Geschrieben am 1. Juni 2016 von für Allgemein, Bücher, Litmag, Primärtext

Primärtext: Rui Zink: Die Installation der Angst (Auszug)

Die Installation der Angst

Jeden Monat präsentiert das LitMag einen interessanten Primärtext. Diesen Monat: Einen Auszug aus Rui Zinks Novelle „Installation der Angst“, erschienen im Print beim Weidle Verlag, als eBook bei CulturBooks.

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Die Angst wird alles haben
fast alles
und wir alle
fast alle werden
jeder auf seinem Wege
zu den Ratten kommen
Ja,
zu den Ratten
Alexandre O’Neill

Die Frau und der Wortgewandte trinken Malzkaffee. Sie hat Malzkaffee gemacht, etwas anderes war nicht im Haus. Sie trinken Malzkaffee. Sousa arbeitet. Die Frau versucht nicht, alle Einzelheiten der Installation zu begreifen. Kabel, Verbindungen, Schrauben, den Lärm des Bohrhammers. Nach einer Viertelstunde ist ein Stück Wand schon wieder verputzt und der Boden voller Staub und Abfall, doch die Frau wagt nicht, sich zu beklagen.
Sie reden nichts. Die Frau nicht, weil sie nicht will – über was soll sie auch reden? Über das Wetter, daß alles teurer wird, das schlechte Wetter, daß alles teurer wird, das schöne Wetter, daß alles teurer wird, wie schwierig es ist, daß es für die Jugend nicht leicht ist, wie schwierig es ist, Arbeit zu finden, die jungen Leute von heute, sie haben ja keine Ahnung, die jungen Leute von früher sind alt geworden, das Wetter, daß alles teurer wird, die Arbeitslosigkeit, das Fernsehen, das Wetter, das Wetter, das Wetter?
Und, was sie nicht wissen und ums Verrecken nicht erfahren werden, sie denkt an das Kind, das sie im Bad versteckt hat. Wie lange hält ein Kind aus, ohne Lärm zu machen? Na, vielleicht schläft der Junge ja ein? Das wäre noch immer das Beste.
Nein, die Frau möchte nicht sprechen. Und jeder andere an ihrer Stelle würde auch, wenn irgend möglich, am liebsten schweigen. Zumindest solange sie noch da sind. Sie weiß, was sie erwartet, und weiß gleichzeitig, daß sie nicht weiß, was sie erwartet. Und dürfte sie reden (hätte sie nur Lust dazu), was sollte sie eigentlich sagen? Was sie auf der Seele hat? Das wäre ja noch schöner. Wenn man eine Seele hat, ist es einfach, zu sagen, was man auf der Seele hat. Und wenn nicht? Seelenlose Zeiten verlangen nach Menschen ohne Seele. Wüsten verwüsten. Durst trocknet aus. Einsamkeit hallt. Alles so offensichtlich. Kollateralschäden des Status quo.
Die Frau schaut verstohlen auf den Mann gegenüber, der seelenruhig vor seiner Tasse sitzt, die von seinen feinen, farblosen Lippen nur leicht berührt wird, die fast keine Lippen sind, so fein sind sie. Seelenlos, wie man so zwischen den Zähnen hervorbringt. Vielleicht. Sie haben vielleicht keine Seele. Aber sie – hat sie selbst eine? Wer weiß?
Selbst der Gesprächige scheint für einen Moment (zumindest solange der Lärm anhält) keine Lust mehr zum Reden zu haben. Als hätte er es sich gemütlich gemacht, sich gemütlich eingerichtet. Seinen Kollegen könnte man für einen Boxer halten oder den Mann fürs Grobe im Inkassogewerbe. Der Eloquente hier ist das Gegenteil: Das Mindeste, was man über ihn sagen kann, ist, daß sein Anzug gut sitzt. Die Frau ist fast dankbar dafür, daß er nicht fragt, ob sie Kinder hat, was sie beruflich macht, und so weiter.
Noch einige Minuten lang sitzen sie sich so gegenüber. Schließlich hört der Lärm des Bohrhammers auf, dieses Hämmern, Metall kreischend auf Glas, Plastik, Metall. In das Gesicht des Gesprächigen kommt wieder Leben. Oder was auch immer das ist, was in sein Gesicht zurückkehrt.
»Sehen Sie? Ging doch schnell.«
Die Frau denkt vielleicht: Verschwinden sie jetzt? Verschwinden sie und lassen mich in Ruhe (allein) mit dem, was auch immer sie hier in der Wohnung angebracht haben?
Wenn es das ist, was die Frau denkt, muß der Gesprächige sie enttäuschen:
»Jetzt müssen wir es nur noch vorführen.« Und als er im Gesicht der Frau etwas sieht, was er für Enttäuschung hält, fügt er hinzu: »Keine Sorge, auch das geht schnell.«
Und die Frau versucht ihr Glück:
»Machen Sie sich keine Umstände …«
»O doch, es muß sein, meine Dame. Es wäre sonst gegen die Vorschriften. Die Leute denken oft nicht, daß es so ist, aber wir sind für Sie da. Um Ihnen zu helfen.«
»Ich kann auch die Anleitung lesen … das Faltblatt.«
Fast hätte der Eloquente ihr den Zeigefinger auf die Lippen gelegt. Fast. Denn er braucht es nicht zu tun. Sie spürt es schon. Ganz ohne sein Zutun.
»Sagen Sie nichts, meine Dame. Sagen Sie nichts!«
Sie stehen auf und gehen ins Wohnzimmer.

Es ist dunkel im Wohnzimmer. Die Frau hat nicht gesehen, daß sie am Schalter hantiert haben, sie will es auch gar nicht wissen. Es ist dunkel, in jeder Hinsicht. Und es ist wohl auch kälter geworden im Wohnzimmer. Zwei oder drei Grad. Kälter. Noch kälter.
Sousa schaltet eine Taschenlampe ein, hält sie sich unter das Gesicht. Er sieht nun gespenstisch aus, wie in einem Horrorfilm. Seine Stimme, die Frau hatte sie bisher noch nicht wahrgenommen, ist weich, erstaunlich, paßt überhaupt nicht zu seiner Gestalt, und brutal an der Stimme ist nur jene Klarheit, mit der sie die Worte hervorbringt. Die Stimme eines Nachrichtensprechers aus der Gestalt eines Quasimodo:
»Die Natur. Nur wenig flößt Menschen mehr Angst ein als die Natur. Die Welt ist beängstigend, die Natur ist beängstigend. Wußten Sie, daß in Australien 80 Prozent der gefährlichsten Tiere der Welt leben? Giftige Schlangen, Fische, die tödliche Giftstoffe absondern, Salzwasserkrokodile, weiße Haie, Tasmanische Teufel. Aber Australien ist weit, richtig?«
Die Stimme des Wortgewandten erklingt nun wie im Falsett:
»Irrtum. Australien ist uns heute näher denn je. Australien ist heute schon hier.«
Sousa greift wieder nach seiner Lampe:
»Und auch Indien ist hier, mit seinen Brillenschlangen, Afrika mit den schwarzen Mambas, das Amazonasgebiet mit seinen Taranteln und Piranhas und Anakondas, die bis zu 25 Meter lang werden …«
»Zumindest im Kino. Zuletzt sogar in 3D.«
»Heute haben wir hier die ganze Welt. Nichtsahnende Reisende bringen gefährliche Tiere aus den gefährlichsten Ländern mit wie Maskottchen.«
»Oder schmuggeln seltene Arten für private Zoos.«
»Oder lassen ahnungslos eine Handvoll Taranteln in ihre Koffer.«
»Eine Schlange, die sich zwischen Socken und den dreckigen Hemden zusammengerollt hat, um sich zu häuten …«
»Und dann brechen die Tiere aus.«
»Oder werden die Toilette hinuntergespült, wenn man sie findet.«
»Wie die Krokodile, die als Babys so niedlich sind und dann plötzlich zu groß werden …«
»Und in der Kanalisation zu erwachsenen Tieren heranwachsen.«
»Ein guter Rat, meine Dame.«
»Ein guter Rat.«
»Steigen Sie nie in die Kanalisation hinab.«
»Allerdings …«
»Was durch die Toilette hinuntergespült wird …«
»Gelangt manchmal auch wieder nach oben.«
»Wenn auch nicht unbedingt durch dieselbe Toilette.«
»Sondern durch eine andere.«
»Bei einem zu Hause.«
»Bei Ihnen.«
»Passen Sie auf, meine Dame!«
»Wenn Sie das nächste Mal zur Toilette gehen.«
»Den Rock hochgezogen, den Slip heruntergelassen.«
»Wehrlos.«
»Das empfindlichste Körperteil wehrlos dem ausgesetzt, was durch das Rohr kommt.«
»Und …«
»Auf einmal kommt etwas nach oben.«
»Und beißt.«
»Eine Schlange!«
»Eine giftige Schlange.«
»Ein Skorpion!«
»Genauso giftig.«
»Ein Mutantenwesen mit Glubschaugen!«
»Kriecht durch das Abwasserrohr hoch und überrumpelt uns.«
»Die Gefahr wartet nicht, meine Dame. Sie lauert.«
»Nicht einmal, wenn wir in der Wanne liegen und in einer Illustrierten blättern, können wir uns wirklich entspannen.«
»Die Angst vor der Natur macht auch hier nicht halt.«
»Genau. Sie ist hier nicht zu Ende.«
»Die Angst vor Bestien.«
»Insbesondere Schlangen.«
»Oder Piranhas.«
»Oder Anakondas.«
»Anakondas sind Schlangen.«
»Genau.«
»Immer noch eine der größten Ängste der meisten unserer Kunden.«
»Eine Angst mit Tradition.«
»Eine sehr angesehene Angst.«
»Renommiert.«
»Ach was. Einfach eine natürliche Angst.«
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Es wird wieder hell. Die Frau blinzelt. Der Gesprächige warnt:
»Seien Sie vorsichtig. Man weiß ja, wie Licht blenden kann.«
Mit der philosophischen Implikation des Gesagten zufrieden, macht der Eloquente eine kurze rhetorische Pause und sagt dann:
»Aber angenommen, dies wäre für Sie nicht die geeignete Angst.«
»Genau«, sagt Sousa.
»Überlegen wir: Wie viele Schlangen können in einer einzigen Stadt aus der Toilette kommen? Statistiken sind oft gute Verbündete der Angst, aber allzuoft auch das Gegenteil. Vermutlich wird es, wie man so schön sagt, ›nur die anderen treffen‹. Ein paar Tage vielleicht werden wir auf der Toilette ein mulmiges Gefühl haben und unter dem Bett nachsehen, ob da auch wirklich nichts ist, doch dann läßt die Anspannung unweigerlich nach und …«
Ganz kurz glaubt die Frau, nun würde Sousa etwas dazu sagen, doch nein, Sousa sagt nur etwas, wenn er will. Oder darf. Und diesen Satz könnte sogar die Frau vervollständigen:
Und wir beginnen zu vergessen, welche Angst wir noch vor ein paar Tagen hatten.
Der Eloquente schließt seinen Gedankengang ab:
»Und wir vergessen allmählich die Furcht, die uns befiel, diese Panik, die uns kaum schlafen ließ, unsere Verdauung beeinträchtigte.«
»Denn auch das ist einer der vielen Effekte der Angst: Man verliert die Kontrolle über die Därme, hier erwischt uns die Angst als erstes.«
»Unten herum.«
Die Frau seufzt. Der Eloquente verbucht diesen Seufzer zufrieden für sich. Er weiß genau, was sie denkt: Es ist eine Tortur.
Wenn sie wüßte, daß es erst der Anfang ist!
»Sehen Sie«, sagt er freundlich. »Angst ist nicht nur notwendig, sondern auch ansprechend. Und lehrreich. Die schönste Weise, die Welt zu erklären und sie zu organisieren. Nehmen Sie zum Beispiel die Kinder. Für sie gibt es Monster unter dem Bett und Gespenster im Haus. Eine friedliche Straße kann für sie ein finsterer, unheimlicher Wald sein, ein samtenes Meer voller lauernder Augen.«

Das Licht geht wieder aus. Über die Dunkelheit legt sich Sousas Stimme. Nur ist sein Werkzeug nun nicht mehr die Lampe, sondern mehr: ein Hologramm, so gestochen scharf, daß es fast echt wirkt. Die Frau kann das Ächzen des Windes im einsamen Wald hören. Kaum zu erkennen, so winzig, aber doch da, eine Gestalt – ein kleiner Junge. Mühsam kämpft er sich zwischen den Bäumen hindurch. Es ist ein Herbstnachmittag, am Boden liegt welkes Laub.
Zum ersten Mal erschaudert die Frau tatsächlich. Fast hätte sie das Kind erkannt. Dann sieht sie, daß es ein anderes ist. Aber die Ähnlichkeit, diese Ähnlichkeit …

Rui Zink: Die Installation der Angst. Novelle. Übersetzt von Michael Kegler. Digitale Lizenz. CulturBooks, Maxi 2016. 120 Seiten. 12,99 Euro. ISBN 978-3-95988-039-8

Über das Buch
Zwei Männer klingeln bei einer alleinstehenden Frau. Sie sind gekommen, um in ihrer Wohnung die Angst zu installieren. Wortreich erklären die beiden die Notwen­digkeit der Angst, ihre Funktion bei der Kontrolle der Bevölkerung. Die beiden sehr unterschiedlichen Installateure erläutern verschiedene Arten von Angst, etwa die Angst vor Terrorismus, Flüchtlingen, die ins Land strömen, vor Krankheit oder vor sexuellen Übergriffen. Angst, so betonen sie, braucht die Kooperation der Menschen – je besser die Frau sich für die Angst öffne, desto schneller würden sie sie wieder in Ruhe lassen.

Die Männer ahnen jedoch nichts von der tatsächlichen Angst der Frau, nämlich dass die Beamten ihr im Bade­zimmer verstecktes Kind finden könnten. Als es schließlich doch zur Entdeckung kommt, verändert sich das Machtgefüge zwischen der passiven Frau und den aktiven Installateuren der Angst, die schließlich in einer überraschenden Wendung ihr eigenes Produkt zu spüren bekommen.

Warum es uns gefällt
Die Novelle zitiert aus unterschiedlichen Zeiten und Zusammenhängen stammende Texte, Sprichwörter, Zeitungsartikel, Klischees und vieles mehr. Sie ist als Kammerspiel gestaltet, als Sprechstück der Gewalt und Bedrohung, und sie zeigt, dass die Angst in den Worten wohnt: Ein Angstszenario, das den Leser mit sich reißt.

Lizenz: Weidle Verlag

Über den Autor
Rui Zink gelang schon mit seinem ersten Roman, »Hotel ­Lusitano« (1986), ein Kultbuch. Seine Novelle »Die Installation der Angst« (A Instalação do Medo) erschien in Portugal 2012. Zink, 1961 in Lissabon geboren, unterrichtete an der Universität von Michigan/USA, lehrt heute Portugiesische Literatur an der Universidade Nova de Lisboa und schreibt regelmäßig für die großen Lissabonner Tageszeitungen. Er veröffentlichte zahlreiche belletristische Werke, darunter eine Graphic Novel, und im Jahr 2001 den ersten portugiesischen Internetroman »Os Surfistas« (Afghanistan). Im Jahr 2004 erhielt er den Prémio PEN für seinen Roman Dádiva Divina (»Göttliches Geschenk«). Zuletzt erschien Osso (»Knochen«, 2015).

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