Geschrieben am 11. Mai 2013 von für Crimemag, Kolumne

Alf Mayers Blutige Ernte: Alkohol im Kriminalroman (III)

Alkohol im Kriminalroman – unsere Mini-Serie (zu Teil I und Teil II) von Alf Mayer geht fröhlich weiter …

A_Glass_of_Whiskey_on_the_RocksDen Krieg betäuben, auch den in sich selbst …

Eigentlich wäre er ein weiteres, eigenes Thema – der Kriegsveteran. Er, der gerne Übersehene, ist für die realitätstüchtige Kriminalliteratur von eminenter Bedeutung, sei es auf Autoren- oder Protagonistenseite.

Das war so bei der Entstehung dessen, was wir hardboiled oder noir nennen, das wird für die Welthaftigkeit zeitgenössischer Kriminalliteratur, auch der deutschen, gerade wieder wichtiger, man lese zum Beispiel Oliver Bottini. Joseph Wambaughs Polizisten sind Kriegsveteranen, James Crumleys verkracht-versoffener Privatdetektiv Sughrue ist es, James Lee Burkes Ex-Alkoholiker Dave Robicheaux wird nachts von seiner Zeit in Vietnam heimgesucht und auch Burkes Sheriff Hackberry Holland hat an Korea zu knabbern, um hier nur ein kleines Fass mit tiefem Grund aufzumachen. (In den Fortsetzungen dieser Mini-Serie komme ich darauf zurück.)

Das im offiziell genehmigten Vollsuff geschriebene und außerordentlich hochbezahlte Drehbuch zu „The Blue Dahlia“ von 1946 (siehe Teil II dieser Mini-Serie) brachte Raymond Chandler eine Oscar-Nominierung. Ehrlich gesagt, es war nicht der beste Film Noir aller Zeiten, zwischen Alan Ladd und Veronika Lake stimmte die Chemie nicht, Drehbuch wie Film hatten Schwächen, ein Teil davon der Zensur geschuldet.

Alan Ladd

Alan Ladd

„The Blue Dahlia“ aber war einer der ersten amerikanischen Filme nach dem Zweiten Weltkrieg, der die Gewaltprobleme und Traumata von Kriegsheimkehrern thematisierte. Alan Ladd als ehemaliger Marinepilot kommt weder mit seinen Gefühlen noch mit seiner alkoholkranken Ehefrau klar. Als sie ermordet gefunden wird, wird erst er zum Verdächtigen, dann sein Kriegskamerad Buzz. Der sollte ursprünglich auch der Täter sein, aber das US-Militär widersprach erfolgreich der Absicht, einen psychisch gestörten Veteranen als Mörder vorzuführen.

Ein Kriegsveteran mit „shell-shock“: Raymond Chandler

Chandler war ein böse lädierter Veteran des Ersten Weltkrieges, 18 Monate im Dienst, ein dekorierter Feldwebel, der so gut wie nie über seine Erfahrungen sprach. „Nichts ist jemals wie es war, wenn du deine Männer ins direkte Maschinengewehrfeuer führen musstest“, einer der wenigen von ihm dazu überlieferten Sätze.

Amerikaner von Geburt, in England erzogen, in den USA lebend, pro-britisch und pro-kanadisch, hatte er sich im Sommer 1917 freiwillig beim Canadian Corps gemeldet, erhielt in Sussex seinen militärischen Schliff und fand sich im März 1918 auf dem französischen Schlachtfeld bei Arras – als Infanterist eines kanadischen Bataillons, das bei einer Normalstärke von (immer wieder aufgefüllten) 1200 Mann bereits 14.000 Tote seit 1915 zählte. Chandler erhielt einen Zug (platoon) von 30 Mann, im Juni 1918 hinterließ ihn ein heftiger Artilleriebeschuss als einzigen Überlebenden, bewußtlos, mit einer Gehirnerschütterung und dem, was man Schützengrabenneurose nannte (shell-shock).

Image from World War I taken in an Australian dressing station near Ypres in 1917. The wounded soldier in the lower left of the photo has a dazed thousand-yard stare, a frequent symptom of "shell-shock". (Quelle: wikipedia)

Image from World War I taken in an Australian dressing station near Ypres in 1917. The wounded soldier in the lower left of the photo has a dazed thousand-yard stare, a frequent symptom of „shell-shock“. (Quelle: wikipedia)

Im englischen Lazarett und dann bei der Ausbildung zum Flieger begegnete er Freund Alkohol, vor dem Krieg hatte er nie ernsthaft getrunken. „When I was young man in the RAF I would get plastered that I had to crawl to bed on my hands …“

Über den Granatenbeschuss schrieb er, der zuvor nur Gedichte verfasst hatte und später recht drastische Gewaltszenen in seine Romane einbaute, sein erstes kleines Prosastück: „Trench Raid“. Hier ein Auszug, wie ihn das Bombardement aus dem Unterstand im Schützengraben treibt:

„As he pushed aside the dirty blanket that served for a gas curtain the force of the bombardement hit him like the blow of a club at the base oft he brain. He seemed to be alone in a universe of incredibly brutal noise. The sky, in which the calendar called for a full moon, was white and blind with innumerable Very lights, white and blind diseased like a world gone leprous …

He began to concentrate on the shells. If you heard them they never hit you. With a meticulous care he set himself to picking out the one that would come near enough to be reckoned on as a possible introduction to immortality. To these he listened with a sort of cold exhausted passion until a flattening of the screech told him they had gone over to the support lines. Time to move on. Mustn’t stay too long in one place …“

Double_indemnity„Red meat films“: Kino einer neuen Generation

Chandler hatte zusammen mit Billy Wilder an der filmischen Umsetzung des Romans „Frau ohne Gewissen“ (Double Indemnity, 1944) von James M. Cain gearbeitet, eine bleibende Erinnerung für beide Männer, der Alkoholismus Chandlers eine arge Belastung. Der Film machte Wilder zu einem Stern in Hollywood. „Double Indemnity“ kam im April 1944 in die amerikanischen Kinos, dem blutigsten Jahr für die US-Streitkräfte.

Sein Erfolg bestärkte jene in der Filmindustrie, die am Überlegen waren, welche Art von Stoffen wohl in der Nachkriegszeit Erfolg haben könnten. Der Film war bevölkert mit wiedererkennbaren zeitgenössischen Menschen, die vom Tod in einer harten, direkten Weise sprachen. Der „Hollywood Reporter“ nannte den Film „realistic… grim and grizzly“ und berichtete von ähnlichen Filmen, die bereits in Arbeit seien: „Within the next year or so movie murders particularly with a pathological twist will become almost as common as the weekly newsreel or musical.“ Wegen der gezeigten oder implizierten Gewalt nannte die Branche sie „red meat films“. Ein Psychologe attestierte in einem Artikel der „New York Times“:

„The average moviegoer has become calloused to death, hardened to homicide and more capable of a murderer’s motives … These are times of death and bloodshed and legalized murder; these are times when, if an audience can stomach newsreels of atrocities, it can take anything.“

John Houseman, der Produzent der „Blue Dahlia“, meinte dazu: „A quick examination of our daily and weekly press proves conclusively, whether we like it or not, that the ‚tough‘ movie, currently projected on the seventeen thousand screens of this country, presents a fairly accurate reflection of the neurotic personality of the United States of America in the year 1947.“

Borde-ChaumetonDie „red meat“-Filme der Nachkriegszeit transportierten eine neue Geisteshaltung (die sich auch parallel in der weniger heftig zensierten Literatur, vor allem dem Kriminalroman Bahn brach). In Frankreich fanden Kritiker einen eleganten Namen – „film noir“.

