
Sprich, Erinnerung … oder Blutige Scherben
Einige Gedankensplitter (und Songs) zu Bret Easton Ellis und seinen neuen Roman „The Shards“ – von Marcus Müntefering
(Über die Links bei den Covern geht es zu den Musikstücken – bei diesem Text geht es auch ums Hören… – d. Red.)
„The Shards“, das ist ein Buch der Erinnerungen. Richtiger, falscher, eingebildeter, ausgedachter Erinnerungen. Es ist auch ein Buch, dass bei seinem Leser, zumindest, wenn er ein später Babyboomer oder, wie dieser Autor, früher GenXer ist, Erinnerungen triggert. Permanent. Denn „The Shards“, gerade weltweit parallel erschienen, in Deutschland bei Kiepenheuer &Witsch, ist, wie alle Romane von Ellis, auch eine Referenzmaschine.

Kaum eine Seite, auf der nicht Namen von Filmen, Fashionlabels und Popmusik referenziert werden. Und weil der Roman in wenigen Monaten des Jahres 1981 spielt, kennt man jeden dieser Songs, dieser Streifen (klingt abwertend und ist auch so gemeint, die meisten Filme dieser Zeit sind heute schier unerträglich), dieser Ralph-Lauren-Poloshirts (mit hochgestelltem Kragen, klar) und Armanihemden (das günstigere, logogebrandete Emporio Armani, nicht die Hauptlinie Giorgio Armani, dessen lässige Anzüge Richard Gere in „American Gigolo“ in den USA populär machte). Und dann ist da noch der Gucci-Rucksack, der von Ellis natürlich nie einfach nur Rucksack genannt wird, sondern immer der Gucci-Rucksack.
Eine der ersten Erinnerungen, die die Lektüre triggerte, war an eine Diskussion mit meinem US-amerikanischen Gastdozenten, damals an der Hamburger Uni, Anfang der 90er. Wir, ein sehr kleiner Kreis, beschäftigten uns ein Semester lang mit William Gaddis und seinem Prä-Postmodernemammutwerk „The Recognitions“. Am Ende dieser fantastischen, verwirrenden Zeit fragte der Prof, ich glaube, er hieß Joseph Tabbi, was wir aktuell gern lesen würden. Ich hatte gerade „American Psycho“ verschlungen (oder das Buch mich?) und meinte, es sei mit das Beste, das ich je gelesen hätte. Und der Prof? Schaute mich mitleidig an, als sei ich auf dem völlig falschen Pfad und sagte: „This is a one idea novel. Nothing more.“ Ich erinnere mich (wenn die Erinnerung denn stimmt), leicht wütend dagegen argumentiert zu haben und wenig damit zu erreichen. Dabei hätte es vielleicht gereicht zu sagen: “But when the idea is as good as this, one is just enough.”

Distanz und Immersion als paralleles Erzählprinzip
Gott, ja, wer „The Shards“ liest, braucht keinen Psychiater mehr. Oder gerade. Wie bei „American Psycho“ ist es nötig, sich von diesem Roman überwältigen zu lassen – und das heißt auch – schreckliches Tabu – identifikatorisch zu lesen. Alles andere ergibt keinen Sinn, dann prallt man ab an den polierten Oberflächen. Und dann wird es schnell langweilig.
Das ist der Trick, den Bret Easton Ellis perfekt beherrscht: Er zieht uns hinein in den Maelstrom seiner Erzählung – und das obwohl er die Fiktionalität des Erzählten immer wieder thematisiert. Distanz und Immersion als paralleles Erzählprinzip. Letztlich ist, zumindest in der Logik von „The Shards“ alles Fiktion (Simulakrum ist eines von Ellis‘ Lieblingswörtern), jedes Leben eine Inszenierung, die Frage ist nur, wer eigentlich Regie führt.
Beunruhigende Banalitäten
Zur fürchterlichsten Form der Literatur gehört natürlich das Memoir, und es brauchte möglicherweise einen Erzähler von Ellis‘ Format, um das Memoir, diese endlose, sich in Banalitäten wälzende Nabelschau, zu erlösen, als Fake-Memoir. Seltsamerweise gelingt das, indem Ellis noch mehr Banalitäten aneinanderreiht. Nur dass all diese Banalitäten und Petitessen in „The Shards“ ihr volles Beunruhigungspotenzial entwickeln. Jede Geste, jeder Satz, jeder Blick scheint ein schreckliches Geheimnis anzudeuten – zu beschützen oder preiszugeben.

