Lee Unkrich, J. W. Rinzler: Stanley Kubrick’s The Shining. Box mit 2 Bänden und einem Ephemera-Set einem Ephemera-Set mit Faksimile-Reproduktionen und originalen Artwork-Büchern. Verlag Taschen, Köln 2023. Collector’s Edition von 1000 nummerierten Exemplaren. Gewicht 19,9 kg, 2198 Seiten, 1.500 Euro. – www.taschen.com
Auch für den Schriftsteller Bret Easton Ellis, Jahrgang 1964, war „The Shining“ von Stanley Kubrick ein einschneidendes Erlebnis. In seinem gerade erschienenen autofiktionalen Roman „The Shards“ (siehe unsere große Besprechung von Marcus Müntefering) wird der Film auf fünf Buchseiten als ein Eckstein der Romanzeit im kalifornischen Frühsommer von 1980 gesetzt. Bret Easton Ellis sieht sich den Film am 23. Mai 1980 an. Den Roman hatte er 1977 verschlungen, er hatte ihm Heidenangst gemacht und zugleich den Wunsch geweckt, selbst Schriftsteller zu werden.

„Ich war davon besessen… Niemals zuvor hatte ich einem Film so entgegen gefiebert, und ich hielt mich über die schwierigen Produktionsverhältnisse (Verzögerungen, zahllose Takes, ein Feuer verwüstete das Set, die Kosten stiegen immer weiter) stets auf dem Laufenden, und ich glaube nicht, dass ich jemals die Entstehung irgendeines Films mit größerem Interesse verfolgt habe… Ich war fast gelähmt vor Spannung.“
Dann kam Ende 1979 ein Trailer heraus, schlicht und beinahe minimalistisch, nur eine einzelne Aufnahme: „Ein Aufzug im Overlook, dessen Türen offenbar langsam aufgedrückt werden, weil die Kabine mit Blut gefüllt ist, das in Zeitlupe herauszufließen beginnt und dann in Wogen auf uns zuströmt, bis das Blut gegen die Kamera brandet und die Linse rot färbt und die Filmcredits in Neonblau über diese eine Einstellung laufen.“
Er sieht den Trailer im Herbst 1979 und der ersten Hälfte 1980 viele Male, wird jedes Mal wieder neu gepackt. Zählt die Tage, die Stunden, bis er endlich den Film sehen kann. Und dann – aber das ist dann sein Buch, sein Roman – sieht er während dieses Films einen Jungen ins Kino kommen, den er nie wieder aus dem Kopf streichen kann. Sein 736-Seiten-Buch „The Shards“ ist der Versuch eines Exorzismus.
So ist das mit dem Horror.

Ein wenig Ähnlichkeiten haben sie ja, der Verleger Benedikt Taschen und der Regisseur Stanley Kubrick: eine gewisse Grandeur, keine Angst vor Großprojekten und den Ehrgeiz, die bestmögliche und für die Konkurrenz erst einmal einzuholende Qualität vorzulegen. Nun also 43 Jahre nach der Filmpremiere „Stanley Kubrick’s The Shining“ als exquisite Box mit zwei Bänden und Ephemera, Faksimile-Reproduktionen und Extrabüchern, zusammen fast 20 Kilo schwer, 2198 Seiten stark – vorerst nur als Collector’s Edition von 1000 nummerierten Exemplaren, zum Preis vom 1500 Euro, gewiss schon bald höher gehandelt. Welch eine Filmpublikation.
Und blenden Sie nicht ab, wenn der Preis noch schreckt. Taschen ist ein Top-Down-Publisher. Ohne solche Exklusivprojekte ließen sich diese Art Editionen gar nicht stemmen und beginnen. Nach gebührender Zeit lässt sich mit Volksausgaben rechnen, wie zur Zeit etwa bei „Mickey Mouse“ (60 Euro statt der XXL-Ausgabe für 150). „Das Kubrick-Archiv“, 2005 großformatig zum Preis von 150 Euro erschienen, gibt es in der Bibliotheca Universalis heute für 20 Euro: als Hardcover, 14 x 19,5 cm, 1,06 kg, 704 Seiten, wahnwitziges Preis-Leistungs-Verhältnis.
Jetzt also 19,9 Kilogramm von „The Shining“. Eine Box, die zu öffnen fast ein wenig dem Hotelaufzug im Film ähnelt. Dort ist es ein Sturzbach von Blut, der sich ins Foyer ergießt – eine Szene, die (bei Kubrick völlig unüblich) nur einmal gedreht wurde. Hier öffnet sich, vom Pariser Kunst- und Design-Team M/M gestaltet, eine überwältigende Wunderkammer voller Kubrick-Köstlichkeiten:
„The Making of Stanley Kubricks ‚The Shining’“ von J.W. Rinzler und Lee Unkrich (mit 910 Seiten, reich illustriert)
Karikaturen der Crew vom Make-up-artist Tom Smith (60 Seiten)
Set-Design Skizzen (52 Seiten)
Skizzen von Saul Bass für das Filmplakat (80 Seiten)
Die Typoskriptseiten aus Jack Nicholsons Schreibmaschine (115 Seiten; ja: eigentlich immer nur der gleiche Satz)
Faksimile des Drehbuchs voller Anmerkungen (410 Seiten)
Ein Fotoalbum/ Sammelbuch (scrapbook) des Overlook Hotels.

