Geschrieben am 1. April 2023 von für Crimemag, CrimeMag April 2023

AM: Das indische Crime-Epos „Gangs of Wasseypur I & II“

Mehr als fünf Stunden große Filmkunst

„Gangs of Wasseypur“ von Anurag Kashyap erweitert den Kanon der besten Gangster-Epen aller Zeiten

Gerade hebt die Romansaga „Zeit der Schuld“ (Age of Vice) von Deepti Kapoor Indien wieder auf die Landkarte der Kriminalliteratur. Gangsterfilme haben dort eine bildmächtige Tradition. Jetzt Ende März 2023 gab es in Frankfurt die Gelegenheit, das indische Gangsterepos  „Gangs of Wasseypur“ (Indien 2012, 321 Minuten) von Anurag Kashyap auf der Leinwand zu sehen. Alf Mayer ließ sich das nicht entgehen.

„People will be fooled as long
as they watch movies in this country.“ 
(Gangsterboss Ramadhir Singh im Film)

Möglich wurde mir diese Begegnung, weil das Deutsche Filminstitut dem Regisseur Fatih Akın Carte Blanche für eine Auswahl von Gangsterfilmen gegeben hatte, die ihn besonders prägten. „In diesem Film macht das Kino, was es soll“, meinteFatih zu diesem Film. „Westliche“ Kino-Öffentlichkeit gab es für dieses Werk außerhalb Indiens und der Uraufführung bei der Quinzaine des Réalisateurs in Cannes 2012 sowie Festivalauftritten in Sydney, Toronto, Stockholm und Sundance bis heute kaum. Wie Tarantinos „Kill Bill“ wurde das über fünfstündige Werk „for theatrical releases“ in zwei Teile aufgeteilt. Ich bin froh, den Film an einem Stück auf der Leinwand erlebt zu haben.

Es ist ein großes dunkles Epos, in klassisch altmodischem Sinn. Ebenso klassisch hat es einen Off-Erzähler, den sich oft selbst geißelnden Onkel und Consigliere Nasir (Piyush Mishra). Als einer von nur wenigen Filmfiguren schafft er es lebend bis zur Coda. Die Handlung des fast fünfeinhalbstündigen Films spannt sich über 68 Jahre, von 1941 und dann der Unabhängigkeit Indiens bis ins Jahr 2009. Drei Gangsterfamilien und drei Generationen, gewaltsam miteinander verwoben, von Rache-, Ehr- und Machtgelüsten zerfressen, bekriegen sich. Die Sünden der Väter wiederholen sich geradezu biblisch. Erzählt und enorm bildhaft wird dabei zudem das politische, ethnische, historische und ökonomische Geflecht. Charismatische Darsteller brennen sich ins Bildgedächtnis ein, auch die Frauenfiguren sind extrem stark. Typisch eurozentrische Ignoranz wäre es, diesen Film künftig nicht mit im Kanon der wirklich großen Gangster-Epen zu nennen. Er ist auf – mindestens – Augenhöhe mit:

Der Pate I & II (The Godfather, R: Francis Ford Coppola, 1972 und 1974, 175 und 202 Min.)
The Harder They Come (Perry Henzell, 1972, 120 Min.)
Es war einmal in Amerika (Once Upon a Time in America, Sergio Leone, 1984, 242 Min.)
Scarface (Brian DePalma, 1983, 170 Min.)
Goodfellas (Martin Scorsese, 1990, 150 Min.)
Gangs of New York (Martin Scorsese, 2002, 167 Min.)
City of God (Cidade de Deus, R: Fernando Meirelles und Kátia Lund, 128 Min.)


Gangs of Wasseypur“ ist einer der ambitioniertesten Gangsterfilme, die je gemacht wurden, und auch einer der allerbesten. Noch in keinem anderen habe ich das Genre je selbst so reflektiert gesehen, wurden Meta-Kommentare so lässig gesetzt. Ziemlich gegen Ende des Films, kurz bevor der große Rachezyklus sich vollendet, fragt der Politiker und Gangsterboss Ramadhir Singh (Tigmanshu Dhulia) im Kreis seiner Untergebenen rhetorisch, warum er denn wohl noch am Leben sei – und so viele seiner Feinde und ihrer Nachkommen schon tot. Der Grund dafür, so erklärt er: „Because I don’t watch Bollywood movies.” Alle seine Freunde, sagt er, wollten seinerzeit so sein wie der Schauspieler Dilip Kumar. In der Nachfahren-Generation seien Stars wie Amitabh Bachchan, Salman Khan oder Sanjay Dutt die Vorbilder gewesen, und das habe sie alle in den Untergang geführt. „Every fucker”, sagt Ramadhir, „is trying to become the hero of his imaginary film . . . As long as there are movies in this country, people will continue to be fooled.” – Jeder Depp versuche, der Held seines eigenen imaginären Films werden. Alle aber würden sie wieder und wieder verarscht, solange es in diesem Land Filme gebe.