„The Shards“ ist auch eine Coming-of-Age-Erzählung – nur, dass hier niemand jemals wirklich erwachsen wird. Die 17-Jährigen Schüler nicht und ebensowenig ihre Eltern. Auch Bret Ellis nicht, der Erzähler dieses Roman, der heute (im Roman) 56 Jahre alt ist und dessen Differenz zum „echten“ Bret Easton Ellis sich nicht nur (aber wie weit?) durch das Fehlen des middle names Easton ausdrückt. In diesem Spiel von Autor und Erzähler, Wirklichkeit und Fiktion bleibt Ellis vorbildlich postmodern, also hinreißend altmodisch. Weil er die „Regeln des Spiels“ so meisterhaft beherrscht wie kein anderer.
Fast zehn Stunden lang ist die Spotify-Playlist zu “The Shards”: „Every song mentioned or hinted at in Bret Easton Ellis‘ The Shards in the order of appearance.” Zu diesen Songs gehört “Vienna” von Ultravox, und dessen Songzeile “This means nothing to me“ ist ebenso Leitmotiv des Romans wie „Icehouse“ von der gleichnamigen australischen Band. Und wenn ich diese Songs heute wiederhöre, frage ich mich, wie so kalte und unheimliche (aber auch unheimlich großartige) Musik jemals die Charts dominieren konnte – 1981 war auch ein Versprechen auf die glorreiche Zukunft des Pop, das dann 1982 eingelöst wurde, aber ich schweife ab.
Bret Ellis, der Erzähler wird ganz am Ende seiner Geschichte über diese Songs, die dem 17-jährigen Bret Hoffnung gaben, sagen: „Nun klangen viele der Stücke nach verzweifelter Begierde und Zurückweisung und Flucht. Handelten die Lieder, wie ich einmal geglaubt hatte, von einem Kind, das zum Mann wurde, so handelten sie für mich als Sechsundfünfzigjährigen auch von einem Mann, der ein Kind geblieben war.“

Aufzuwachsen, ein Teenager zu sein, an der Schwelle zum Erwachsenendasein zu stehen, das kann Angst machen. Und viel von dem Schrecklichen, das in „The Shards“ passiert, kann als Metapher auf die Schrecken des Heranwachsens interpretiert werden, auf den Wettbewerb um Aufmerksamkeit, Beliebtheit, Coolness. Ein Wettbewerb, dessen verlockender Preis Sex ist. Für Bret Ellis ist das Spiel noch ein wenig furchterregender, da er homosexuell ist und seine Fantasien zwar heimlich auslebt, aber im Alltag verstecken muss – 1981 war Homosexualität noch ein ziemliches Tabu, selbst im sich so überaus liberal gebenden Hollywood.
Apropos „Nowhere Girl“: Bret hat eine Freundin, und meistens sieht er Debbie, Tochter eines ebenfalls heimlich schwulen Hollywoodproduzententen und einer Alkoholikerin, auf dem Schulhof, wo sie Teil der hipsten Clique der exklusiven Buckley School sind. Manchmal treffen sie sich, dann haben sie viel Sex, der wie der verzweifelte Versuch wirkt, einerseits eine Leidenschaft zu kreieren, die nicht existiert (wieder einmal das Leitmotiv Wahrheit/Fiktion), und andererseits die durch Pornovideos (Video im Sinne von Betamax) ausgelösten Fantasien einzuholen. Oversexed ist alles in „The Shards“, denn hey, wir sind in Hollywoodland, und die boys and girls sind seventeen.
Der Sinn des Lebens: Prada, Prada, Prada
Bret Easton Ellis kehrt zurück in die Welt seiner Jugend, in die Welt, in der auch sein Debüt „Unter Null“ spielt, dieser fast dokumentarisch anmutende Roman über eine Clique wohlstandsverwahrloster Jugendlicher, mit seinem bewusst coolen, kokainkalten Stil, seiner Faszination für Glamour und Morbidität, bei gleichzeitiger impliziter Kritik am Kapitalismus US-amerikanischer Ausprägung, der eine Generation seelenloser potenzieller Monster hervorbringt; ein Roman, der Ellis, damals erst 21 Jahre alt, zu einem Superstar der Literaturszene machte.
