-Nehsi Coates, Leinil Francis Yu: Captain America #1. Neuanfang (US-Originalverlag: Marvel; Inhalt: We Who Love America: A Prologue; Winter in America, Part I – VI, Mai 2018 –Februar 2019). Panini Verlag, Stuttgart 2019. 148 Seiten, 16,99 Euro.

Im mexikanischen Hinterland
(rum) Alle nannten sie nur die Hexe, eine Frau, die allein in einer Hütte in den Zuckerrohrfeldern lebte. Ein paar Jungs finden ihre Leiche in einem Abwassergraben im fiktiven La Matosa, einem Kaff im Hinterland des mexikanischen Bundesstaates Veracruz. Sie hatte den Ruf samt den Aufgaben von ihrer Mutter übernommen. Zu ihr kamen die Leute, wenn sie kleine Hilfestellungen brauchten, einen Trank, einen Zauber. Und schließlich wurde ihre Hütte zum Treffpunkt von Männern, die Sex wollten. Doch eigentlich waren sie alle auf der Jagd nach jenem legendären Schatz, der anscheinend in ihrer Hütte lagerte.
Um diesen Mord an der Hexe kreist Fernanda Melchors großartiger Roman. In acht Kapiteln nähert sie sich aus ganz unterschiedlichen Richtungen, nimmt sich jeweils eine Figur vor, rückt nah an sie heran und gibt Einblick in deren meist wenig erbauliches Leben. Charaktere, die im einen Kapitel nur am Rand auftauchen, rücken im nächsten ins Zentrum. So macht Melchor ganz allmählich Verbindungen und Zusammenhänge sichtbar und weiß immer wieder zu überraschen.
Da ist etwa die junge Yesenia, die von ihrer Großmutter verachtet und misshandelt wird und die sich dennoch aus Pflichtgefühl um die alte Frau kümmert. Die vergöttert indes ihren kriminellen, drogenabhängigen Schwiegersohn und als er nicht mehr da ist, dessen Sohn. Yesenia vermutet, dass er etwas mit dem Mord an der Hexe zu tun hat. Der junge Mann zieht indes lieber zu seiner Mutter, die in der Stadt ein Bordell betreibt. Er haust in einer schäbigen Hütte im Hinterhof und ausgerechnet dort strandet auch die 13-jährige Norma. Sie ist aus ihrem Dorf geflohen, nachdem ihr Stiefvater sie geschwängert hat. Nun wohnt sie bei jenem aus der Welt gekippten Jugendlichen und in dessen Hütte erleidet sie auch eine Fehlgeburt, die sie um ein Haar das Leben kostet. Das bekommt selbst ihr Freund mit und beschließt, etwas zu unternehmen.
Es ist eine Erzählwalze, die die 1982 geborene, in Puebla lebende Autorin und Journalistin Melchor da auf knappem Raum los lässt, eine wütende Suade über die Umstände, ein atemloses, aber präzises und intensives Erzählen, das formal etwas an Marquez` „Der Herbst des Patriarchen“ angelehnt ist. Sie formt lange Satzgirlanden, in denen sie satt und wuchtig Leben einfängt. Für Absätze hat sie keine Zeit. Melchor zieht einen hinein in diese heftigen Geschichten, die da um ein Verbrechen kreisen und derweil tiefenscharf das Bild einer abgewrackten Gesellschaft zeichnen. Es ist nur ein kleiner Ausschnitt, in dem über individuelle Schicksale das ganze Elend von Armut, Korruption, Drogenabhängigkeit, festgefügten Rollenbildern, massiver Homophobie und Bigotterie, versagender staatlicher Institutionen und allgegenwärtiger Gewalt vor allem gegen Frauen zu sehen ist. Die Narcos sind präsent, tauchen aber nur am Rande auf. Die Polizei ist ein krimineller Haufen. Die Zukunft ist hier nicht wirklich ein Thema.
- Fernanda Melchor: Saison der Wirbelstürme (Temporada de huracanes, 2017). Aus dem mexikanischen Spanisch von Angelica Ammar. Wagenbach-Verlag, 240 Seiten, 22 Euro.