Anspielungen auf andere Filme und Spiegelungen von Filmklischees durchziehen den Film wie ein Nervensystem. Unmöglich für einen Nicht-Inder, das alles zu verorten. Einmal weint Faizal (Nawazuddin Siddiqui) beim Kinobesuch von „Trishul“, 1974. In diesem Film werden Amitabh Bachchan und seine Mutter vom Vater verlassen; ein Schicksal, das auch Faizal erleidet. Immer mehr gleicht er sich seinem Filmvorbild Bachchan an.

Klar ist zum Beispiel auch der Bezug auf Italowestern und deren Pragmatismus. „When you have to shoot, shoot. Don’t talk”, sagt etwa Eli Wallach auch in „Zwei glorreiche Halunken“ (Il buono, il brutto, il cattivo; 1966). Zahllose Verweise gibt es auf ganze Generationen von Bollywood-Filmen. Filmplakate oder Filmtitel geben oft Hinweis, in welchem Jahr der Film gerade spielt. Manchmal scheint es, als ob jede Figur im Film eben gerade die Romanze „Dilwale Dulhania Le Jayenge” (Wer zuerst kommt, kriegt die Braut, 1995) gesehen habe. Dieser Meilenstein des Bollywood-Kinos, liebvoll oft nur mit den Initialen DDLJ benannt, in dem der spätere Star Shahrukh Khan seinen ersten großen Auftritt hatte, läuft im Kino Maratha Maandir in Mumbai seit 1995 täglich, dies ununterbrochen, nun schon im 28. Jahr

Orientierte Paul Muni (in Lwiw/ Ukraine als Frederich Meshilem Meier Weisenfreund geboren) seinen „Scarface“ in Howard Hawks massiv zensiertem Film von 1932 noch am realen Al Capone, so gehört es längst zu den Ironien des crime cinema, dass fiktionale Gangster sich selbst nach anderen Leinwand-Gangstern modellieren. Für den jamaikanischen Rude Boy Ivan in „The Harder They Come“ sind das Italowestern-Helden; die neapolitanischen Junggangster in Matteo Garrones „Gomorrah“ träumen davon, wie Tony Montana in Brian De Palmas „Scarface“ zu leben. Auch die Gangster in den „Gangs of Wasseypur“ holen sich ihre Rollenmodelle aus dem Kino – und Zeishan Quadri, der Ko-Autor des Films, der in Teil 2 den jungen toughen Definite spielt, sagt ganz offen, dass er sich für seine Rolle einen der Stars aus Ramadirs Liste, nämlich Salman Khan, zum Vor-Bild nahm.

„Aber Mutter“, sagt Definite ziemlich zum Filmende, „wenn ich Streichhölzer gehabt hätte, hätte ich die Welt angezündet.“ – „Top of the world, Ma“, hieß das 1949 bei James Cagney in Raoul Walshs „White Heat“.

Faizal Khan (Nawazuddin Siddiqui, ein Darsteller, der zum Gesicht des indischen Autorenfilms geworden ist) und seine kinoverrückte Frau Moshina (die charismatische Huma Qureshi) setzen sich in einer Flirtszene gegenseitig nachgemachte Ray Bans auf, beschauen sich ihr cooles Spiegelbild im Gegenüber wie weiland Patricia Arquette und Christian Slater in Tony Scotts „True Romance“ (1994). Es gibt mehrere Momente aus Coppolas „Der Pate“, am deutlichsten natürlich die spektakuläre Hinrichtung eines der Helden an einer Tankstelle, aber auch ruhigere, etwa als Faizal seiner Gattin Moshina à la Michael Corleone reuevoll erzählt, er wünsche sich, nie in das Geschäft seines Vaters eingestiegen zu sein und die ganze blutige Saga damit schon vor Generationen zu einem Ende gebracht zu haben. 