Ellis surfte dann auch in der blutigen Satire „American Psycho“ (1991) auf der Oberfläche der Dinge, und es gibt genügend Hinweise darauf, dass es unterhalb dieser verführerisch funkelnden Oberfläche nichts gibt; die Frage nach dem Sinn des Lebens beantwortet ein Protagonist von Ellis‘ wohl bestem, auf jeden Fall ambitioniertestem Roman „Glamorama“ mit: „Prada, Prada, Prada“, und GenXer werden sich daran erinnern, wie ab Mitte der 90er die eigentlichen Ideologielinien durch Prada, Jil Sander und Helmut Lang markiert wurden.
Noch eine Abschweifung: Tarantino-Kumpel Roger Avery, der auch Easton Ellis‘ „Die Regeln des Spiels“ solide kinofiziert hatte, hat „Glamorama“ vor etlichen Jahren als „Glitterati“ verfilmt. Allerdings wurde der Film aus rechtlichen Gründen nie öffentlich gezeigt, die einzige Chance, ihn zu sehen, so Easton Ellis in seinem Podcast, sei bei Avery zu Hause auf dem Laptop.

Mit „The Shards“ also kehrt Ellis zurück nach L.A., der Stadt, in der er aufwuchs und wo er heute wieder zu Hause ist und seit mehr als zehn Jahren einigermaßen erfolgreich davon lebt (auch diese Info stammt aus seinem Podcast), Drehbücher für Filme zu schreiben, die nie realisiert werden. Ausnahme: „The Canyons“, leider einer der wenigen schlechten Filme, die Paul Schrader in fast 50 Jahren gedreht hat.
Aber ich schweife schon wieder ab – die Erinnerungen, sorry. Wobei, genau diese Trigger einen beachtlichen Teil des Reizes von „The Shards“ ausmachen und ich mich frage, ob ein Leser aus der Gen Y oder Z diese Codes überhaupt verstehen kann und ihn dieser Roman vollkommen kalt lassen würde oder er sich stattdessen über die fehlende PC-Perspektive erregen würde.
Ellis also kehrt nach 40 Jahren zurück nach L.A., und er ist wieder 17 und geht zur Schule und ist beliebt und hat die Villa am Mulholland Drive meistens für sich allein, weil seine Eltern nie zu Hause sind, und er hat genug Geld für die richtigen Klamotten und Schallplatten (oder Musikkassetten) und Kinobesuche, und alles könnte irgendwie ganz schön gut sein – wenn nicht alles eine Lüge wäre. Bret Ellis ist eigentlich schwul und zutiefst verstört, als ein Serienkiller, genannt The Trawler, Kids in seinem Alter umbringt. Je länger der Roman dauert (und er hat stolze 730 Seiten), desto heftiger wird seine Paranoia, desto erratischer sein Verhalten.
Die Regeln des Spiels
Bret Ellis, der Ich-Erzähler, gehört zu den großen unreliable narrators der Literaturgeschichte. Und was wirklich passiert in „The Shards“ werden wir nicht mit Sicherheit bestimmen können. Ist das heftige Finale mit den titelgebenden blutigen Spiegelsplittern real oder eingebildet? Ist Bret in Wahrheit selbst der Killer? Oder hat es ihn nie gegeben? Bret Ellis treibt das Spiel sehr, sehr weit. Was mit der Entstehungsgeschichte des Romans zu tun haben könnte.
Die ersten Ausschnitte daraus hörte ich im Podcast (bei Patreon 6,49 Euro im Monat) von Easton Ellis, den ich immer mal wieder abonniere, wegen Ellis‘ schlauen Gedanken zum Kino, das er leidenschaftlich liebt, wegen der Gäste von Walter Hill über Quentin Tarantino bis Sam Wasson (dessen Buch über die Entstehung von „Chinatown“ zu den besten Filmbüchern ever gehört) – und eher nicht wegen der ewigen Tiraden gegen die Cancel Culture und Wokeness. Wobei Ellis zwar oft Recht hat (wie auch in seinem 2019 erschienenen Lang-Essay „Weiß“, einem Abgesang auf das frühere Amerika, das er „Empire“ nennt), aber allzu oft die Contenance und seine natürliche Eleganz verliert. Was auch wieder faszinierend ist, wenn etwa wie bei einer der jüngeren Folgen mit Schriftsteller Walter Kirn („Up in the Air“), Elon Musk als Twitter-Retter gefeiert und Kanye West als Jokerfigur reetabliert wird. Wer in der Lage dazu ist, andere, gelegentlich ziemlich irre Meinungen als die eigene zumindest anzuhören/auszuhalten, kann hier viel Spaß haben. Wobei, immanenter Widerspruch: Für jemanden, der behauptet, style sei wesentlich wichtiger als ideology, wirkt denn manche Tirade doch reichlich ideologisch motiviert.
