Geschrieben am 18. Oktober 2019 von für Actors on Stage, Allgemein, Litmag, Specials

Julian Anatol Schneider: Nach drei Jahren im Beruf

Julian Anatol Schneider in „Istanbul“
Theater Bremen REGIE S. Kara FOTO Jörg Landsberg

Wo kann ich anfangen? Meist bin ich eineinhalb Stunden vor Vorstellungsbeginn im Theater. Mittlerweile brauche ich im Durchschnitt fünfzehn Minuten, um mich warm zu machen.  Zu Beginn meiner Theaterlaufbahn nach der Schauspielschule brauchte ich etwa 30 bis 45 Minuten. Mein Mundwerk ist eher faul, weshalb ich als erstes Artikulationstraining mache, gefolgt von einem Körper-Warm-Up. Bei Vorstellungen, in denen ich singe, hänge ich an mein Artikulationstraining auch ein Stimmtraining an. Dann gehe ich die Texte nochmals durch. Bei Vorstellungen, in denen ich tanze, liegt der Fokus natürlich eher auf dem Warm-Up und dem Durchtanzen der Choreos. Danach gehe ich auf die Bühne, treffe meine Mitspieler*innen und die ganze Crew hinter der Bühne. Und dann kann es auch schon fast losgehen.

Es gibt Momente während Vorstellungen, die komplett anders verlaufen als geplant. Manchmal kommen auch Reaktionen aus dem Publikum, die ich nicht erwartet hatte.

Bei mehreren Vorstellungen von der Inszenierung «Aus dem Nichts» am Theater Bremen (Regie: Nurkan Erpulat) blieb es nach dem Black am Ende eine gefühlte Ewigkeit lang still. Niemand regte sich. Das Publikum applaudierte nicht. Meine Mitspieler*innen und ich saßen auf der Bühne und warteten auf den Applaus, der nicht kam. Es war eine elektrisierende Stimmung, wie ein Flimmern, das ich fast berühren konnte. Das Thema des Stücks saß mir in den Knochen. Ich spürte meine Mitspieler*innen links und rechts von mir, unsere Unsicherheit, ob wir einfach aufstehen, uns vors Publikum stellen und verbeugen sollten, um zu signalisieren, dass die Vorstellung zu Ende war. Doch wir blieben sitzen und taten nichts. Die Stille fühlte sich wie Wertschätzung an. Ein Applaus ohne Applaus. Als würde das Publikum mit dieser Stille Danke sagen. In den meisten Fällen begann die Regieassistentin dann irgendwann zu klatschen, um einen Impuls zu geben. Mit ihm zerbrach der magische Moment.

Bei der Inszenierung «Die erstaunlichen Abenteuer der Maulina Schmitt» am Moks in Bremen (Regie: Nathalie Forstman) war der Spielraum so angelegt, dass das Publikum die Bühne überqueren musste, um zu seinen Sitzen auf der Tribüne zu gelangen. Ich spielte unter anderem den Grossvater von Maulina, eine quirlige, witzige Rolle, in der ich auf der Bühne mit einer elektrischen «Pfannkuchen-Maschine» einen echten Pfannkuchen zubereitete. Während einer Vorstellung fingen mit einem Mal Schüler*innen und Lehrpersonen an herumzulaufen, gingen über die Bühne fort und tauchten dann wieder auf. Die Unruhe im Publikum konnte ich mir nicht erklären. Ich nahm an, sie habe mit der Unaufmerksamkeit der Schüler*innen zu tun und spielte einfach weiter. Bei morgendlichen Schulvorstellungen ist die Aufmerksamkeit nicht immer da, manchmal wird viel geredet und herumgeblödelt.

Ich spielte eine sehr emotionale Szene mit der Darstellerin der Maulina Schmitt, während die Leute links und rechts an mir vorbeigingen. Ich überlegte mir zu unterbrechen, die Menschen direkt zu fragen, was ihr Problem sei, ob sie nicht sehen würden, dass ich vor ihnen stehe und spiele, ihnen zu sagen, dass ihr Verhalten total respektlos sei. Ich schaute mehrmals zu meinen Mitspieler*innen, die, wie es schien, sich das Ganze auch nicht erklären konnten. Auch von der Regieassistentin kam nichts. Mit einem Mal wurden die Luken im Dach des Theaters geöffnet, was dazu führte, dass plötzlich Sonnenlicht auf die Bühne  strahlte. Ich ging von einem Fehler der Techniker aus.  Ich starrte die Schüler*innen an, die an mir vorbeigingen, hörte auf zu sprechen, versuchte eine Antwort zu erhalten, die nicht kam. Dann spielte ich wieder weiter, war in Gedanken aber konstant mit der Frage beschäftigt, was hier wohl los war. Ich hatte eine Art Wasserpistole als Requisit, mit der ich irgendwann anfing, die Leute anzuspritzen, die an mir vorbeigingen. Sie nahmen das zur Kenntnis, sagten aber nichts und gingen weiter an mir vorbei. Irgendwann hörte ich auf, über den Vorgang nachzudenken, und versuchte ihn mit Humor zu nehmen. «Was für eine witzige und komplett unvorhersehbare Situation», dachte ich mir. «Ist auch eine Erfahrung».