Zu alt für Teddybären, zu jung für Wölfe
(AM) Sie lebt in meiner Lieblingsstadt: Hobart auf Tasmanien. Ich kann verstehen, warum, aber natürlich sagt das nicht unbedingt etwas über ihre Qualität als Schriftstellerin. Aber sagen wir es so: Sie schreibt so weit vom Rest der Welt entfernt wie auch Tasmanien es ist. Josephine Rowe schreibt stellar. Ihr Debutroman Ein liebendes, treues Tier ist über die Schmerzgrenze hinaus schön und kostbar. Sätze wie Spiegelscherben oder Diamantsplitter, eine Schärfe des Blicks und des Ausdrucks, die immer wieder den Atem stocken lässt. So hat für mich schon lange kein Buch mehr gefunkelt. Es zeugt vom literarischen Sachverstand beim Verlag Liebeskind, dass dieses schmale und doch so gewichtige Buch dort an Land gezogen worden ist. Auch der Übersetzerin Barbara Schaden gebührt eine Verbeugung.
Mit sechs Charakteren, drei Geschwisterpaaren, und in sechs Kapiteln, jedes mit eigener Stimme und aus anderem Blick, umkreist Josephine Rowe das Verschwinden eines Ehemanns, Vaters, Bruders, Vietnam-Veteranen (Australien war Verbündeter der USA, die Traumata sind privatisiert, keineswegs aufgearbeitet) und das große, die Generationen übergreifende Wunde eines Kriegstraumas – ein Bombenkrater innerhalb einer Familie, ein Loch in der Welt. Das ist kein Kriminalroman im engeren Sinne, wie wohl da etwas Schreckliches geschehen ist, jemand verschwand und jetzt alle zu rätseln haben, „das Leben zerteilt von einem Kriegsbeil“ … „die Eingeweide wie ein Sack lebendiger Schlangen“. Mittendrin Ru, „zu alt für Teddybären, zu jung für Wölfe“. Das Setting ist der (australische) Sommer 1990, die Mornington Peninsula, südlich Melbourne. Apokalyptisch, sagt eine Protagonistin in dem ganz ohne Anführungszeichen auskommenden Buch. Stimmt, antwortet eine andere. Und welcher Reiter bist du?
Für den Herbst 2019 ist ein neuer Erzählband angekündigt. „Here Until August“ heißt er in den USA, „Horse Latidtudes“ in Australien. Und hier geht es zu einem Text von Josephine Rowe über einen Sushi-Meister auf Tasmanien.
- Josephine Rowe: Ein liebendes, treues Tier (A Loving, Faithful Animal, 2016). Übersetzt von Barbara Schaden. Liebeskind Verlag, München 2019. 208 Seiten, 20 Euro.

Diamanten, Kobalt, Uran …
(AM) Die Welt hat keine Grenzen mehr, folglich lassen die 50 Landkarten des Bandes Globalografie von Chris Fitch (Karten: Sam Vickars) alle Grenzlinien weg, zeigen stattdessen den konstanten Strom von Menschen, Daten, Ideen und Waren rund um den Globus, zeichnen die Verbindungen nach, die alles miteinander vernetzen und voneinander abhängig machen, zeigen Zusammenhänge. Das ist spannend wie ein Kriminalroman, zumal jeder dieser Karten ein ausgezeichnet recherchierter, gekonnt komprimierter Text zugeordnet ist. Außer einem Index enthält der ungewöhnliche Atlas auch noch Hinweise auf je weiterführende Literatur.