Der französische Kritiker Nino Frank sah 1946 in einem Aufsatz in „French Screen“ eine radikale andere Vision des Lebens in Amerika, voller „Gier, Kriminalität, Gewalt und Anomalie“, aller Film Noir beschäftigte sich mit der „Dynamik des gewaltsamen Todes“.
Raymond Borde und Etienne Chaumeton veröffentlichten 1955 ihr „Panorama du film noir américain 1941–1953“ und stellten darin fest, nur wenige Zyklen in der Geschichte des Films hätten in nur sieben oder acht Jahren solch eine Menge von Mord und Verbrechen angehäuft:

„Ob schäbig, schmutzig oder bizarr, immer ist es der Tod, der am Ende einer leidensvollen Reise kommt. Jeder Film Noir ist im wahrsten Sinne des Wortes ein Film des Todes.“

DOA1950Die lebenden Toten – eine kleine Galerie

In dem Film Noir „D.O.A.“ (Opfer der Unterwelt; Regie: Rudolph Maté, 1950) erfährt der Held (Edmund O’Brien), nachdem er sich schlecht fühlte und sich im Hospital untersuchen ließ, dass er ein langsam wirkendes Gift in sich trägt. „You’re telling me I am dead“, protestiert er. „You’re explaning my life away. I don’t even know you. You’re crazy.“ Der Arzt erklärt ihm: „I don’t think you fully understand, Mr. Bigelow. You’ve been murdered.“

Es stellt sich heraus, dass ein Fremder seinen Drink in einer Bar vertauschte, diesen jemand sucht er den Rest des Films, bis der angekündigte Tod dann eintritt. Die Erzählstimme des Films ist ein „dead man walking“, ein Echo der fatalistischen Haltung von Soldaten in der Schlacht, die sich zum Tode verurteilt sehen. Weltkriegsveteran James Jones, der Autor von „From Here to Eternity“ (Verdammt in alle Ewigkeit) über den Soldaten:

„He knows and accepts beforehand that he’s dead, although he may still be walking around for awhile.“

Das Motiv des lebenden Toten war auch dem Pulp-Schreiber und Alkoholiker Jim Thompson vertraut. Am Ende von „The Killer Inside Me“ (1952) sagt der seine Verhaftung und den Tod erwartende Ich-Erzähler Lou Ford: „How can you hurt someone that’s already dead.“ Thompsons „After Dark, My Sweet“ (1955) wird, wie sich am Ende herausstellt, aus dem Grab erzählt. „Nothing More Than Murder“ (1949) schließt mit dem Gedanken des gestellten Mörders: „They can’t hang me. I’m already dead. I’ve been dead a long, long time.“

thompson-jetzt-und-auf-erdenJim Dillon in „Now and on Earth“ (1942, als „Jetzt und auf Erden“ 2011 bei Heyne), fragt sich in Thompsons erstem veröffentlichem Roman: „Were you ever happy? Did you ever have any peace? And I had to answer, Why no, for Christ’s sake: you’ve always been in hell. You’ve just slipped deeper.“

In Thompsons Novelle „This World, Then the Fireworks“ begeht ein Psychopath einen Mord, der wie ein Unfall aussehen soll, ist dann aber unzufrieden damit, wie glatt das geht: „It was too simple“, denkt er, „… and there is already far too much of such studied and stupid simplicity in life. Drop-a-bomb-on-Moscow, the poor-are-terribly-happy thinking. Men are forced to live with this nonsense, this simplicity, and they should have something better in death.“ Das Leben, heißt es im Kubrick-Film „The Killing“, sei doch „just a bad joke without a punch line“; Drehbuch: Jim Thompson. Die ganze Welt sei ein Irrenhaus, heißt es in „Recoil“ (1953): „It was a madhouse in which the keepers, and not the inmates, were mad.“ In „Savage Night“ (1953) tritt er quasi selbst auf, als Schriftseller Thompson, und er sagt zu einer anderen Figur: „Yes, there is a hell, my boy, and you do not have to dig for it.“ In „Double Indemnity“ gesteht Walter Neff dem Versicherungsmann, der ihn verdächtigt:

„As I was walking down the street to the drugstore, suddenly it came over me that everything would go wrong. It sounds crazy but it’s true, so help me. I couldn’t hear my own footsteps. It was the walk of a dead man.“

The_Lost_Weekend_posterOscar-Material: Fünf Tage im Leben eines Alkoholikers

Billy Wilder schwamm mit „Double Indemnity“ auf einer Erfolgswelle. In dieser Phase ergab es sich, dass er sich für eine Zugfahrt von Chicago nach Los Angeles am Kiosk ein Buch kaufte. Bis zu seiner Ankunft hatte er es zweimal gelesen und für sich entschieden, es zu verfilmen.

Es war „The Lost Weekend“ von Charles Jackson, ein Roman über fünf desaströse Tage eines Alkoholikers. Der Verlag Simon & Schuster hatte das Manuskript abgelehnt, weil er sich sicher war, dass sich solch ein Stoff mitten im Krieg nicht verkaufen würde („Nobody cares about the individual“). Farrar & Rinehart wagte sich an den Roman, es wurde ein Soforterfolg und in 14 Sprachen übersetzt, die Kritiken überschlugen sich: „Charles Jackson has made the most compelling gift to the literature of addiction since De Quincey“, schrieb Philip Wylie in der „New York Times“: „His character is a masterpiece of psychological precision. His narrative method … transmutes medical case history into art.“

Billy Wilder wußte: Not only did I know it was going to make a good picture, I also knew that the guy who was going to play the drunk was going to get the Academy Award.“ (Tatsächlich wurden es dann vier Oscars: bester Film, beste Regie, bestes Drehbuch, bester Hauptdarsteller.) Paramount-Boss De Sylva war skeptisch, was den zu erwartenden kommerziellen Erfolg anging, aber Wilder und sein Drehbuchautor Charles Brackett („The Happiest Couple in Hollywood“) hatten acht Jahre in Folge Kassenknüller produziert, also bekamen sie den Freifahrtschein für einen Film, der heute wie ein braves Erlösungsdrama wirken mag, damals aber, nur ein Dutzend Jahre nach Ende der Prohibition (siehe Teil II) wie ein Tritt in den Magen wirkte.

Ein ziemlich niederziehender Film im selben Jahr, in dem Amerika und die Alliierten den Zweiten Weltkrieg gewannen? Ein Film Noir, in dem die Femme fatale eine Flasche Schnaps ist? Zur Hölle, ja. Drehbuchautor Brackett war von der Romanvorlage sogar noch mehr angetan als Wilder: „Dieses Buch hat mehr Ahnung von Horror als jede Horrorstory, die ich je gelesen habe, der Horror lauert und schwebt wie ein Thema in der Musik.“ Die Besetzung der Hauptrolle aber – ein eher netter Schriftsteller, der am Ende im Delirium winselt – machte Probleme, von Cary Grant bis Gary Cooper hagelte es Absagen.

Bis der Waliser Ray Milland zugriff, allen Warnungen vor einem „Karriere-Selbstmord“ zum Trotz. In die Feinheiten des Alkoholismus wurde der Abstinenzler Milland von Jackson selbst eingewiesen. Die Eröffnungssequenz wurde in New York vor den Pfandhäusern der Third Avenue gedreht, die Kameras in Lieferwagen oder in Läden versteckt. Drei Wochen lang wartete ein unrasierter, heruntergekommener Ray Milland immer wieder in einem Taxi auf sein Zeichen, um dann die Häuser weiter entlang zu taumeln. Einmal wurde er von einem Autofahrer erkannt, der jemand bei Paramount kannte und dort anrief: „I just want to tell you that I saw your friend Ray Milland dead drunk on Third Avenue. If I were you I’d try to get hold of him and straighten him out.“

Jackson sollte einen Hitchcock-haften kleinen Auftritt haben, auf der Third Avenue mit seiner Schreibmaschine im Arm seiner Figur begegnen und „Hallo, Charlie“ sagen. Die Szene wurde mehrfach gedreht, am Ende aber nicht verwendet. Größere Verwerfungen gab es auch wegen der letzten Szene des Films, in der die Freundin des Schriftstellers sich den Anfang eines Buches (i.e. dieses Films) von dem vor Delirium und Selbstmord geretteten Autor in die oft verpfändete Schreibmaschine diktieren lässt. Jackson war außer sich:

„Talk about neat, pat, cheap endings, but also talk about betrayal“, schrieb er einem Freund. „I am beginning to loathe & detest all that Hollywood represents. The moral of all this is that, once Hollywood gets your best friends, you can’t trust ’em: Hollywood comes first every time; you don’t count a-tall!“

Und an Wilder und Brackett:

„Since the night I first read your final scene, I have been getting madder by the minute … The final scene, as you sent it to me, with the hero working out his problem by writing a book (the implication being, of course, that the novel is the very movie we are seeing and the book we have read) is an out-and-out Judas kiss. Can you think how difficult it will be for me, for instance, to sit in the local movie house and see that film on the screen among my neighbors?“

Jackson schrieb fünf weitere, eher erfolglose Romane, traf immerhin mit dem von ihm für den „Zauberberg“ verehrten Thomas Mann zusammen, der seinerseits „The Lost Weekend“ schätze; die beiden Schriftsteller pflegten einige Jahre einen regen Briefwechsel. Jackson starb 1968 an einer Überdosis Seconal im New Yorker Chelsea Hotel.

William Faulkner (1954)

William Faulkner (1954)

Alkohol – Die durstige Muse

„Die chemische Analyse der sogenannten dichterischen Inspiration ergibt neunundneunzig Prozent Whisky und ein Prozent Schweiß“, lästerte Trunkenbold William Faulkner, der Drehbuchautor der Chandler-Adaption „Tote schlafen fest“ (The Big Sleep, 1946, mit Bogart & Bacall oder von „Haben und Nichthaben“, 1944), auch er ein von Hollywood hofierter, viel beschäftigter und ultimativ beschädigter Autor.

Hier ein wohl eher unbeabsichtigter Blick ins Innenleben solcher Existenzen: Am 3. Februar 1951 sandte Raymond Chandler die Geschichte „Ein Schriftstellerpaar“ (A Couple of Writers) an seinen Agenten Carl Brandt, kommerziell sei sie wertlos, aber „eine recht witzige Arbeit“. Es geht darum um nicht geschriebene Romane und Trunkenheit. Ein Autor wird darin wieder und wieder von seiner Frau zurechtgewiesen.

Etwa: „Du wachst mit glasigen Augen und einem Kopf wie eine Tonne auf. Du lächelst nur und machst genau da weiter, wo du aufgehört hast. Das kennzeichnet dich als ewigen, als geborenen Säufer. Du bist in Alkoholdunst geboren, lebst darin, wie ein Salamander im Feuer.“

„Weißt du nicht, was aus Menschen wird, wie du einer bist? Eines Tages zerfliegen sie in kleine Stücke, als ob eine Granate sie getroffen hätte. Jahre und Jahre zeigt sich praktisch überhaupt kein Anzeichen des Verfalls. Sie betrinken sich jeden Abend, und jeden Morgen fangen sie von neuem an, sich zu betrinken. Sie fühlen sich großartig. Und dann kommt der Tag, an dem alles auf einmal passiert …“ (Aus: Chandler über Chandler, Ullstein Buch Nr. 520, 1965)

Die Welt war aus den Fugen, in der Nachkriegszeit. Für die Veteranen wie auch für die Zuhausegebliebenen. Oft war es Freund Alkohol, der da gnädig betäuben half. Der Zensur zum Trotze findet sich dieser Mechanismus auch in Nachkriegsfilmen wie dem großartigen „Die besten Jahre unseres Lebens“ (The Best Years of Our Lives) von William Wyler oder „Verdammt in alle Ewigkeit“ (From Here to Eternity) von Fred Zinnemann, 1953.