Es ist einer der seltenen Momente, in dem der Film es sich erlaubt, Emotionen aufwallen zu lassen, und das wirkt umso schöner, weil die Kamera die Beiden im senfgelben Licht vor einem königsblauen Nachthimmel erfasst. Für einen Moment ist da Bollywood, ganz ohne Schmalz, ansonsten bleibt der Film oft in einem nahezu dokumentarischen Straßenmodus. Die Kamera von Rajeev Ravi operiert durchgängig meisterhaft, und Junge, kann er Verfolgungsjagden. Auf Tom Cruise etwa, in „Mission Impossible III“ (2006) durch Shanghai hetzend, setzt er in langen Straßeneinstellungen, oft partisanenhaft gedreht, locker eins drauf.

Gangs of Wasseypur“ beginnt mit einer vierminütigen Einstellung, bei der man den Atem anhält. Die Kamera fährt von einem Fernseher zurück, auf dem gerade eine Hindi-Seifenoper läuft, die ganze Hausgemeinschaft davor versammelt; sie springt auf die nächtliche Straße, wo Bewaffnete im Sturmschritt nach jemandem suchen, allen zurufen, die Ladengitter zu schließen, jeden über den Haufen schießen, der sich in den Weg stellt, und dann das Haus stürmen, in dem wir eben vorher waren, das Feuer auf die Türen eröffnen und Granaten in jede Öffnung werfen. Erst dann folgt ein Schnitt, der ein wenig verschnaufen lässt.

Das Filmtempo aber bleibt die nächsten fünf Stunden ungemein hoch, hat immer wieder ein Furioso oder Crescendo, ist larghetto, maestoso, martellato, moto, passionato, immer wieder prestissimo, presto possibile, ponderoso, tempestoso, vibrato, manchmal rubido oder piano oder giacoso oder lugubre, selten nur pianissimo– zwei oder drei Mal in einer Szene mit Mann und Frau –, aber immer, deciso, risoluto. Entschlossen. Dieser Film/ dieser Regisseur, weiß, was er will und er tut.

Gangs of Wasseypur“ ist Anurag Kashyaps bisheriges Opus Magnum (wobei ich die 16 Folgen von „Sacred Games“, seiner Vikram-Chandra-Verfilmung von „Der Pate von Bombay“, es war die erste original-indische Netflix-Produktion, nicht kenne). Es war sein achter Film, inzwischen ist er bei Nummer 17; „Kennedy“ wird wieder ein Gangsterthriller.

Als Filmemacher zählt Anurag Kashyap eher zum Autorenkino und zu den Independents, hat aber an über 50 Bollywood-Filmen mitgeschrieben. 1998 fiel er mit dem Drehbuch für „Satya – Im Sog der Gewalt“ erstmals auf, der Zwei-Stunden-51-Minuten-Film gilt als einer der besten indischen Gangsterfilme. Sein Filmdebüt, das Entführungsdrama „Paanch“ (2003), fand nie einen Verleih. Sein nächster Film, „Black Friday“(2004), ein Ermittlungsfilm über die Bombenanschläge 1993 in Mumbai, wurde in Indien verboten und erst nach einem langen Gerichtsverfahren veröffentlicht, „No Smoking“ (2007) spaltete die Kritiker und fand kaum Zuschauer, sein erster Kassenerfolg wurde „Dev D“, eine raubeinige, drogeninfizierte Adaption des Literaturklassiker „Devdas“ von Sarat Chandra Chattopadhyay. Gleichzeitig gab es Festivalpreise für  das Studentendrama „Gulaal“ und die Fortsetzung „That Girl in Yellow Boots“. 

Drehbuchautor Zeishan Quadri als Definite

Dann trat der junge Drehbuchautor Zeishan Quadri auf den Plan, 1983 in Wasseypur, Dhanbad, geboren, der aus realen Ereignissen und an einem realen Gangsterboss seiner Heimatregion orientiert, einen Filmstoff entwickelte. Für ihn wie Regisseur Kashyap war es eine Rückkehr in die Heimat und zugleich in die Provinz, wie das 1994 beim großartigen spanischen Polizeifilm „La Isla Miníma“ (2014, meine Besprechung hier) auch für Regisseur Alberto Rodríguez und seinen Drehbuchautor Rafael Cobos oder auch bei Edgar Reitz und dessen Serie „Heimat“ so produktiv der Fall war. Am 30. Mai 2009 verkaufte Quadri seine Geschichte an Anurag Kashyap und handelte als Bedingung aus, die Rolle des Definite im Teil 2 zu spielen. Der Rest ist Geschichte. Filmgeschichte.

Alf Mayer

PS. Das Etikett Bollywood-Gangsterfilm mag zwar schnell bei der Hand sein, aber Bollywood ist es weithin nicht, was wir in „Gangs of Wasseypur“ sehen, selbst wenn der Film 14 oder je nach Fragmentzählung sogar 24 Songs hat. Der Score der begnadeten Sneha Khanwalkar mäandert durch viele Genres, ist innovatives Amalgan. Marginalisierter nordindischer Folk ist dabei, jede Menge Bezüge auf Hindi-Filme, Electronica und sogar indo-karibischer Reggae. Es gibt keine einzige Tanznummer, Musik kommt auch bei Straßenparaden, Hochzeitszeremonien und Wahlkampf-Korsos zum Tragen. Einmal bittet eine Hauptfigur, dass ihm seine Frau am Gefängnisgitter ein Lieblingslied vorsingt.

Einer der schönsten Songs, „Kaala Rey“ von Snehana und dem Songwriter Varun Grover, hat die Kohle im Mittelpunkt. Mit dem von den Engländern an die indischen Großgrundbesitzer übertragenen Kohlebergbau fangen die Gangsterkarrieren und Machtkämpfe des Films an. Mit einem Kohlebrocken wird der erste Rache-Tote des Films erschlagen. Kohle steht aber für viel mehr. Viele Inder sind besessen von heller Haut, dabei sind die meisten von ihnen dunkleren Teints, besonders die Arbeiter. Der Song macht das Dunkle cool, mysteriös und begehrenswert, feiert es. „Kaale“ wird zur Metapher für all das, was eigentlich im Dunkeln geschehen sollte, in diesem Film aber ganz offen zu Tage tritt. Der Song ist ein Ohrwurm. Ja, eigentlich der ganze Score. Sieht man den Film am Stück, lebt man für Stunden auch in dieser Musik.

Und dann gibt es neben großartig schwarzem Humor – viel davon übrigens in Szenen zwischen Männern und Frauen – viele, viele Details, die sich einem einbrennen. Die aber auch, um derart zu wirken, zuvor großer filmischer Sorgfalt bedürfen. Oder der Hingabe von Darstellern, wie etwa der von Aditya Kumar in „Gangs II“ als Junggangster Perpendicular, der eine Rasierklinge mit rasender Geschwindigkeit auf seiner Zunge rollen kann. Kumar trainierte mehr als acht Monate mit einer stumpfen Klinge, bis diese schwindelerregende, nur sekundenkurze Vorführung saß. Sie wurde für ihn zum Startpunkt einer Filmkarriere.

Gangs of Wasseypur, Part 1 & 2 (Wasseypur), Indien 2012. Regie: Anurag Kashyap; Buch: Zeishan Quadri, Akhilesh Jaiswal, Anurag Kashyap, Sachin K. Ladia; Kamera: Rajeev Ravi, Schnitt: Shweta Venkat, Musik: Prakash Kumar (score), Sneha Khanwalkar (soundtrack). Darsteller: Manoj Bajpayee, Nawazuddin Siddiqui, Tigmanshu Dhulia, Piyush Mishra, Richa Chadda, Zeishan Quadri, Jameel Khan, Huma Qureshi, Pankaj Tripathy, Vineet Singh, Zeishan Quadri, Aditya Kumar, Richa Chaddha u.v.a.. Länge: 321 Minuten. Deutsche DVD/ BluRay: Titel: Asian Godfather – Die Gangs von Wasseypur; 1 & 2. Polyband/ WGV. – Auch bei Amazon Prime zu sehen. ((Aber, hey, dies ist wirklich ein Film für Leinwand und Kinoraum, nicht für den Laptop)).

Faizal Khans Frisur ist der des oft erwähnten 70er-Jahre-Filmstars Bachchan nachempfunden
Zitat im Zitat: Definite als Wandbild im Film
Attentat wie bei Sonny Corleone
Die Seifenoper, mit der die vierminütige Eröffnungssequenz des Films beginnt
Der Gangster auf Wahlkampftour
… und beim Bombenwerfen
Ein Brocken Kohle als Waffe
Faizal (Nawazuddin Siddiqui, links) weint in „Trishul“, 1974. In diesem Film werden Amitabh Bachchan und seine Mutter vom Vater verlassen; ein Schicksal, das auch Faizal erleidet.
Yashal Sharma als Hochzeitssänger, er singt die männlichen und die weiblichen Stimmen
Huma Qureshi als Mohsina Hamid, Faizals Frau
Frauenpower in „Gangs of Wasseypur“

Ein 95-minütiges sehr instruktives „Making of…“ hier:

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