Teenager im Liebesrausch
Aufgewachsen in Düsseldorf-Oberbilk, hörte die 15-jährige Mithu Sanyal beim Sex mit ihrem damaligen Freund – „der Sex war super, die Beziehung… nicht so sehr“ –, zum ersten Mal Kate Bushs Song von 1978, „Wuthering Heights“. I loved you, I hated you: Die Teenagerin fühlte sich angesprochen. Bei nächster Gelegenheit fragte sie ihre Englischlehrerin, wer das Buch geschrieben habe.
„Sie sah mich so lange prüfend an, bis ich mir sicher war, es wäre ein Gerücht, dass der Song auf einem Buch basiert.
Dann sagte sie: ‚Ich glaube, Charlotte Brontë.‘“
Was für ein cooler Auftakt zu Sanyals Hommage an Emily Brontës „Sturmhöhe“, erschienen in Volker Weidermanns Reihe „Bücher meines Lebens“. In einer hinreißenden Mischung aus persönlichen Erinnerungen und Nerd-Wissen (in dieser Brontë-Show treten jede Menge Verfilmungen, Dramatisierungen, Vertonungen und Literaturkennerinnen auf) umkreist die Verfasserin von „Identitti“ und „Vulva“ einen der weirderen Romane der Weltliteratur.
Emily war die rätselhafte der drei Brontë-Schwestern, die im 19. Jahrhundert in einem Pfarrhaus in Yorkshire lebten und Romane schrieben. Sie starb mit 30 Jahren und hinterließ neben Lyrik nur „Wuthering Heights“, die Geschichte zweier Liebenden, die nicht zusammenkommen. Catherine, die ungebärdige Tochter eines ländlichen Gutsherrn, liebt Heathcliff, das dunkelhäutige Findelkind der Familie, und er liebt sie mit einer Leidenschaft zurück, die in ihrer Welt der Klassen und Konventionen nicht gutgehen kann. Chronist des Mehrgenerationen-Dramas ist Herr Lockwood, Pächter des erwachsenen Heathcliff, der die verwickelte Story von der ehemaligen Haushälterin der Familie erzählt bekommt. „Sturmhöhe“ (der gängigste der deutschen Titelübersetzungen) ist randvoll mit misshandelten und verwahrlosten Kindern, rechtlosen, hinfälligen Frauen, Geistern und inneren Dämonen, und insgesamt ein Monster von einem Buch, das in dieser Form vermutlich von keinem Verlag der Welt mehr angenommen würde. Es hat seine seltsame Sogwirkung seit 170 Jahren nicht verloren.

„Wuthering Heights“ macht etwas mit seinen Leserinnen (und Lesern), stellt Sanyal zu Beginn ihres Berichts fest, „und zwar jedes Mal, wenn ich es lese. Ich weiß nicht, warum es das tut, ich weiß noch nicht einmal, ob ich herausfinden möchte, wie es das tut … aber ich möchte ein wenig von diesem Zauber teilen.“
In seiner Mischung aus privatem Bericht und akademischem Sammelalbum leistet ihr Buch genau das, jedenfalls für Menschen wie mich, in deren Lesehaushalt die Brontës einen herausragenden Platz einnehmen. Zwar bin ich mehr bei Charlotte Brontë (die Beatles also, nicht die Rolling Stones, in der Kategorisierung von Sanyal), doch trieb mich Sanyals Begeisterung zu einem Wiederlesen und erneutem Staunen darüber, was in „Sturmhöhe“ an Leidenschaften und Gewalttätigkeiten und kalter Berechnung (der Figuren und der Autorin, die sie in ihrer fiktiven Moorlandschaft herumschiebt) aufgefahren wird.