Ein tief einschneidendes Bild zum Beispiel der Anblick Peter Lorres in seinem einzigen Regie-Film „Der Verlorene“ von 1951, den der aus USA zurückgekehrte Exilant und frühere Brecht-Schauspieler als Film Noir in Hamburg drehte. Ein zutiefst einsamer, in sich verlorener, an sich, seinen Ungenügsamkeiten und all der unaufgeräumten Schuld um sich herum zerbrechender Wahrheitssucher – ein Film und eine Sache, die damals niemand sehen wollte und die Alexandre Alexandre in der „Frankfurter Abendpost“ vom 14. Juli 1951 so beschrieb: „… das höllische Triebwerk der Heuchelei, des unverhohlenen Zynismus, die gelockerte Verantwortung, die wurmstichige Moral, die Bestialität und der entfesselte Wahnsinn unserer Epoche.“

41CDP5C4SPL._Ein Nebel der Verzweifung liegt über dem Film, eine Traurigkeit, die in keinem Glas der Welt einen Boden finden wird. „Bestie Mensch“, dann „Das Untier“ waren die Arbeitstitel des Films gewesen, Helmut Käutner, Benno Vigny und Axel Eggebrecht hatten am Drehbuch mitgearbeitet. Das schönste Buch dazu hierzulande dazu immer noch das von Felix Hofmann/ Stephen D. Youngkin: Peter Lorre. Porträt des Schauspielers auf der Flucht (belleville, München 1998; Restexemplare kann ich vermitteln).

Der Krieg – kein Glas ist tief genug

Unter dem Titel „One War Is Enough“ schrie Edgar J. Jones in der Februarausgabe 1946 von „Atlantic Monthly“ auf:

„What kind of war do civilians suppose we fought, anyway? We shot prisoners in cold blood, wiped out hospitals, strafed lifeboats, killed or mistreated enemy civilians, finished off the enemy wounded, tossed the dying into a hole with the dead, and in the Pacific boiled the flesh off enemy skulls to make table ornaments for our sweethearts, or carved their bones into letter openers. We topped off our saturation bombing und burning of enemy civilians by dropping atomic bombs on two nearly defenseless cities, thereby setting an all-time record for instantaneous mass slaughter.“

„Wahrscheinlich bin ich im Krieg gewesen. Da ist eine Narbe hinter meinem Ohr“, beginnt Norman Mailers Thesenroman von 1951, „Am Rande der Barbarei“ (Barbary Shore), mit dem er an den Erfolg des im Alter von 23 Jahren geschriebenen Kriegsromans „Die Nackten und die Toten“ (1946) nicht anknüpfen konnte. Mailer verhandelt in seinem zweiten Werk nichts weniger als den Zustand und die Zukunft der Welt zwischen den zwei neuen Machtblöcken.

In einem schäbigen Mietshaus in Brooklyn treffen fünf Menschen aufeinander, die der Krieg entwurzelt hat. Ihre Beziehungen sind von Feindseligkeit, Unsicherheit und Angst vergiftet, jeder von ihnen sucht auf seine Weise zu überleben. Ein idealistischer Marxist und ein gewissenloser FBI-Agent treffen da aufeinander; eine zur Schlampe heruntergekommene frühere Hollywoodschönheit kann es nicht lassen, sich selbst weiterzuspielen; ein junger Kriegsheimkehrer, der sein Gedächtnis verlor, versucht sich durch das Schreiben eines Romans zu retten; und eine junge Frau ist ihr aller Spielball. Alkohol ein Bindeglied.