Für Konzept und Texte verantwortlich zeichnet der Globetrotter, Geograf und Reisejournalist Chris Fitch, unterm anderem leitender Redakteur für „Geographical“, der offiziellen Zeitschrift der Royal Geographical Society. Wir lernen zum Beispiel, das jährlich für über 22 Milliarden US-Dollar geschliffene Diamanten verkauft werden, erfahren von ihrer Förderung von vom Handel. 90 Prozent aller Diamanten werden (nicht in Amsterdam oder New York sondern) in der indischen Stadt Surat geschliffen, mehr als eine halbe Million Menschen sind dort mit im Diamantgeschäft tätig. Etwas mehr als die Hälfte der weltweiten Kobaltversorgung stammt gegenwärtig aus der Demokratischen Republik Kongo, unkontrollierte Minen liefern dabei rund 20 Prozent der Kobaltexporte – klar ein Stoff für Kriminalromane. Prägnante Details gibt es zum Beispiel auch zum Handel mit zeitgenössischer Kunst, mit Luxusuhren oder Sneakers, Uran, Sojabohnen, Palmöl, Kakao, Avocados, Honig oder Bananen, Baumwolle, Zement, Kupfer, den Strömen von Elektroschrott oder zur Verbreitung von Netflix. Irgendjemand muss bei all dem sehr reich werden, das ist klar. Bei der Verteilung der Milliardäre führt China deutlich vor den USA.
- Chris Fitch: Globalografie. 50 Karten erklären die Welt von heute (Globalography. Our interconnected world revealed in 50 maps, 2018). Karten von Sam Vickars, Übersetzung Theresia Übelhör. DuMont Buchverlag, Köln 2019. Hardcover, Großformat, 224 Seiten, durchgehend farbig illustriert mit 50 Weltkarten, 30 Euro.

Immer ist der Blues dabei
(TW) Eine eher nostalgische, aber sehr vergnügliche Veranstaltung ist Blues für sanfte Halunken und alte Huren von Massimo Carlotto. Der Alligator Marco Buratti und seine Buddies, der verfressene Max und der „alte Gauner“ Rossini haben mal wieder mit ihrer Nemesis Giorgio Pellegrini zu tun. Die drei alten Gangster, die eher Hobsbawm´sche Banditen sind – also so eine Art sozialrevolutionäre Drei Musketiere mit hoher krimineller Energie -, haben die gesamte italienische Staatsmacht in Gestalt der völlig skrupellosen Eisprinzessin Dottoressa Marino an der Hacke, mit der sich Pellegrini verbündet hat – und wollen nebenbei, weil der Alligator sich unsterblich verliebt hat, die nette Hure Edith aus den Klauen ihrer bösartigen Zuhälterin retten. Das ergibt einen hohen Bodycount, jede Menge Action und fieses Denken, während die Handlung fröhlich zwischen Padua, Wien und München hin und her springt. Und immer ist der Blues dabei, der ideale Soundtrack für melancholische Killer, die wissen, dass man den Dreck dieser Welt niemals wegbekommen wird, sich aber zumindest ein bisschen besser fühlt, wenn man wenigstens ein paar Scheusale aus dem Verkehr gezogen hat. Wobei das Oberscheusal immer für einen Cliffhanger gut ist …, was vermutlich ein ziemlich realitätstüchtiger Zeitkommentar ist. Gutes Essen, gutes Trinken, guter Sex, gute Musik und ein paar gute Kämpfe, das ist völlig okay, auch boys wanna have fun, und ja, man könnte das als ideologiekritische Spaßbremse auch ganz anders sehen wollen.
- Massimo Carlotto: Blues für sanfte Halunken und alte Huren. Ein Fall für den Alligator (Blues per cuori fuorilegge e vecchie puttane, 2017). Aus dem Italienischen von Ingrid Ickler. Folio Verlag, Wien und Bozen 2019. Hardcover, 218 Seiten, 20 Euro.

Vorbildliches Sachbuch
(AM) Warum töten Menschen? Prof. Dr. Hans-Ludwig Kröber weiß: „Wer anfängt, über das Töten als eine Lösung nachzudenken, hat ein Problem.“ In seinem rasend lesenswerten Buch Mord im Rückfall analysiert er 45 Fallgeschichten über das Töten. Wer tötet, weiß, dass er eine letzte Grenze überschreitet – unwiderruflich und nicht wieder gutzumachen. Ein Totschläger, ein Mörder, ist jemand, der nie mehr zu uns gehört. Kröber, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, über 20 Jahre Direktor des Instituts für Forensische Psychiatrie an der Charité Berlin und einer der angesehensten Gutachter der Republik interessiert, was das für Menschen sind, die so etwas tun? „Der Mensch muss nie, kann aber immer gewaltsam handeln …“ Und was erst sind das für Männer, die sogar nach einer Bestrafung wegen Totschlags oder Mordes erneut töten? (Ja, es sind nur Männer, die seiner Erfahrung und Empirie nach rückfällig werden, die Frauenquote ist hierbei Null.)
Nüchtern, schnörkellos, ganz ohne Mätzchen oder Schirach’sches Gehabe, komprimiert und dabei durchaus elegant – kurzum auch sprachlich auf hohem Niveau – zeichnet Kröber äußerst reflektiert 45 spannende Fallgeschichten von Männern, die sich durch Strafe nicht vom erneuten Töten abhalten ließen. Es sind Geschichten über die Lust am Töten und den Ekel, über Leichtigkeit und Gewicht solch einer Tat. Alle Motivgruppen kommen vor: Raub, Bereicherung, sexuelles Begehren und Unterwerfung, Kampf mit Frauen und ihre Abstrafung, Gewaltlust, chronische Verrohung, Psychose. Die Biografien sind vielfältig, „eine allgemeine Theorie des Rückfallgeschehens kann es nicht geben“, stellt der Forscher fest. Auch innerhalb der einzelnen Gruppen sind die Verläufe verblüffend vielfältig. „Stets aber entwickelt sich das Geschehen im Dreieck von Motivation, Selbstkonzept und sozialer Situation, welche die Tat nahelegt und möglich macht.“ Anliegen und Kunst des Autors ist es, dass hier Menschen sichtbar werden, die mehr mit uns gemein haben, als uns lieb sein mag. „Töten ist menschlich“, lautet die Überschrift des Epilogs.
Bei der Buchvorstellung mit Podiumsdiskussion in der Hörsaalruine der Charité waren die Fachleute aus Forensischer Psychiatrie, Polizei und Justiz sich einig: Die komplexen Faktoren, die einen Menschen zum Mörder werden lassen, fordern einen multiperspektivischen Umgang. Es braucht multiprofessionelle Teams. Besonders die Polizisten betonten, wie realitätsfern doch das Krimi- und TV-Bild des einzelgängerischen Profilers sei. In der Operativen Fallanalyse komme es vielmehr auf assoziatives Arbeiten im Team an. Und noch eine Pointe: Auf eine Publikumsfrage, ob in einem Matriarchat weniger Männergewalt feststellbar sei, antwortete Hans-Ludwig Kröber: „Meinen Sie Italien?“
- Hans-Ludwig Kröber: Mord im Rückfall . 45 Fallgeschichten über das Töten. MWV Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Berlin 2019. Hardcover, 247 Seiten, 19,95 Euro.