Ein Jahr lang begann jede Podcast-Folge mit einer Lesung aus der Geschichte, die laut Easton Ellis nie ein Roman werden sollte. Sondern tatsächlich eine Art Erinnerungsstück. Natürlich war auch das schon Teil des Spiels – wie, so werde ich das Gefühl nicht los, auch die zahllosen Interviews, die er zu „The Shards“ inzwischen gegeben hat und in denen er die Interviewer schnell zu durchschauen scheint und ihnen ins Mikro diktiert, was sie hören wollen. Wenn du die Wahl hast zwischen Wahrheit und Legende, dann wählst du die Legende, das ist schon seit John Fords „Der Mann, der Liberty Valance erschoss“ so.
Bret Ellis, der Erzähler, stellt einen neuen Mitschüler, Robert Mallory, in den Fokus. Auf ihn projiziert er seine Ängste und Zweifel, seine sexuelle Sehnsucht, seinen Hass. Und er zeigt mit dem Finger auf ihn: Robert sei vielleicht der Trawler selbst oder einer seiner Helfer und/oder Mitglied einer seltsamen Sekte von Späthippies (von der Manson-Family inspiriert), die die Reichen und Schönen mit teils brutalen Interventionen irritieren.
Authentizität im absolut Unauthentischen
Es ist dabei natürlich eine sehr bewusste Setzung, dass das erste (vielleicht nur vermeintliche) Aufeinandertreffen zwischen Bret und Robert in einem Kino stattfindet, bei einer Vorführung von „The Shining“ ausgerechnet. In Stanley Kubricks Stephen-King-Verfilmung geht es um einen langsam in den Irrsinn abdriftenden Schriftsteller, in „The Shards“ wohnen wir der Genese von Breat Easton Ellis‘ erstem Roman „Unter Null“ bei – und wie irre, wie gefährlich der Roman-Bret ist, lässt Easton Ellis lange offen.

Das Kino ist eines der zentralen Motive in „The Shards“. Bret fühlt sich selbst wie der Hauptdarsteller seines Films (oder Romans), und das Kino – er schaut gefühlt jede Neuerscheinung – scheint der einzige Ort zu sein, wo er so etwas wie ungefilterte Erfahrungen macht, sozusagen die Erfahrung von Authentizität im absolut Unauthentischen. Und wenn Bret sich für einen Moment glücklich fühlt oder frei, meistens am Steuer des Mercedes-Cabrios, wenn er nachts, meist leicht high auf Quaaludes und Gras und Alkohol, über den Mulholland Drive oder den Sunset Boulevard cruist (es wäre bestimmt spannend, ein Bewegungsprofil Brets zu erstellen, jede Route, die er nimmt, ist mit Historie und Bedeutung aufgeladen, mit Erinnerungen, die wiederum aus dem Kino stammen), dann fühlt er sich wie Richard Gere als Julian Kaye (Vorbild für den Julian aus „Unter Null“) in „American Gigolo“, Paul Schraders nachhaltig beeindruckendem Film, der die Achtziger einläutete und vorwegnahm, so wie Ellis sie mit „American Psycho“ beendete.
Ist Bret Easton Ellis ein Nostalgiker? Ja und nein, er evoziert die Vergangenheit, er dekonstruiert sie gleichzeitig. Er weiß natürlich, dass die Unschuld, von der sein Erzähler Bret spricht, nicht erst durch das Auftauchen Robert Mallorys verlorengegangen ist, also pure Behauptung bleibt. Dennoch zeigt er eine Welt, die für ihn einfacher und strahlender und technicolorhafter war als die heutige (und wer wollte ihm da widersprechen?), und es ist durchaus verführerisch, sich dorthin treiben zu lassen, dort verlorenzugehen, einfach nicht wieder aufzutauchen.
Natürlich: Den Trawler hat es nicht gegeben. Natürlich: Bret Ellis hat es nie gegeben. Aber vielleicht gibt es ja Bret Easton Ellis wirklich. Falls nicht, ist er eine geniale Erfindung.
Marcus Müntefering
Seine Texte bei uns hier.