„Wie um mich zu necken, tauchte plötzlich wieder die vertraute Frage vor mir auf: Was ist es, was die Welt heute bewegt? Wenn ich nichts weiter wüßte, wäre die Antwort klar: Krieg und die Vorbereitung zum nächsten.“ Die verblühte Schauspielerin rumort im Wandschrank, bis sie eine unangebrochene Flasche Whisky findet. „Ihre elenden Finger hantierten am Verschluß, hilflos drückte und zerrte sie am Zelluloid. „Warte, ich helfe dir“, bot ich an. Als Antwort grub sie ihre Zähne in den Korken und zog ihn heraus. Dann starrte sie unentschlossen auf den Flaschenhals und war dabei, die Flasche an den Mund zu setzen …“

Es entsteht ein sehr alkoholhaltiger Disput, in dessen sie eine verstörende Geschichte aus der Gaskammer erzählt, die der Opfer und die der Täter. Die Wachen, erzählt sie, brauchten Alkohol. Und dann sinniert sie, warum; kommt in einem erzählerisch großartigen, grausamen Bogen zu all der Leere, für die es Alkohol zur Besänftigung braucht, zum Loch in unserer Zivilisation. „So führt der Blinde den Blinden und der Taube warnt durch Zurufe den anderen, bis ihre Stimmen sich verlieren“, endet der Roman.

„Jene Mehrheit von Leben, derer wir bedürfen“

Und wir halten Einkehr bei Sigmund Freuds „Zeitgemäßes über Krieg und Tod“, entstanden während des Ersten Weltkrieges.

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„Dies unser Verhältnis zum Tode hat aber eine starke Wirkung auf unser Leben. Das Leben verarmt, es verliert an Interesse, wenn der höchste Einsatz in den Lebensspielen, eben das Leben selbst, nicht gewagt werden darf … Die Neigung, den Tod aus der Lebensrechnung auszuschließen, hat so viele andere Verzichte und Ausschließungen im Gefolge …

Es kann dann nicht anders kommen, als daß wir in der Welt der Fiktion, in der Literatur, im Theater Ersatz suchen für die Einbuße des Lebens. Dort finden wir noch Menschen, die zu sterben verstehen, ja die es auch zustande bringen, einen anderen zu töten… Auf dem Gebiete der Fiktion finden wir jene Mehrheit von Leben, deren wir bedürfen.

Wir sterben in der Identifizierung mit dem einen Helden, überleben ihn aber doch und sind bereit, ebenso ungeschädigt ein zweites Mal mit einem anderen Helden zu sterben.

Es ist evident, daß der Krieg diese konventionelle Behandlung des Todes hinwegfegen muß. Der Tod läßt sich jetzt nicht mehr verleugnen; man muß an ihn glauben. Die Menschen sterben wirklich, auch nicht mehr einzeln, sondern viele, oft Zehntausende an einem Tag … Das Leben ist freilich wieder interessant geworden, es hat seinen vollen Inhalt wieder bekommen.

(Der Krieg) läßt den Urmenschen in uns wieder zum Vorschein kommen. Er zwingt uns wieder, Helden zu sein, die an den eigenen Tod nicht glauben können; er bezeichnet uns die Fremden als Feinde, deren Tod man herbeiführen oder herbeiwünschen soll; er rät uns, uns über den Tod geliebter Personen hinwegzusetzen… Wäre es nicht besser, dem Tod den Platz in der Wirklichkeit und in unseren Gedanken einzuräumen, der ihm gebührt, und unsere unbewußte Einstellung zum Tode, die wir bisher so sorgfältig unterdrückt haben, ein wenig mehr hervorzukehren? …

Das Leben zu ertragen, bleibt ja doch die erste Pflicht aller Lebenden. Wir erinnern uns des alten Spruches: Si vis pacem, para bellum. (Wenn du den Frieden erhalten willst, so rüste zum Krieg.) Es wäre zeitgemäß ihn abzuändern: Si vis vitam, para mortem. (Wenn du das Leben aushalten willst, richte dich auf den Tod ein.)“

Solch eine Wahrheit aber ist für manche – oder besser: viele? – eben nur mit Alkohol zu ertragen.

Fortsetzung folgt.
Auftreten werden Charles Willeford, Chester Himes, Georges Simenon, Wade Miller, John D. MacDonald, Dennis Lehane und andere Barhocker-Propheten.

Alf Mayer

Lesen Sie auch Teil I und Teil II.
Fotos Freud, Faulkner: wikimedia commons, public domain.

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