
Licht im Berlinale-Dschungel
Lust auf Kino? Und auf neue Filme? Unsere Berlinale-Korrespondentin Katrin Doerksen hat sich einen ersten Überblick über das Programm der 67. Internationalen Filmfestspiele Berlin (9. bis 19. Februar) verschafft und wird Sie in den kommenden Festivaltagen weiter auf dem Laufenden halten. Schauen Sie bei uns herein. Es lohnt sich.
In The Lost City of Z wird Charlie Hunnam als fiebriger Suchender durch den Amazonasregenwald traumwandeln, in Josef Haders Regiedebüt Wilde Maus werkelt ein entlassener Musikkritiker lieber heimlich an einer Achterbahn, statt sich einen neuen Job zu suchen. In T2: Trainspotting von Danny Boyle treffen die Junkies von früher noch einmal aufeinander und in Hong Sang-soos On The Beach At Night Alone überdenkt eine junge Schauspielerin noch einmal ihre Beziehung zu einem verheirateten Mann. Die publikumswirksamen Filme der Berlinale 2017 versprechen einen Festivaljahrgang der Verwirrten, der Desorientierten und aus dem Tritt Gekommenen.
Die Orientierung ist auch auf Seiten der Besucher schnell verloren: 395 Filme liefen auf der Berlinale 2016 und in diesem Jahr werden es nicht bedeutend weniger. Wer sich nicht in einem Anfall von Chronistenpflichtgefühl dazu verdonnert eine Sektion vollständig anzuschauen, bleibt vor einer überwältigenden Auswahl stehen. In solchen Fällen bewährt es sich, Filme zu erwägen, die es auf dem gewöhnlichen Wege wohl kaum so schnell in die Kinos schaffen. CulturMag pickt einige Kirschen aus dem Programm.
Für den Festival-Eskapisten: Alex Ross Perrys Golden Exits im Forum
Wer auf dem Politischsten aller A-Festivals des Sozialdeterminismus und der Tränendramen überdrüssig ist, wird sich in Alex Ross Perrys fünftem Spielfilm Golden Exits sonderbar befreit fühlen vom Ballast der Ära Trump, von rechtem Xenophobiewahnsinn und Terror-Paranoia. Eine junge Australierin tritt eine neue Stelle in NYC an und bringt das fragile soziale Gefüge ihres Arbeitgebers durcheinander – das war es auch schon. Erinnerungen an Woody Allen und Noah Baumbach werden wach, Mumblecore-Guru Joe Swanberg hat produziert. Einen erstaunlichen Cast konnte Alex Ross Perry für einen derart kleinen Film zusammentrommeln: Emily Browning, Chloe Sevigny, Beasty Boy Adam Horovitz. So zahlreich die äußeren Einflüsse, so abgeschlossen ist das kleine Universum in Golden Exits – eine einzige Straße in Manhattan, ein verkramtes Archiv, die Wohnungen der kreativen Mittelschicht. „Niemand macht Filme über Leute, die eigentlich nichts tun“, beschwert sich die Australierin, und was an dieser Stelle noch angestrengt selbstreferenziell wirkt, entwickelt sich schon bald zu tatsächlicher Beiläufigkeit. So zeitvergessen wie die mit sich selbst beschäftigten Figuren ist der ganze Film, auf grobkörnigem 16mm-Material gedreht, ganz nah an die Gesichter heranrückend. In der Enge seines Fokus ein bemerkenswert freier Film.
Für den Suchenden: Hui-chen Huangs Ri Chang Dui Hua (Small Talk) im Panorama Dokumente
So viel Redebedarf in Golden Exits herrscht, so schwer lastet das Schweigen auf der Familie der taiwanesischen Filmemacherin Hui-chen Huang. Ri Chang Dui Hua (Small Talk) ist der Versuch dieses Schweigen zu brechen. Selten hat ein Dokumentarfilm so treffend das Gefühl emuliert, statt am Tisch unter einer Glasglocke zu sitzen, wenn Vorbehalte, Ängste und Vorwürfe jegliche Kommunikation abschnüren. Draußen geht das Leben weiter, drinnen steht die Luft. Die ganze Familie weiß, dass Hui-chen Huangs Mutter lesbisch ist, nur reden will darüber niemand. Erst ihre Exfreundinnen finden Worte und in einer behutsamen Annäherung wird aus Ri Chang Dui Hua (Small Talk) nicht nur das Portrait einer Frau, sondern auch die filmische Aufarbeitung einer vertrackten Familiengeschichte.