Bilderbuch des Monats
(TW) George Grosz gehört zu den großen Ikonographen des 20. Jahrhunderts, dessen Bilder von Dekadenz, Laster, makrostruktureller Gewalt und Verbrechen immer noch für uns prägend sind. Lars Fiskes Comic Grosz. Berlin – New York eine Art Biopic ohne Worte des norwegischen Comickünstlers, zeichnet in Grosz´scher Manier seine Lebensstationen nach: Vom Berlin der 1910er Jahre, über die „Revolution“ 1918, Dada („Dada ist politisch“), seine Theaterarbeit mit Erwin Piscator, die Weimarer Republik der Kriegsgewinnler, den nouveaux riches, dem „Labor der Moderne“ mit seinen neuen Konzepten von Gender und Sexualität, die Gewalt der aufkommenden Nazis, die politische Arbeit mit den Heartfields für den Malik-Verlag, und schließlich der Traum von der Freiheit, von Amerika mitsamt seiner populären Kulturen, vor allem aber dem Kino. Weil sich Fiske eng an die Ästhetik Grosz´ hält (auch wenn er sie abstrahiert), erkennt man zwar die Bilder wieder, aber die sind hier zu einer Art biographischen Konsistenz verzichtet. Fiske erzählt das Leben von George Grosz in Bildern von Georg Grosz, die nicht unbedingt biographisch gemeint waren, sondern „realistisch“, also abbildend, „unromantisch, nüchtern und wenig traumhaft“ (G. Grosz). Das ist bei der Opulenz von Grosz´ Bildern zwar alles andere als richtig, aber hat dennoch eine höhere Wahrheit – in der Verzerrung kommt der nüchterne Blick zur ganz und gar unromantisch Zeitbetrachtung zu seiner besten Entfaltung. In dem Fiske diese Ästhetik der Brechung in seinem Werk über Grosz und über die Zeit anwendet, kann er ein überzeugendes Narrativ über das Berlin dieser Zeit schaffen, das gegen die naive und biedere Pappmaché-Kulissenschieberei eines Volker Kutscher (und wie sie alle heißen) eine sinnvolle Alternative bietet und zur Betrachtung von Grosz selbst aufruft, plus aller anderen Original-Narrative der Zeit von Döblin, Benn, Tergit, Isherwood, Brecht & Co. Das wirkt dem kulturellen Gedächtnisverlust entgegen, durch den ja erst die ganzen Talmi-Reproduktionen von heute möglich wurden.
- Lars Fiske: Grosz. Berlin – New York. avant-verlag, Berlin 2019. Hardcover, 80 Seiten, 25 Euro.

Regional-Noir auf höchstem Niveau
(AM) Ortskundig auf je eigene Art sind die Autoren von „USA Noir“. 14 Geschichten von unter anderem Dennis Lehane, Michael Connelly, Joyce Carol Oates, Jeffery Deaver, Jonathan Safran Foer, Don Winslow und Lee Child führen von der Ost- bis zur Westküste, bieten eine beindruckende Lektion in stilistischer und erzählerischer Diversität. Sehr stark etwa ist zum Beispiel die letzte Geschichte, Autor: Luis Alberto Urrea („The House of Broken Angels“), bei uns ein Nobody, in den USA vielfach ausgezeichnet. In seinem „Amapola“ verliebt sich ein Oberschüler aus Phoenix in die Schwester seines besten Freundes, der von jenseits der Grenze, aus Nogales, stammt. Aus der von Jugendlichen so gerne eingenommenen Gangsta-Persönlichkeit wird plötzlich bitterer Ernst. Eine tolle Figur hat auch die Geschichte „Alice Fantastisch“ von Maggie Estep, einer Spoken-Word-Poetin mit wahnsinniger Energie, die leider viel zu früh gestorben ist.
„USA Noir“ ist bereits der dritte Band der CulturBooks-Noir-Reihe, allesamt Juwelen der Ortskundigkeit. Die Noir-Reihe zeigt, das es möglich ist, in einem als unmöglich erscheinenden Feld mit Qualität zu punkten – nämlich mit Kurzgeschichten und Anthologien. „Paris Noir“ und „Berlin Noir“ (herausgeben Thomas Wörtche) liegen bereits vor.
Vorgemacht hat das der Gründer der Noir-Reihe: Johnny Temple, früherer Bassgitarist der Post-Punk-Band „Girls Against Boys“ und zweier weiterer Bands. Im Jahr 2004 gründete er in Brooklyn den Kleinverlag Akashic Books, um eine Anthologie aus diesem Kiez zu publizieren. Er wollte den Sound der Stadt auf Papier bringen, einer der ethnisch vielfältigsten Orte der Welt. „Brooklyn Noir“ war als Hommage gedacht, überhaupt nicht als Serie, es gab keine kommerziellen Erwartungen. Aber Pustekuchen. Das Konzept, eine Stadt mit all ihren Quartieren in realitätstüchtigen Kurzgeschichten zu erzählen, rau und ungeschminkt, sozialkritisch, gefährlich und sexy – als Noir-Geschichten eben – erwies sich als überaus erfolgreich. Mittlerweile sind bereits unglaubliche 104 Noir-Bände bei Akashic erschienen: meist auf eine Stadt konzentriert. Das Genre Regionalkrimi auf höchstem Niveau. Und ganz global.
Der Buchstabe B bei Akashic versammelt zum Beispiel (immer bitte „Noir“ im Titel dazu gedacht) Bagdad, Marrakesch, Nairobi, Prag, Bangkok, Barcelona, Belfast, Beirut, Boston, Bronx, Brooklyn, Brüssel, Buenos Aires, Buffalo – und Berlin. Bei M geht es nach Manhattan, Manila, Marrakesch, Marseille, Memphis, Mexiko City, Miami, Milwaukee, Mississippi, Montana, Moskau oder Mumbai. „USA Noir“ ist ein Kondensat aus insgesamt 32 USA-Noir-Einzelbänden, von Atlanta über Manhattan bis Las Vegas. Die Originalausgabe enthielt 37 Storys, Verleger Jan Karsten, der auch als Übersetzer einen ausnehmend guten Job macht, hat für die deutsche Ausgabe 14 packende Geschichten ausgewählt. Man kann sein Geld auch für substanzlosere Bücher ausgeben. Große Empfehlung.
- Johnny Temple (Hg.): USA Noir. 14 Geschichten von Joseph Bruchac, Lee Child, Michael Connelly, Jeffery Deaver, Barbara Demarco-Barrett, Maggie Estep, Jonathan Safran Foer, J. Malcolm Garcia, William Kent Krueger, Dennis Lehane, Joyce Carol Oates, Asali Solomon, Luis Alberto Urrea und Don Winslow. Übersetzt von Jan Karsten. CulturBooks, Hamburg 2019. Paperback, 344 Seiten, 15 Euro.

„This blessed earth, this realm, this England“
(AM) Wie konnte es dazu kommen? Das fragen sich nicht wenige in diesen Wochen des Brexit-Wahnsinns. Brendan Simms, Professor für die Geschichte der internationalen Beziehungen an der Universität Cambridge mit den Forschungsschwerpunkten Geschichte Europas und Geschichte Deutschlands im europäischen Kontext, liefert – wenn schon nicht Erklärung (wer denn hätte die?), so doch – Hintergrund. Und das jede Menge. Die Briten und Europa. Tausend Jahre Konflikt und Kooperation heißt sein 2016 abgeschlossenes und 2017 in London erschienenes Buch, das jetzt übersetzt vorliegt. Also kein Brexit-Schnellschuss, sondern fundiert aufgeschlüsselt, die historischen Zusammenhänge von Nähe und Entfremdung, Reibung und Koexistenz, Zusammengehörigkeit und Fliehkräften, kurz: symbiotischer Beziehung. „Europa hat uns gemacht“, schreibt der Brite Simms ganz dezidiert auf Seite 337. So, wie er schon 2014 in seinem „Kampf um Vorherrschaft. Eine deutsche Geschichte Europas 1453 bis heute“ Europa um Deutschland kreisen ließ, so vermisst er nun die Beziehung Großbritanniens zum Kontinent ganz sachlich und ruhig – all dem gegenwärtige Theater um die „gekrönte Insel“ zum Trotz.
Aber schon schön, wie Shakespeare in „Richard II“ (2. Akt, 1. Szene) John of Gaunt über das so einzigartige England deklamieren lässt:
This royal throne of kings,
this sceptred isle,
This earth of majesty,
this seat of Mars,
This other Eden, demi-paradise,
This fortress built by Nature for herself
Against infection and the hand of war,
This happy breed of men, this little world,
This precious stone set in the silver sea,
Which serves it in the office of a wall
Or as a moat defensive to a house,
Against the envy of less happier lands,
This blessed plot, this earth,
this realm,
this England.
- Brendan Simms: Die Briten und Europa. Tausend Jahre Konflikt und Kooperation (Britain’s Europe: A Thousand Years of Conflict and Cooperation, 2017). Aus dem Englischen von Klaus-Dieter Schmidt. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2019. 400 Seiten, 28 Euro.