Am Ende stellte sich heraus, dass das Kabel der Pfannkuchen-Maschine angefangen hatte zu schmelzen, und dass der Gestank die Zuschauer*innen in Panik versetzt hatte. Uns Spieler*innen wurde das allerdings nicht kommuniziert. Ich hatte lediglich mitbekommen, dass ein komischer Geruch in der Luft lag, über den ich aber nicht weiter nachdachte. Nach einiger Zeit waren Gestank und Rauch verflogen, die Luken wurden wieder geschlossen, das Publikum beruhigte sich etwas, so dass wir die Vorstellung ohne weitere Zwischenfälle zu Ende bringen konnten. Wir haben danach darüber diskutiert, ob die Vorstellung hätte unterbrochen werden müssen. Wir konnten uns nicht einigen. Schlussendlich waren wir alle froh, wie wir mit der Situation umgegangen waren und, dass niemand zu Schaden kam. Ich weiss bis heute nicht, was besser gewesen wäre.

Für mich ist es in meinen nun fast drei Jahren Berufserfahrung ein großes Thema geworden, wann eine Vorstellung abgebrochen wird und wann nicht. Dabei stelle ich fest, dass wir Schauspieler*innen in der Regel in fast jedem Zustand (und sei er noch so schlimm) eine Vorstellung spielen wollen, egal, ob wir dazu in der Lage sind oder nicht. In meinem nächsten Beispiel war das auch so.

Während einer Vorstellung von «Biedermann und die Brandstifter» am Theater Basel (Regie: Volker Lösch) kollabierte ein Mitspieler hinter der Bühne und musste behandelt werden. Die Vorstellung wurde nicht unterbrochen. Wir  (alles noch Schauspielstudierende der Hochschule der Künste Bern) waren im Chor der Feuerwehrmänner und teilten spontan seinen Text unter uns auf. Durch das Umorganisieren verpassten wir unseren Auftritt und hörten den Begleitsound unserer Szene von der Hinterbühne aus. Voller Hektik und Adrenalin stolperten wir in einem irren Tempo auf die Bühne. Es sollte eigentlich eine sehr ruhige, stimmungsvolle Szene sein, also folgte auf das Auf-die-Bühne-stolpern ein abruptes Innehalten. Das Publikum reagierte nicht anders als gewohnt. Wir waren so damit beschäftigt, die Szene so ruhig wie möglich zu spielen und die aufgeteilten Texte so perfekt wie möglich wiederzugeben, dass wir erst danach realisierten, wie gut uns das gelungen war. Wir haben es irgendwie hinbekommen, die Texte des Mitspielers in unsere Texte einzubinden – ein ziemlicher Ritt, der im Nachhinein ziemlichen Spass gemacht hat. Zu merken, dass wir mit einer solchen Situation umgehen und spontan eine Lösung finden konnten, machte uns alle stolz. Vor allem, da wir noch keine «fertigen» Schauspieler*innen waren. Trotz der Beunruhigung wegen dem Mitspieler, der hinter der Bühne kollabierte, war für uns klar, dass wir die Vorstellung durchspielen würden.

Im Nachhinein stellte sich dann heraus, dass es ihm bereits vor der Vorstellung nicht gut gegangen war. Er hatte sich zu Hause den Kopf angestossen, sich jedoch trotzdem entschieden die Vorstellung zu spielen. Diese Entschlossenheit, eine Vorstellung oder eine Probe allen Umständen zum Trotz möglich zu machen, finde ich bemerkenswert – manchmal aber auch gefährlich, vor allem für uns selbst, und vor allem dann, wenn ein Theater nicht seinerseits verantwortungsvoll mit dieser Haltung von Darstellern*innen umgeht. Wir Schauspieler*innen können sehr schlecht Nein sagen; immerhin hängt von unserem Einsatz ja immer auch eine ganze Aufführung, Mitspieler*innen, und Publikum ab.

Natürlich kann ein Spieler, der ausfällt, je nach Stück auch durch einen anderen ersetzt werden. Das bringt mich auf ein Erlebnis, das bis heute zu meinen persönlichen Highlights gehört. An einem Tag, an dem ich lediglich eine Vormittagsvorstellung hatte, war ich nach dem Mittagessen unterwegs in die Boulderhalle (da ich leidenschaftlich bouldere), als der musikalische Leiter der Inszenierung «Istanbul», die ich in Bremen spiele, mich anrief.

«Julian, hör mal, wir haben hier in Bochum einen Notfall. Wir spielen heute Abend «Istanbul» und der Schauspieler, der deine Rolle spielt, fällt krankheitsbedingt aus. Könntest du jetzt in den Zug steigen um heute Abend in Bochum auf der Bühne zu stehen und für ihn einzuspringen? Das wäre super!»

Ich war völlig baff, sagte aber zu.