Ganz zu schweigen von den vielen Toten. Wunderbar das Zitat aus Camille Paglias „Sexual Personae“, die Emily Brontë als schreibende „Scharfschützin“ schildert, „die sich einen Spaß daraus macht, ihre Charaktere einen nach dem andern umzubringen.“ Nicht nur Neben- sondern auch Hauptfiguren sterben überraschend schnell weg (eigentlich dauert es oft Jahre, aber beim Lesen wirkt das so). Verschont bleiben nur die Dienstboten, als wären die immun gegen Schwindsucht und Grippe und anderen todbringende Infektionen. Man wird das Gefühl nicht los, diese Autorin hätte eine gewisse Befriedigung empfunden darin, das Moor, in dem sie selbst so gerne spazieren ging, in ihrer fiktionalen Handlung zu entvölkern, bis nur noch Geister darin herumzischen. So gesehen brauchte sie das Dienstpersonal auch gar nicht abzuknallen – mit dem Schwund der Herrschaft verschwindet es von selbst.
Ein bisschen hat mich gestört, dass Sanyal ein anderes Zitat zu den Brontës, von Hanif Kureishi, weitgehend unkommentiert lässt. Kureishi kommt in ihren Ausführungen an prominenter Stelle vor, nämlich zu Beginn eines Kapitels zu „race“, in dem Sanyal sich fragt, warum sie nicht einen postmigrantischen Roman wie Kureishis „Der Buddha aus der Vorstadt“ als „Buch meines Lebens“ gewählt hat. Das Zitat stammt von dessen Hauptfigur, ein alter ego des Autors, der erklärt, er würde mit den Brontës nicht schlafen wollen (das Original, in Sanyals Fußnoten nachzulesen, ist krasser). Er will nur provozieren, erklärt Sanyal und beeilt sich zu versichern, sie selbst würde sofort mit Emily schlafen. Nur zu. Dann wieder, wen interessiert das schon? Was für eine ermüdende Vorstellung, mit all seinen Lieblingsautor:innen Sex haben zu wollen. Und: Warum werden Frauen in der Öffentlichkeit immer, immer, immer nach ihrer Fuckability bewertet? Und: warum muss Sanyal diese Unsitte in ihrem schönen Buch, gender-swap hin oder her, reproduzieren?

Natürlich ist es auch eine Frage von wie man sich sieht (und glaubt, gesehen zu werden). Für mich war Sanyal lange vor allem die Autorin der Kulturstudie „Vulva“, die in Liv Strömquists Comic „Ursprung der Welt“ einen schönen Randauftritt hat. Ich dachte, sie sei Engländerin (genau, das lag auch am Namen). Warum sollte sie die Brontës nicht lieben, so viele bahnbrechende Autorinnen hat der angelsächsische Kanon nicht zu bieten. Vom deutschsprachigen ganz zu schweigen. Dann wieder: Was weiß ich schon von einer Autorin, die in Düsseldorf-Oberbilk als Tochter einer Polin und eines Inders aufwächst und ihr Nichtgesehen werden im „metrischen System“ einer weißen Dominanzgesellschaft so beschreibt: „Lass uns Vater-Mutter-Kind spielen, du bist der Hund“? Mit 15, erklärt Sanyal, passte der „postmigrantische“ Außenseiterheld Heathcliff ihr „wie meine eigene Haut“.
„Natürlich wollte ich Cathy sein, wer wollte das nicht? … Nur war Cathy eine Nummer zu groß und großartig für mich.“
In „race“ folgt der weitere Kapitelverlauf den Spuren von Otherness in Heathcliff, mit Blick auf seine mysteriöse Herkunft. Black Irish, spanischer Fahrender, Abkömmling afrikanischer Sklaven? Koloniale Figuren gibt es in der britischen Literatur des 19. Jahrhunderts jede Menge (wir lernen zunehmend, sie zu sehen) – aber keinen Romanheld wie Heathcliff, der sich, man weiß nicht wie, innerhalb von drei Jahren in einen wohlhabenden Gentleman verwandelt und in die alte Heimat zurückkehrt, um sich an allen zu rächen, die ihm Unrecht, und an einigen, die ihm gar nichts angetan haben. Einzig die Frau, Catherine, kriegt er nicht, denn die ist nicht mehr frei und bald schon tot. Dass Heathcliffs Furor eines (postkolonialen?) „Zurückzahlens“ für Sanyal („und wo kommst du her?“) eine euphorisierende Entdeckung war, leuchtet dann ein. Wäre ihr Leben anders verlaufen, hätte sie sich wohl Heathcliffs Rächertruppe angeschlossen. Nur erzählt der Roman eben auch dies: Dass die Rache irgendwann vorbei ist und dem Rächer nichts mehr bleibt, als sich gegen sich selbst zu wenden, denn wen sonst soll seine Wut noch treffen? „Ohne Heilung kann das Leben nicht weitergehen,“ beschreibt Sanyal Brontës Ende. Und fasst es neu für sich (und uns): „Das ist das beste Bild des Postkolonialismus, das ich kenne: An wem wollen wir uns rächen, wenn die Kolonialverbrecher längst tot sind und ihre Nachfahren auch unsere Nachfahren sind?“ Heathcliff, das kann man ihm zugutehalten, bleibt uneinsichtig. Leid tut ihm gar nichts, lieber verschwindet er im Wahnsinn einer Todesvereinigung mit einem Geist – womit wir wieder beim Sex wären.

Denn „Wuthering Heights“ ist nichts ohne das schwarze Loch in seiner Mitte: Sex. Oder vielmehr: Kein Sex, sondern unerfülltes Begehren, rasendes Verlangen, Besessenheit. Allein schon deswegen wirkt es schlüssig, dass Sanyal ihren Bericht mit einer Bettszene beginnt. Das Sexerlebnis mit dem treulosen Freund in Düsseldorf-Oberbilk war „super“. Das immerhin. Catherine und Heathcliff bleiben sich zwar treu, einander besitzen, im körperlichen Sinne, werden sie sich nie. Als ging nur das eine oder das andere – und im etablierten Kanon der sogenannten Weltliteratur ist das ja wirklich oft so.
Ein weiterer Text zu Emily Brontë, den ich immer wieder lese, Anne Carsons „Glass Essay“ (er kommt bei Sanyal nicht vor), bietet zu Sanyals Teenager-Bettszene eine Variante: Super Sex, der gleichzeitig unglaublich peinlich und quälend und trostlos ist, mit einem nicht mehr ganz jungen Mann, der die nicht mehr ganz junge Ich-Erzählerin verlassen hat und nach dem Trennungs-Sex auch nicht wiederkehren wird.
Erwachsenenprobleme, wenn man will. Tatsächlich spielen die in „Wuthering Heights“ keine größere Rolle.
Das liegt dann möglicherweise daran, dass die Autorin, Emily Brontë, sich schlicht nicht dafür interessierte. Die Figuren in „Sturmhöhe“ heiraten zwar, sterben aber meist kurz nach der ersten Geburt (die Frauen) und hinterlassen Kinder, die mit eintretender Geschlechtsreife die Irrtümer ihrer Eltern wiederholen können. Oder auch nicht. Teenager im Liebesrausch! Das ist Brontës Thema, oder doch ein zentrales Thema ihres Romans. Sanyal, die mit 15 in „Sturmhöhen“ hineinfiel wie in einen Zaubertrank und sich davon nicht mehr erholt hat, war von Beginn weg die ideale Leserin. Was für ein Glück. Für sie, und mit ihrem Buch, das von den Folgen berichtet, auch für uns.
Brigitte Helbling
Mithu Sanyal: Über Emily Brontë. Herausgegeben von Volker Weidermann. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2022. 160 Seiten, 20 Euro.

Von Brigitte Helbling – ihre Texte bei uns hier, zuletzt ein Gespräch mit Eva Christina Zeller über Annie Ernaux – ist 2022 der Roman „Meine Schwiegermutter, der Mondmann und ich“ erschienen (rüffer&rub literatur).