Geschrieben am 18. November 2022 von für Allgemein, Special Sozialberufe, Specials

Unsichtbare Menschen

Unsichtbare Menschen

Ich bin Mensch und arbeite mit Menschen, insbesondere mit Menschen, die den Vorstellungen und/oder den Erwartungen der Gesellschaft bzw. den Herrschenden nicht entsprechen. Anders ausgedrückt, ich arbeite mit Menschen, die andere Werte und Normen haben, andere Vorstellungen von der Welt, andere Herangehensweisen ihr Leben zu meistern, andere Strategien der Lebensbewältigung. Es sind Menschen, die Fähigkeiten und Ressourcen haben, die scheinbar in der arbeitsorientierten Welt, wie Deutschland, keinen Platz bzw. keinen Wert haben. Menschen, wie Frauen und Kinder. Ich arbeite mit unsichtbaren Menschen.

Ich arbeite mit Frauen, die aufgrund der Tatsache, dass sie Mütter sind, also Care-Arbeit machen, also scheinbar wertlose, nicht relevante Arbeit leisten, vom Staat Deutschland als „bedürftig“ deklariert werden. Ich arbeite mit Müttern, die negative Kindheits-/Lebenserfahrungen gemacht und den Stempel „psychisch krank“ von der Gesellschaft bekommen haben. Ich arbeite mit Müttern, die keinerlei finanzielle Unterstützung von den Kindsvätern erhalten und dann auch noch zur Rechenschaft gezogen werden.

Ich arbeite mit Kindern, die Zukunft eines Landes, voller Ressourcen, Ideen, Möglichkeiten. Auch sie bekommen das Label „bedürftig“, wenn die Mütter bedürftig sind. Sie werden teils als verhaltensauffällig gelabelt, weil ihre Mütter sich nicht konform verhalten. Sie werden entmutigt, diskriminiert und entzaubert.

Ich glaube, dass jeder Mensch in irgendeiner Form negative Kindheits-/Lebenserfahrungen macht. Der springende Unterschied ist: funktioniert man, ist man gesellschaftsfähig, also arbeitsfähig, also verhaltensunauffällig. Anders ausgedrückt, ich und du entsprechen den Normen und Werten der Herrschenden. Doch wer entscheidet was gesellschaftsfähig ist, was krank ist? Welches Verhalten ist richtig oder falsch? Und welche Rolle spielt Macht?

Ich, als Sozialarbeiterin, soll diese Menschen zur Selbsthilfe befähigen, also die Verhaltensweisen, Vorstellungen, Normen und Werte, die unsere Gesellschaft für konform hält, unhinterfragt oktroyieren. Sie sollen gesellschaftsfähige und eigenverantwortliche Menschen werden.

Die Soziale Arbeit braucht Menschen, die scheinbar nicht gesellschaftsfähig und eigenverantwortlich sind, um ihre Profession zu rechtfertigen.

Frage: (Re-)produziert die Soziale Arbeit selbst auch die Label, Vorurteile, Normen und Machtverhältnisse?

Es ist sehr anstrengend, frustrierend und macht mich wütend in diesem Arbeitsfeld zu arbeiten, da ich sowohl den Menschen in seiner Einzigartigkeit sehen und unterstützen will ein lebensfähiger Mensch zu sein, als auch dieses System der Abhängigkeiten und Ungerechtigkeiten nicht unterstützen will. Es ist ein Dilemma.

Bernadette, Sozialarbeiterin, Hamburg

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