Die Inszenierung des Stücks «Istanbul» ist in Bremen seit vier Jahren ein Kassenschlager. Das gleiche Regieteam hat das Stück seither an mehreren Theatern in Deutschland inszeniert, unter anderem eben am Schauspielhaus Bochum. Die Inszenierung gleicht der in Bremen sehr, enthält aber einige andere Dialogsequenzen und andere Choreographien in bestimmten Szenen. „Istanbul“ ist ein Liederabend, die Lieder, die ich singe, waren immerhin die gleichen – zum Glück!

Ich stieg kurz vor 15:00 Uhr in den Zug, schaute mir auf der Fahrt die Textfassung von der Inszenierung in Bochum an und versuchte mir so viel wie möglich zu merken. Ich war da schon sehr nervös. Ich kam um 17 Uhr in Bochum an, wurde von der Regisseurin abgeholt und ins Theater gefahren, hatte eine kurze Anprobe und stand 17:30 für ein kurzes Durchstellen des Stücks auf der Bühne. Ich kannte die Mitspieler*innen nicht, hatte keine Ahnung, wie die Bühne aussah, wusste nicht, wie meine Auf- und Abtritte sein sollten. Nach einem kurzen Hallo wurde ich mit Hilfe der Regieassistentin durch das Stück geleitet. Sie rannte vor mir her und erklärte mir, dass ich nach der ersten Szene da abgehen, danach von dieser Seite wieder auftreten sollte, dann mit diesem Schauspieler diesen kurzen Dialog führen soll, um danach mit allen Schauspieler*innen in einer Choreographie mitzumachen, und so weiter. Um 18:30 hatte ich nochmals kurz Zeit für mich und versuchte in meiner Garderobe zur Ruhe zu kommen. Ich war unfassbar nervös, beschloss dann aber, dass ich in der Situation nur gewinnen konnte. «Lass dich jetzt einfach treiben. Denk nicht darüber nach, was du alles zu tun hast, es wird sich schon ergeben. Vertraue auf den Moment und die Atmosphäre. Die Vorstellung kann durch deinen Einsatz gespielt werden, also ist soweiso schon alles gut».

19:30, Beginn der Vorstellung. Ich hatte überhaupt keine Ahnung mehr, was ich alles zu tun hatte. Meine Mitspieler*innen halfen mir sehr und gaben mir ein enormes Gefühl der Sicherheit. Der musikalische Leiter war ebenfalls auf der Bühne und die Regisseurin schaute von der Seitenbühne aus zu. Am Ende wurde es für mich zu einem grandiosen Abend. Irgendwie schaffte ich es, in einen Autopilotmodus zu wechseln, und spielte einfach. Das Publikum war extrem wohlwollend. Ich hatte auch von seiner Seite her das Gefühl, unterstützt zu werden. Ich improvisierte in einigen Szenen da, wo ich nicht mehr wusste, was die Verabredung war, sang meine Lieder mit einer riesigen Leidenschaft und spürte eine extreme Verbundenheit mit meinen Mitspieler*innen. Eins fügte sich ins andere und die ganze Aufführung hob irgendwann ab. Der Applaus war überwältigend. Wie auch in der Bremer Inszenierung waren Zugaben vorgesehen. Einer der Musiker kam zu mir und meinte «Wir spielen auf jeden Fall nochmals dein Lied! Na los!» Und so sang ich sogar noch eine Zugabe! Dabei fühlte ich mich so lebendig wie schon lange nicht mehr. Mir wurde klar, dass ich für genau solche Momente Schauspieler geworden bin. Ich sang aus purer Leidenschaft, und der ganze Saal war bei mir.

JULIAN SCHNEIDER
Foto Simon Kiefer


BIO Julian Anatol Schneider (geboren 1993) stammt aus Basel und studierte ab 2012 Schauspiel an der Hochschule der Künste Bern. Schon vor Beginn seines Studiums war er Mitglied beim Jungen Theater Basel und in der Produktion „Punk Rock“ (Regie: Sebastian Nübling) zu sehen. Ab 2014 spielte er u. a. am Theater Basel, am Luzerner Theater, in „Sturm in Patumbah“ (Regie: Niklaus Helbling) im Rahmen der Zürcher Festspiele und in „Ghost of Chance” (Regie: Mirko Borscht) beim Theaterfestival AUAWIRLEBEN. 2016 übernahm er am Schauspielhaus Zürich die Rolle des Felix Glückskind im Weihnachtsmärchen „Der Teufel mit den drei goldenen Haaren”. Julian Anatol Schneider ist Förderpreisträger der Friedl-Wald Stiftung. Seit der Spielzeit 2017/18 ist er festes Ensemblemitglied am Moks in Bremen.

AKTUELL / COMING Theater Bremen:Fabrice Melquiot „Die Zertrennlichen“ (R: T. Fransz), Kara, Kindermann, Sipal „Istanbul“ (R: S. Kara), ab Dez. 19: Ödön von Horvath „Jugend ohne Gott“ (R: Alexander Riemenschneider)

LINKS
https://www.theaterbremen.de/de_DE/haus/julian-anatol-schneider.135315

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