Geschrieben am 2. Mai 2023 von für Crimemag, CrimeMag Mai 2023

Alf Mayer: The Fantastic Gustave Doré

Bildkünstler sondersgleichen

Zu einer neuen Monographie, einer Auswahl aus 11.013 Werken

Gustave Doré (1832-1883) war neben Gustave Courbet der populärste Künstler seiner Zeit. Er prägte – bis ins Heute – unser Bild von Himmel und Hölle, von Heldentum und Tragödie, von Antike und Klassik, von großer Literatur und vom bildlichen Erzählen wie auch vom Bildjournalismus. Er gilt als „Vater des Comics“, war Spezialist für die Illustrationen von Texten. Er war ein Meister der Karikatur und der Phantastik, der Bild- wie auch Kriegsreportage, zeichnete Allegorien und Landschaften, Porträts, epische Visionen, beobachtete und studierte die Realität, zugleich gab er Träumen, Mythen und Visionen Gestalt. Für ihn gab es keine Schranken. Er war Gargantua. (Ebenfalls von ihm bebildert.)

1865 diktierte er seiner Mutter eine Liste großer literarischer Werke, die er noch illustrieren wollte, 33 an der Zahl, darunter Dantes Fegefeuer und Paradies (das Inferno bereits erledigt), Homers Ilias und Odyssee, Virgils Aeneis, Ovids Metamorphosen, das NibelungenliedTausendundeine Nacht, die Fabeln von La Fontaine, die Dichter Racine, Corneille, Byron, Spencer, Shakespeare, Schillers Dramen, Goethes Faust, Boccaccio, Montaigne, und Hoffmanns Erzählungen.

Im Alter von 33 Jahren erklärte er, ein wenig ironisch, bisher „nur 100.000 Zeichnungen gefertigt“ zu haben. Unnötig zu sagen, dass sein catalogue raisonné kolossal war, als er mit 51 starb. Über 90 Werken der Weltliteratur gab er ein Gesicht, Rabelais’ Gargantua und Pantagruel gehört dazu, Miguel de Cervantes‘ Don Quijote, Dantes Göttliche Komödie, Gottfried August Bürgers Münchenhausen, Coleridges The Rime of the Ancient Mariner, Charles Perraults Märchen, Der rasende Roland (Orlando furioso) von Ludovico Ariosto, und die ganze Bibel.

Im Jahr 1931 vollendete Henri Leblanc die Mammutaufgabe eines kompletten Werkverzeichnisses von Gustave Doré. Er kam auf 11.013 Werke, darunter 10.026 Stiche, rund 90 Prozent des Outputs, und die immense Zahl von 9.850 Zeichnungen für Bücher und Zeitschriften, die von mehr als 160 Graveuren und Kupferstechern „wie gestochen“ durchfähig gemacht wurden. Doré schuf dieses immense Werk in kaum mehr als 30 Arbeitsjahren. Leblanc errechnete eine Produktion von 290 Bildern pro Jahr, Sonn- und Feiertage abgezogen, also fast eines pro Tag.

Und welch eine Bildwelt.

Die französischen Kunsthistorikerinnen Alix Paré und Valérie Sueur-Hermel haben eine Auswahl quer durch die Arbeiten Doré getroffen und nach der französischen Originalausgabe in den Éditions du Chêne bei Hachette mit dem Prestel Verlag nun auf den internationalen Markt gefunden. Dies in einer englischsprachigen Prachtausgabe, 480 Seiten stark, visuell anregend gestaltet, überaus informativ und übersichtlich. Eine Künstler-Monographie state of the art, teilweise daher kommend wie eine monumentale graphic novel.

Doré arbeitete mit den drei Drucktechniken Lithographie, Radierung und Reliefdruck, dies zur genau richtigen Zeit: Mitte des 19. Jahrhunderts war der Buchdruck günstig genug, um auch höhere Auflagen finanzierbar zu machen, was wiederum Voraussetzung für einen viel reisenden und gut bezahlten Künstler wie Doré war. Weite Teile der Bevölkerung des Lesens waren noch kaum des Lesens mächtig, Illustrationen populärer und oft auch phantastischer Texte waren beliebt. Die Bildwelt begann zu träumen. Dies Jahrzehnte, bevor die Bilder sich im Kino in Bewegung setzten. Der kulturelle Hunger für sie wurde von Visionären wie Doré vorbereitet und geweckt. Autoren wie Edgar Rice Burroughs („Tarzan“) oder Tolkien, Filmemacher von Eisenstein bis Peter Jackson und seinen Unterwelten wurden sein Echoraum.