Die Veröffentlichung umfasst Hunderte von unveröffentlichten Set- und Backstage-Fotografien, seltene Originaldokumente, Kubricks private Korrespondenz sowie Szenenbildentwürfe aus dem Stanley Kubrick Archive und den Privatarchiven der Darsteller und der Crew.
Zehn Jahre waren J.W. Rinzler und Lee Unkrich mit der Spurenlese mit diesem Buch beschäftigt, sie führten Hunderte Interviews, durchforsteten und Archive und Sammlungen, oft vom Glück der Tüchtigen begünstigt. J. W. Rinzler (1962–2021) erlebte leider das Erscheinen dieses Werkes nicht mehr, er war der Autor von mehr als 20 Büchern, darunter drei New York Times-Bestsellern (u. a. „The Making of Star Wars“ und „The Complete Making of Indiana Jones“). 15 Jahre lang war er Geschäftsführer von Lucasfilm in San Francisco. Seine jüngsten Bücher waren der Weltraum-Thriller „All Up“ und die Biografie „Howard Kazanjian: A Producer’s Life“. Herausgeber Lee Unkrich, vom Hollywood Reporter als „der führende Shining-Kenner“ bezeichnet und selbst als Regisseur zwei Oscars im Schrank (für „Toy Story 3“ und „Coco“), gehört seit 1994 den auf Computeranimationen spezialisierten Pixar Animation Studios an. Beide Autoren teilen eine lebenslange Faszination für „The Shining“, ihres Forscherinteresses wegen brachte Kubrick-Schwager Jan Harlan sie zusammen – es war ein Glücksfall für dieses Projekt.
So genau und so anschaulich hat (retrospektiv) noch niemand dem Meister Kubrick bei der Arbeit zuzusehen vermocht. Die Lektüre dieses „Making of“ ist augenöffnend. Der Band vermittelt viele Beispiele von Kubricks komplexem Genie, erlaubt tiefe Einblicke in den Entstehungsprozess seines filmischen Meisterwerks und in seine Denk- und Arbeitsweise. Hunderten von Stunden an exklusiven Interviews mit den Darstellern und der Crew wurden für dieses Buch verdichtet, dazu gibt es jede Menge an illustrativem Material und viele Anekdoten und Hintergrund. 910 Seiten für einen 144-Minuten-Film. Plus die anderen Box-Materialien.
Der Filmort als eigener Charakter
Erstaunlich zum Beispiel, wie früh im Produktionsprozess – noch vor dem Drehbuch und dem Casting – sich Kubrick bereits mit dem Film-Ort auseinandersetzte, wie sehr er Stephen Kings ihm als Korrekturfahne vorliegendes Buch „verortete“, wie er die Geschichte nicht nur als eine Reise in einen Schriftstellerkopf sondern auch als Durchmessen eines großen Gebäudes – eines nach Saisonende verlassenen Grandhotels – visualisierte und als eigenen Charakter begriff.
Die Fotos, die Kubrick und Jack Nicholson zusammen mit dem Hecken-Labyrinth in „The Shining“ zeigen, bringen Kubricks Genie auf den Punkt. Geometrisch perfekt gezirkelt, so viel Symmetrie wie nur möglich, die Welt nach seiner Vorstellung erschaffen und vermessen, klar in der Form und dennoch für alles Irrlicht offen, peilt der Meister die Blick- und Bildachsen vorab am Modell, plant Kamerafahrten und Einstellungen, „schreibt“ seinen Film. In seiner Adaption der 1977 erschienenen Romanvorlage von Stephen King lauert das wahre Grauen in den dunkelsten Winkeln der Häuslichkeit und der sozialen Isolation.