Für die Trüffelschweinchen: Yu Hyeon-moks Obaltan (Aimless Bullet) im Forum Special
In einem gewaltigen Kraftakt hat das Korean Film Archive einen Klassiker restauriert, der gemeinhin als bester koreanischer Film aller Zeiten gilt und dennoch über Jahrzehnte in einem desolaten Zustand war. Obaltan (Aimless Bullet) hatte immer schon einen schweren Stand, im Grunde erzählt er nämlich von gebrochenen Figuren wie aus dem späteren New Hollywood in einem Stilmix aus Neorealismus und Film noir. Dem frisch an die Macht gekommenen Diktator Park Chung-hee war es gar nicht recht, dass Regisseur Yu Hyeon-mok 1961 ehemalige Soldaten des Koreakriegs als verstümmelte Arbeitslose zeigte, als im besten Fall perspektivlose Angestellte in prekären Verhältnissen, frustriert und traumatisiert. Obaltan wurde verboten und feierte seine Premiere erst 1963 auf dem Filmfestival von San Francisco. Wo die gequälten Figuren keine Worte für ihre Gefühle finden, hilft ihnen der Regisseur mit seiner expressiven Kameraarbeit, seinem Gespür für punktgenaue Symbolismen: während ein verhindertes Paar sich unterhält, schreit im Hintergrund jämmerlich ein Kind, eine klagende Geigenmelodie ergeht sich in Dissonanzen. Vogelkäfige stehen in fast jedem Raum und auf dem Dachboden, in dem ein Veteran mit seiner Familie lebt, vegetiert die demente Großmutter vor sich hin, ihr Halbschlaf lediglich unterbrochen vom tausendfach wiederholten Schrei: „Lasst uns gehen!“
Ein ähnlich illusionsloses Bild von Südkorea zeichnet der 1980er Thriller Choehuui jeungin (The Last Witness) von Lee Doo-yong, ebenfalls eine Restauration des Korean Film Archive. Die epische Detektivgeschichte reicht zurück bis in die Wirren des Koreakriegs, zerfasert auch trotz fast drei Stunden Laufzeit und stetigem Wechsel zwischen Gegenwart und Rückblenden nicht. Es beginnt mit dem geschäftigen Rattern einer Druckerpresse und endet mit dem Knall eines Revolvers. Verdorben und korrupt ist die ganze Welt, scheint The Last Witness zu schreien. Dass Filme dieser Art existieren ist dazu die beste Antithese.
Für die Kino-Meditation: Heinz Emigholz’ Serie Streetscapes im Forum
Zugegeben: die Filme von Heinz Emigholz sind nicht jedermanns Sache. Wer das Nichtverstehen aushält, nicht für alles Erklärungen benötigt oder schlicht der Reizüberflutung des Festivalbetriebs etwas entgegensetzen will, ist bei dieser Serie richtig, einem losen Zusammenhang vier neuer Emigholz-Filme: 2+2=22 [The Alphabet] (der vielleicht am leichtesten zu konsumierende Film der Reihe) begleitet die Band Kreidler bei den Aufnahmen zu ihrem Album ABC im georgischen Tiflis. Eine Montageverquickung von Raum, Stadt, Architektur und Text, die in den geradezu geometrischen Formen des avantgardistischen Synthetik-Krautrock ihr auditives Äquivalent findet. Bickels [Socialism] erkundet die Gebäude des Architekten Samuel Bickels in Israel. Streetscapes [Dialogue] ist ein fiktionalisiertes Protokoll von Emigholz’ Psychoanalysesitzungen, in dem das Filmemachen gewissermaßen selbst zur Therapie wird. Dieste [Uruguay] sucht schließlich die Gebäude noch einmal auf, in denen diese Gespräche geführt wurden. Uruguay, weil der Kontext so schön vage ist, erklärt das Surrogat des Regisseurs im Therapie-Film. Alle vier Teile vermögen hervorragend für sich zu stehen, erst im Zusammenwirken der Filme wird aber das Konzept, das Denken des Heinz Emigholz greifbar. Es sind seine bisher vielleicht persönlichsten Arbeiten.
Für den Festival-Socializer: Joshua Z. Weinsteins Menashe im Forum
Wem der Smalltalk in der Schlange vor dem Kino nicht ausreicht, kann auf der Berlinale in die Leben der unterschiedlichsten Figuren eintauchen – zum Beispiel in Joshua Z. Weinsteins Regiedebüt Menashe. Zu Beginn des Dramas taucht Menashe aus der Menschenmenge auf, in die er am Ende wieder verschwindet. In der Zwischenzeit bekleidet er, was man eine typische Frauenrolle nennen könnte: alleinerziehend, mit einem verständnislosen Boss und Schulden, hin und her gerissen zwischen persönlichem Willen und religiösen Verpflichtungen. Ein Mann, der es allen recht machen will, der es gut meint und nie gut genug ist, der seinen Sohn nur bei sich behalten darf, wenn er nach dem frühen Tod seiner Ehefrau so schnell wie möglich wieder heiratet. Vielleicht ist der Film etwas übereifrig dabei, alle Sympathien auf die Seite seiner Hauptfigur zu ziehen. Das schmälert aber nicht die feine Beobachtungsgabe, mit der sich Weinstein ihm fast zärtlich nähert. Menashes Gesten und Eigenarten geben kleine Hinweise darauf, dass er so recht nicht in sein konservatives Umfeld passen will. Die Schläfenlocken steckt er am Kopf fest, auf den steifen Mantel und Hut verzichtet er lieber. Allein im rituellen Tauchbad seiner chassidischen Gemeinde scheint er ganz bei sich, schließt die Augen, die Kamera tastet über das ernste Gesicht, den behaarten Bauch. Viel näher kann man einer Filmfigur nicht kommen.
Für den Reisenden: Ann Carolin Renningers und René Frölkes Aus einem Jahr der Nichtereignisse im Forum
Um im Kino etwas ganz und gar Fremdes zu sehen, muss nicht zwingend ein Film aus Übersee her. Auf einem Hof im norddeutschen Glücksburg lebt der fast 90-jährige Willi mit seinen Katzen und Enten. Jeden Frühling feiert er Geburtstag, im Herbst ist die Apfelernte, sonst passiert nicht viel. Ann Carolin Renninger und René Frölke haben ihn für Aus einem Jahr der Nichtereignisse zwölf Monate lang besucht, seinen Alltag auf 16mm-Material und Super8 festgehalten. Das Bild ist körnig, reißt häufig ab: „Film zu Ende“, ruft die Regisseurin dann in die kratzige Schwärze hinein und Willi wundert sich: „Du verbrauchst so viele Filme und aufgenommen haste noch nichts.“ Genau das ist der Punkt: wenn keine großen Pläne mehr existieren und die Erinnerung an die Vergangenheit verschwimmt, bleibt das Jetzt. Willis lakonischer Charme, oft nur dank der englischen Untertitel verständlich, die wuchernde Natur, die sich langsam den Hof zurückholt, die Melancholie der Vergänglichkeit, das obsolete Filmmaterial. Ein Wecker ist stehen geblieben, die Katzen schleichen im Kreis herum.
Für den Archiv-Stöberer: Jindřich Poláks Ikarie XB-1 in der Retrospektive
Die Retrospektive der Berlinale ist im Grunde ein einziger großer Tipp, nicht nur, weil sie als letzte Festival-Sektion konsequent die 35mm-Projektion pflegt. Der Jahrgang 2017 versammelt unter dem Titel „Future Imperfect. Science. Fiction. Film“ siebenundzwanzig Science-Fiction-Filme, von allgegenwärtigen Klassikern wie Unheimliche Begegnung der Dritten Art bis zu ephemeren Entdeckungen wie der tschechischen Mockumentary Ropáci über eine unbekannte ölfressende Spezies. Oder eben den tschechoslowakischen Ikarie XB-1, 1963 gedreht mit elegant schwarzweißem Studio-Charme von Jindřich Polák, lose basierend auf einem Roman von Stanisław Lem. Im Jahr 2163 begibt sich eine Handvoll Kosmonauten im titelgebenden Raumschiff auf die Suche nach menschenähnlichem Leben im Sternsystem Alpha Centauri. Der Plot erscheint aber eher ein Vorwand dafür, ein soziales Gefüge unter Extremsituationen zu beobachten. Die Crew bekommt es mit den Folgeerscheinungen radioaktiver Strahlung zu tun, mit einem geheimnisvollen dunklen Stern. Und mit gegenseitigen Animositäten und Ressentiments. Überwachungskameras und Videotelefoniemonitore fragmentieren das Raumschiff in Kraft der eigenen Fantasie kaum logisch zu verknüpfende Einzelteile, leere Zimmer, verlassene Gänge. Zurück bleibt der Eindruck eines tückischen Labyrinths, innen so feindselig wie außerhalb in den Tiefen des Alls. Stanley Kubrick habe sich bei den Dreharbeiten zu 2001: Odyssee im Weltraum von dem kosmischen Drama inspirieren lassen, heißt es – und überraschend kommt das nicht.
Katrin Doerksen
Die CulturMag-Texte von Katrin Doerksen hier. Zu ihrem Blog l’âge d’or. Auf Twitter hat sie viele Kino-News und sie schreibt auch bei kino-zeit.de