Besonders bemerkenswert sind auch Dorés Ausflüge in realistische Gefilde: Reiseberichte und Kriegsreportagen illustrierte er, teils ohne vor Ort gewesen zu sein. Aus erster Hand kannte Doré jedoch das viktorianische London, wo er dank eines hoch dotierten Vertrages mehrere Monate verbrachte. Für die Reportage London: A Pilgrimage schuf er detailreiche Illustrationen des Lebens der Unterschicht der Metropole: Dockarbeiter, Kneipenbesucher, Gefängnisinsassen, Bettler, Besucher einer Opiumhöhle, Wäschefrauen, Kinderarbeiter, Entfremdung, Ausbeutung, Elend des Kapitalismus.

Auch Karl May muss die Bilder von Gustave Doré gekannt und bewundert haben. In seinem „Durch die Wüste“ (1881) heißt es:

Es war ein eigentümliches, ein furchtbares Gesicht; es glich ganz jenen Abbildungen des Teufels, wie sie der geniale Stift Doré’s zu zeichnen versteht, nicht mit Schweif, Pferdefuß und Hörnern, sondern mit höchster Harmonie des Gliederbaues, jeder einzelne Zug des Gesichts eine Schönheit, und doch in der Gesamtwirkung dieser Züge so abstoßend, so häßlich, so – diabolisch.

In „Satan und Ischariot I“ (1891) gibt es erneut einen Bezug:

Aber was für ein Gesicht war das! Sobald ich es erblickte, fielen mir jene eigenartigen Züge ein, welche der geniale Stift Gustave Dorés dem Teufel verliehen hat. Die Aehnlichkeit war so groß, daß man hätte meinen mögen, der Mormone habe Doré zu dieser Zeichnung gesessen. Er konnte nicht viel über vierzig Jahre alt sein. Um seine hohe, breite Stirne rollten sich tiefschwarze Locken, welche hinten fast bis auf die Schulter niederwallten; es war wirklich ein prächtiges Haar. Die großen, nachtdunklen Augen besaßen jenen mandelförmigen Schnitt, den die Natur ausschließlich für die Schönheiten des Orientes bestimmt zu haben scheint. Die Nase war leicht gebogen und nicht zu scharf; die zitternde Bewegung ihrer hellrosagefärbten Flügel ließ auf ein kräftiges Temperament schließen. Der Mund glich fast einem Frauenmunde, war aber doch nicht weibisch oder weichlich geformt; die etwas abwärtsgebogenen Spitzen desselben ließen vielmehr auf einen energischen Willen schließen. Das Kinn war zart und doch zugleich kräftig gebaut, wie man es nur bei Personen findet, deren Geist den tierischen Trieben überlegen ist und sie so vollständig zu beherrschen vermag, daß andere das Vorhandensein derselben gar nicht ahnen. Jeder einzelne Teil dieses Kopfes, dieses Gesichtes war schön zu nennen, aber nur schön, vollkommen für sich, denn in ihrer Gesamtheit fehlte diesen Teilen die Harmonie.

Noch nicht 21 Jahr alt, zeichnete Doré 1854 in seinem Pariser Atelier Die Historie vom heiligen Russland, die Geschichte Russlands als bloße Abfolge von Bacchanalen und Gemetzeln, angeregt durch den vom Zaren Nikolaus inszenierten Krimkrieg, in dem Russland gegen das Osmanische Reich, Großbritannien und Frankreich kämpfte. Ein bitterböser Band mit 500 Zeichnungen. – Und ein Beispiel für jene „Phantombilder“, die Thomas Wörtche hier nebenan in dieser Ausgabe bespricht.

Der Krimkrieg von 1853-1856 markierte, so arbeiten es die Kunsthistorikerinnen Paré und Sueur-Hermel heraus, den Beginn von Dorés Interesse an zeitgenössischer Politik. Er zeichnete für Publikationen wie das zweisprachige „Musée francais-anglais“, zwischen Nachrichtenmagazin und Propaganda angesiedelt, 70 Illustrationen insgesamt umfassten seine Èpisodes de la guerre d’Orient. Die westeuropäischen Mächte griffen damals in den Krieg ein, um eine Gebietserweiterung Russlands auf Kosten des geschwächten Osmanischen Reichs zu verhindern („Der kranke Mann vom Bosporus“). Es wurde der erste „moderne“ und der erste „industrielle“ Krieg, mit Stellungs- und Grabenkrieg, Materialschlachten inklusive. Ein Krieg der Maschinen, Logistik und Industriepotentiale, weniger der Feldherrenkunst.

Dorés Arbeiten dazu, wie auch die über den Italienischen Krieg 1859/60, gehören zu den Beispielen traditionsprägender Presse-Illustration, wie nebenan in dieser Ausgabe dargestellt (siehe meine Besprechung von „Geschichte der Pressegrafik 1819-1923„).

Alf Mayer

Alix Paré, Valérie Sueur-Hermel: The Fantastic Gustave Doré (Fantastique Gustave Doré, 2021). Prestel, München 2023. Englischsprachige Ausgabe. Hardcover, Farbschnitt, 480 Seiten, Format 20,5 x 26,0 cm, 23 farbige Abbildungen und 380 s/w Abbildungen, 59 Euro.

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