TM & © WARNER BROS. ENTERTAINMENT INC., Courtesy of Jim and Ann Lloyd
Die Außenansicht modellierte Kubrick nach langer Suche in Kanada, New Mexiko, Alaska und Nevada aus der Timberline Lodge in Oregon; für die Innenausstattung war das indianisch inspirierte Ahwahnee Hotel im Yosemite National Park das Vorbild. Der Teppichboden im Filmhotel war ein eigenes, langes Suchkapitel. Für jedes Bild an den Hotelwänden gibt es eine Geschichte. Was immer Sie je über Kubrick gehört haben: Nehmen Sie es mal zehn.
Stephen King übrigens kam bei einem Aufenthalt im (dem Overlook gar nicht so unähnlichen) ziemlich leeren Stanley Hotel, in Estes Park, Colorado, auf die Idee zu einem Roman mit einem für Übersinnliches empfänglichen Jungen. Seine Frau Tabitha hatte dort extra das verwunschene Zimmer 217 gebucht, nach dem Dinner saß King dann noch als der einzige Hotelgast an der riesenhaften Theke. „Darkshine“ war der Titel, den er sich für seine Romanidee über einen in einem solchen Haus mit seiner Familie isolierten und langsam durchdrehenden Schriftsteller überlegte.
Dass auch ein Stück Stephen Crane in „The Shining“ steckt, ist eine der kleinen Offenbarungen des „Making of“-Buches: nämlich die Kurzgeschichte „The Blue Hotel“. Deren Hauptfigur ist paranoid und bei einem Pokerspiel zusehends davon überzeugt, betrogen zu werden. Er beschuldigt einen Mitspieler, bricht einen Streit vom Zaun, wird getötet. Man könnte denken, er sei an seinem Ende selbst schuld. Aber dann stellt eine Erkenntnis das alles auf den Kopf. Auch in „The Shining“ scheint es am Ende so, dass es das Übernatürliche wirklich gibt.

Kubrick war ein Regisseur, der sich nicht wiederholen wollte. Jeder Film ein eigenes Meisterwerk. Er deklinierte die Filmgenres durch. An Horror war er schon lange interessiert, bereits 1966 verriet er einem Freund, er würde gerne „the world’s scariest movie“ drehen. Für ihn war es eine intellektuelle Herausforderung, einen Horrorfilm „richtig“ zu machen. Er führte bei 13 Spielfilmen Regie, „jeder eine Tour de Force, jeder ein Sprung ins Unbekannte, jeder auf von ihm noch nicht betretenen Terrain“, so Steven Spielberg in seinem Vorwort. „What all his films had in common was his incredible mastery of craft and his ever- questioning mind. In each new genre, and in each element of his filmmaking, he was constantly asking himself, is this a norm? Has this already been done? And, if so, how can I push beyond to find something fresh and interesting?“
Etwas Neues im Genre zu schaffen, dessen Grenzen zu sprengen, das trieb Kubrick an. Als Co-Drehbuchautorin für seinen Horrorfilm holte er sich die amerikanische Schriftstellerin und Essayistin Diane Johnson, von der er glaubte, dass sie die Essenz des „Gothic“ erfasst habe, zudem war ihm ein weiblicher Blick wichtig. Johnsons rabenschwarzer Roman „The Shadow Knows“ (Dutton, 1974) und ihre Studie der Schriftstellergattin Mary Ellen Peacock Meredith (1821–1861), „The True History of the First Mrs. Meredith and Other Lesser Lives“ (A. A. Knopf, 1972), hatten beide eine terrorisierte, aber resiliente Frau im Zentrum.

Filmen auf dem fliegenden Teppich
Stephen King hasst Kubricks Verfilmung bis heute, aber das ist eine eigene Geschichte. Auch die vom Zimmer 237 – Stoff für einen eigenen Film – und in „Dr. Stranglove“ übrigens die Codenummer, die in den B 52-Computer eingegeben werden muss, um den nuklearen Weltkrieg auszulösen. Für mich ist „Shining“ vor allem ein Film, in dem ein Vater voller Wut zur Gefahr für seinen Sohn wird. Da hatte mich gegen meinen schon gewehrt und wir sprachen Jahre nicht miteinander. Es war aber auch der Film, in dem ich erneut Eleganz wie zuvor höchstens noch in seinem Vorgänger „Barry Lyndon“ erlebte und zum ersten Mal begriff, was eine Steadycam als Filmauge vermag.
Während Kubrick vom Herbst 1973 bis Mitte 1974 in Irland und England bei ausschließlich echtem Kerzenlicht „Barry Lyndon“ drehte, hatte er bereits eine optische Neuerung im Blick. Ed Di Giulio, Präsident der Cinema Products Corporation, der ihm bei der Entwicklung der kameratechnischen Hardware für die Kerzenlichtaufnahmen geholfen hatte, schickte ihm die 35mm-Demonstrationsrolle einer neuen Art von Kamera, von seinem Geschäftspartner Garrett Brown entwickelt. Es war ein komplexes Halterungssystem für eine tragbare Filmkamera, ein Schwebestativ, auch Steadycam genannt, das einem frei beweglichen Kameramann verwacklungsarme Bilder ermöglicht. Die Kamera schwebt und gleitet, kein Kran oder Schienensystem schränkt die Bildachsen ein, keine Treppe ist ein Hindernis.
Erstmals in einem Kinofilm eingesetzt wurde die Steadycam-Kamera in Hal Ashbys „Bound for Glory“ (1976), prompt mit einem Oscar für die Beste Kamera ausgezeichnet. Es folgten John G. Avildsens „Rocky“ (1976) mit einem mitreißenden Lauf die Treppen hoch und einem tänzerischen Einsatz im Ring, dann folgte, ebenfalls 1976, noch John Schlesingers „Marathon-Mann„. 1979 hatte die Steadicam im deutschen Film Premiere. Der stets innovative Niklaus Schilling realisierte damit fast komplett seinen „Willi-Busch-Report„. Sein Kameramann/Operator war Wolfgang „Dickie“ Dickmann, mit dem ich einmal einen faszinierenden Abend auf seinem mit diesem Einsatz verdienten toskanischen Landgut verbrachte, wo er von dieser rückenschindenden Arbeit erzählte.
Eine Steadycam zu führen, forderte Übung und Geschick, trotz des intelligenten Tragesystems muss man Trägheit und Schwerkraft austricksen und antizipieren. In „Shining“ folgt die Kamera dem Bobbycar des jungen Danny Torrance durch die Hotelgänge oder verfolgt die rennenden Schauspieler durch ein verschneites Heckenlabyrinth vorwärts und rückwärts. Ein Kamerakran hätte zwischen den hohen Hecken keinen Platz gefunden, ein Schienensystem (Dolly) solche Aufnahmen nicht erlaubt. Der Erfinder Garrett Brown selbst führte für Kubrick die Steadicam. Seine Kamera scheint durch die Luft zu schweben. Es war ein Prototyp, die neue Universal II Raised-Monitor Steadicam, die es einer Arriflex 35BL Kamera erlaubte, auf ihrer Plattform ohne Erschütterungen von Hüfthöhe bis hinunter auf 45 cm Bodenhöhe gesenkt zu werden. Besonders diese Untersichten taten es Kubrick an, wir sehen die Welt quasi auf Kinderaugenhöhe. „Man kann damit gehen oder rennen oder Treppen steigen, die Steadicam gleicht alle Unebenheiten aus. Sie ist wie ein Zauberteppich“, meinte Kubrick begeistert. – Das richtige Instrument also für einen Meister wie ihn.

Jedes Mal eine Narbe mehr
Kubricks Genrevariante ist ein Film, dessen Horror sich im Tageslicht artikuliert. Noch einmal Steven Spielberg:
„The Shining, I believe, was the first scary movie ever made in bright light. It is the most brightly lit ghost story ever told, and it proves that a great storyteller can use the light, not the dark, to scare the pants off an audience. The same reversal is at play in the film’s rhythms. Scary movies usually require quick cutting, fast pacing, and unexpected, jack- in-the-box scares. But The Shining is a languorous horror film — a critical study of the art of the pause, the art of the stage wait, the art of the silent gaze before anyone speaks. It allows its scenes to linger, taking you out of a dramatic narrative format and forcing you into a real-time experience.
This is what distinguishes The Shining from other horror films. By upending every single law of horror gravity, Stanley is communicating to the audience that this film has a whole new playbook. The rules we thought we knew, the norms established by all the classic horror films that came before do not apply—and therefore we are not safe. I’ve seen The Shining countless times, and every time I come out of it with one more scar.“
Soweit Kollege Steven Spielberg. Die „Making of“-Recherche schlägt aber auch andere Töne an: Wie war es, mit Kubrick zu arbeiten?, fragte Lee Unkrich zehn Jahre danach die nach „Shining“ ziemlich von der Bildfläche verschwundene Schauspielerin Shelley Duvall. „Fast unerträglich“, antwortete sie. Tag für Tag absolut aufzehrende Arbeit. Jack Nicholsons Figur muss dauernd verrückt und wütend sein, sie selbst musste zwölf Stunden lang weinen, den ganzen Tag, neun ganze Monate am Stück, fünf oder sechs Tage die Woche. „Ich war einen Jahr und einen Monat am Set, und nach all der Arbeit sprach kaum jemand von meiner Darstellung, kaum jemand erwähnte sie. Die Filmkritiken kreisten alle um Kubrick, als ob ich gar nicht dagewesen sei.“
Alf Mayer
Lee Unkrich, J. W. Rinzler: Stanley Kubrick’s The Shining. Box mit 2 Bänden und einem Ephemera-Set einem Ephemera-Set mit Faksimile-Reproduktionen und originalen Artwork-Büchern. Verlag Taschen, Köln 2023. Collector’s Edition von 1000 nummerierten Exemplaren. Gewicht 19,9 kg, 2198 Seiten, 1.500 Euro. – www.taschen.com
Hier eine Galerie von Sekundärliteratur zum Film:
Und hier, mit freundlicher Genehmigung des Verlages, weitere Seiten aus der „Shining“-Box:











