Geschrieben am 1. November 2022 von für Allgemein, Crimemag, CrimeMag November 2022, Litmag, News

Gespräch über Annie Ernaux. Anlass: ihr Literaturnobelpreis

Aus Schmerz mach Brot

Brigitte Helbling und Eva Christina Zeller:

VORSPIEL (Helbling): Vor Jahren, als ich in einer Theaterbar versuchte, jemandem von dem Buch zu erzählen, das später „Meine Schwiegermutter, der Mondmann und ich“ werden sollte, hörte ich erstmals den Namen Annie Ernaux. „Was du vorhast, klingt wie Annie Ernaux“, sagte Sibilla. (Es war Sibilla, mit der ich sprach.) Ich merkte mir den Namen, ging ihm aber nicht weiter nach. Wenn man am Schreiben ist, ist die Lust gering, etwas zu lesen, das dem ähneln soll, von dem man noch gar nicht weiß, was daraus wird. – Ich schloss mein Buch ab. Ein Zürcher Verlag, brachte es heraus. Annie Ernaux blieb ein Merkpunkt auf meiner Leseliste. – Und dann las ich in einer Stuttgarter Verlagsvorschau von einer Tübinger Autorin, Eva Christina Zeller, deren Buch „Unterm Teppich“ zeitgleich mit meinem erschienen war, wie meins beschrieben als ein Ineinander von Biografischem und Fiktionen in ungewöhnlicher Form.

„Die Scham ist die letzte Wahrheit.“

Das Motto von Zellers Buch stammt von Annie Ernaux. Hier war sie wieder, die Französin aus der Normandie. In 61 Bildern schaut „Unterm Teppich“ auf das, was andere lieber untern Teppich kehren würden: Momente von Scham und Peinlichkeiten in einem „Frauenleben“ (so der Kröner Verlag). Ausgewiesen ist das Buch als Roman, was es nicht ist. Was ist es dann? Eine Autobiografie ist es auch nicht. „Eine Autofiktion“? Tatsächlich ergeben die 61 Bilder einen schillernden Flickenteppich aus Erfindung und Erinnerung einer Ich-Erzählerin, die für sich sechs Brüder behauptet (Zeller hatte drei). Als würde Ernauxs ethnographisch-strenges Vorgehen kurz aus der Werkstatt entlassen, um sich jubilierend dem Musilschen „Möglichkeitssinn“ hinzugeben.

Musil wird hier nicht zufällig genannt. In „Der Fall Franza“ von Ingeborg Bachmann spielt der österreichische Autor eine wesentliche Rolle. Zeller und ich haben beide Ende der 1980er unsere Abschlussarbeiten über diesen Roman geschrieben. Nicht zuletzt war auch das ein Grund, warum ich Lust bekam, diese Lyrikerin, diese Autorin, näher kennenzulernen.

Anfang Oktober besuchte ich Eva Christina Zeller in Tübingen. Wir saßen fünf Stunden in ihrem Garten über dem Neckar (Bild 54 in ihrem Buch) und unterhielten uns. Schreibwege, Lebenswege in der Schweiz, in Deutschland, in den USA. Zellers Anfänge als früh gefeierte Lyrikerin, mein späterer Einstieg ins Theaterschreiben. Beide hatten wir als Kinder Querflöte gespielt, sie spielt noch immer. Den Begriff „Pietcong“ für eine besondere Ausformung des Protestantismus in Schwaben, der ihre Herkunft prägte, las ich später. 

Um Annie Ernaux ging es natürlich auch. „Ohne Ernaux hätte ich „Unterm Teppich“ nicht veröffentlichen können“, sagt Eva.

Zwei Tage nach meiner Rückkehr nach Hamburg erhielt Annie Ernaux den Literaturnobelpreis.
„Darüber freuen wir uns doch, oder?“ schrieb ich Eva.

Ich kannte weiterhin kaum etwas von der Französin, hatte aber doch angefangen, „Eine Frau“ zu lesen, und schaute auf Arte ihre „Super-8-Tagebücher“, ein Gemeinschaftswerk mit ihrem Sohn, das gerade erschienen war. Ich wollte nun mehr erfahren. Ich schlug Eva einen Austausch vor, schriftlich, zu den Prägungen, die ihr Schauen, ihr Schreiben mit Annie Ernaux gefunden hatte; verbunden mit meinen ersten Erkundungen ihrer Bücher. Es gibt kein objektives Fragen. Was eine Leserin an einer Autorin interessiert, kann einer anderen den Zugang zum Werk eröffnen.

Und wir waren neugierig. Wer wusste schon, wohin uns dieser Austausch führen würde?

Was folgt, sind Auszüge aus einem Mäandern, das von Annie Ernaux zu Ocean Vuong zu Ingeborg Bachmann streunte, und das gerade nicht den Anschein macht, als sei es an sein Ende gekommen.

Den Zusammenschnitt bieten wir an als eine Hommage an die Literaturnobelpreisträgerin von 2022.

ANNIE ERNAUX.
Félicitations!!!

* * *

EVA: Ich hab gerade den Anfang von “Die Super-8 Tagebücher” auf ARTE gekuckt, die mich merkwürdig traurig stimmen, so, als wäre Ernauxs Fremdsein im eigenen Leben – damals – auch mein Fremdsein. Das ist meine Faszination, wenn ich sie lese oder sie höre, als spräche sie von mir, als löse sie die Trauer in mir und mache sie erst für mich fühlbar.

Ich wollte immer nur weg, weg genau aus diesem Spieß, dieser Uneigentlichkeit, diesem Fremdsein im eigenen Leben. Ich spüre die Maskerade, die eigene und die der anderen, weil ich auch in einer Maskerade aufwuchs, das ist es.

Spreche ich (schreibe ich) verständlich?

BRIGITTE: In den „Tagebüchern“ stammen fast alle Aufnahmen von ihrem Mann Philip – er dokumentierte das Familienleben in den 1970ern, man sieht ihn selbst nur einmal. Mich faszinieren die Aufnahmen, und nicht zuletzt die Aussagen darin zu Ernauxs Mutter. So hatte ich sie mir nach dem Lesen von „Eine Frau“ nicht vorgestellt. Sie lebte eine ganze Weile lang bei der Familie. Im Buch steht, dass die Mutter schließlich zurück in die Normandie zieht, weil ihr der neue Wohnort der Familie nicht gefällt. Im Film dagegen sagt Ernaux, der Mutter seien die Spannungen zwischen den Eheleuten unangenehm gewesen. Was stimmt wohl? Vielleicht beides. Es gibt ja immer mehr als eine Wahrheit.

Erzähl mehr von der Maskerade. Das interessiert mich.

EVA: Maskerade? Ich lernte als Kind, dass man immer eine Rolle spielt, dass meine Eltern eine Rolle spielen, sie waren Pfarrer und Pfarrfrau. Das war irritierend und ich versuchte auch Pfarrerskind zu sein und brachte den Bettlern, wenn sie klingelten – wir lebten in der Nähe des Gefängnisses von Stammheim – ein 50 Pfennigstück an die Tür. Meine Mutter hatte Wichtigeres zu tun, es wurde also mein Job. Außerdem öffnete ich oft Besuchern die Tür und fragte sie – so wurde mir erzählt -: „Möchten Sie auch eine Tasse Kaffee?“

Kinder wissen nichts von Rollen, alles ist Rolle, aber ich wusste oft nicht, wer welche Rolle zu spielen hat. Das meine ich mit Maskerade.

Wenn ich die Super 8 Filme sehe, dann spüre ich das Bemühen von Annie Ernaus, eine gute Ehefrau, Mutter und Tochter zu sein. Das verstehe ich, das wollte ich als Kind auch sein, gut, sozial, freundlich und mädchenhaft, aber genau das macht mich traurig. Es bedeutet, dass frau von der Bestätigung der anderen lebt und sich ihren eigenen goldenen oder silbernen Käfig entwirft und sich dann selbst hineinsetzt.

Ich sehe die Traurigkeit in ihrem Gesicht. Die Mühe. Und werde müde beim Sehen, beginne zu gähnen. So soll also die Welt sein?

Dagegen habe ich früh rebelliert. Mit dem Schreiben, durch mein Jahr in den USA, durch den creative writing Unterricht. Schreiben ist der Freiheitsgriff und – Griffel.

BRIGITTE: Wann spielt man welche Rolle. Ich lebte als Kind in den USA, später sind wir in die Schweiz zurückgezogen, jetzt lebe ich in Hamburg. Da gehört Anpassung, Rollenspiel (durchaus verspielt) dazu, schlicht, weil die Benimmregeln überall wieder andere sind. – Kinder sind empfänglich für sowas, ich war es zumindest. – Vielleicht schreibe ich deswegen gerne für Theater. All die Rollen, die man im Schreiben ausprobieren kann.  – Was allerdings auch wahr ist: Wenn man als Kind die Kulturen wechselt – zweimal, in meinem Fall – dann sind Regelwerke relativ. Die eine Instanz gibt es nicht mehr, oder sie ist doch sehr entmachtet. Geschwächt auch die Instanzen, die einem einreden könnten, man habe sich zu schämen.

Grad denke ich über Scham nach.
Über diesen Satz: „Die Scham ist die ganze Wahrheit.“

Das Motto deines Buches. Was für eine aufregende, traurige, gefährliche Behauptung.

EVA: Der Satz heißt: “Die Scham ist die letzte Wahrheit”. Ich verstehe das so, dass man immer tiefer graben kann, immer weiter zurückgehen kann und dann bei der Scham ankommt, weil sie vorsprachlich ist und sich gerade hier viel verbirgt. Die Scham, oder das, was die Scham ausgelöst hat, auszudrücken, ausdrücken zu können, das ist eine große Befreiung. Aber von was? Letztlich von einer Erfindung. Ich habe in “Unterm Teppich” einiges erfunden oder aus Träumen, aus dem Vorbewussten geborgt. Ich erinnere mich nicht daran, dass ich auf dem Töpfchen im Wohnzimmer saß (Bild 3 in „Unterm Teppich“). Aber ich sah diese Szene oft in Träumen. Viele Erinnerungen, die ich aus meiner frühen Kindheit habe, könnten halbe Erfindungen sein, um die Lücken zu füllen. “Die Erinnerung ist der beste Schriftsteller”, so steht es in der Geschichte “Die Erinnerung ist ein Geisterfahrer”. (Bild 3 in „Unterm Teppich“) Den Geisterfahrer mit dem ich da zusammengestoßen bin, den kenne ich ja auch nicht, er blendet mich, er fährt ein Auto, aber wer ist er?

Für mich bleibt die Scham ein großes Rätsel. War es nicht die Scham der anderen, von denen ich meine Scham erst gelernt habe?

BRIGITTE Im Film von Annie Ernaux hat die Maskerade auch ein bisschen von Doppelleben, die Frau als undercover Agentin im Familiensystem. Immerhin erschienen in der Zeit dieser Aufnahmen, in den 1970ern, zwei Bücher von ihr. Im dritten wird sie dann über ihre Ehe schreiben. Die Themen dieser Bücher werden mit den beiden, die den Alltag mit ihr verbringen und die darin vorkommen, nicht besprochen. Ihre Schreibwelt ließ sich nicht teilen.

EVA: Ja, Doppelleben, so scheint es. Annie Ernaux hat zwei Romane in der Zeit veröffentlicht, das passt nicht zu den Filmen, in denen sie angepasst wirkt.

BRIGITTE: Scham gebiert Scham; gilt das auch für dein Buch?

EVA: Ich habe unbefangen über Scham geschrieben, Probleme mit einem schlechten Gewissen tauchten auf, als ich erwog, diese Texte zu veröffentlichen. Das Vorlesen machte mir Mühe, als zöge ich mich vor meinen Erstlesern aus. Als eine Kollegin bei den “Planken” – in Bild 55 von „Unterm Teppich“ schaut die Ich-Erzählerin auf sich als junge Frau, die das Sterben eines Freundes begleitet – in Tränen ausbrach und sagte, das musst du veröffentlichen, hat mich das überzeugt. Die Zeit vor der Drucklegung war schwierig. Ich wachte nachts mit einem schlechten Gewissen auf und dachte, meine Eltern drehen sich im Grab um. Meine Brüder ziehen vor Gericht, meine Schwägerinnen schreiben mir böse Briefe, ich sei eine Nestbeschmutzerin.

Als hätte ich meine Seele verkauft. Ich verkaufe das Verdrängte. Habe es ausgeschmückt, ironisiert, verkleidet. Maskerade. Um mich zu schützen. Aber die Literatur schützt nur bedingt.

BRIGITTE: Ich mag unglaublich gerne den Anfang deines Buches, das sehr kurze erste Bild mit der Überschrift “Die Verfolgung”, einer Person nämlich, eines früheren Ichs, das die Ich-Erzählerin hinter sich lassen will. Oder muss? – Mein Buch beginnt ja mit der Stimme einer (meiner) Schwiegermutter, geht irgendwann über zu der Stimme eines Vorfahrs, dazwischen taucht eine Ich-Erzählerin auf, die von sich (und dem Mondmann) erzählt. Mein erster Wunsch war, eine Liebe festhalten, ich bin dann bei mehreren gelandet. Das Mädchen, die junge Frau, die meine Ich-Erzählerin damals war: „Armes Kind“, wollte ich hin und wieder sagen, wenn ich über sie nachdachte.

Die Literatur schützt nur bedingt, der Satz ist wahr und wichtig. Was man anspricht, wie, und wem gegenüber, liegt immer auch in der eigenen Verantwortung. Es zwingt einen ja keinen, irgendetwas aufzuschreiben.

Manche Fragen verlangen allerdings danach, gestellt zu werden. Wollen gehört, beantwortet werden. Das ist der andere Teil der Wahrheit.

EVA: Mein Vater sagte einmal, als ich schon halb erwachsen war und in einer – heute würde man sagen – toxischen, weil abhängigen – Beziehung zu einem älteren Mann steckte, spät abends zu mir: “Ich wusste ja als Vater nicht, wie man mit einem kleinen Mädchen umgehen soll.”

Er wollte mir vielleicht etwas sagen oder beichten oder sein Unverständnis / Verständnis darüber ausdrücken, dass ich mit einer Vaterfigur in einer sexuellen Beziehung steckte. Aber da es spät abends war, ich gerade heimkam – woher? – und er zu mir in seinem Schlafanzug in die Küche kam, war ich ob dieses Schlafanzuges und dieses komischen Satzes, der mir wie ein Geständnis erschien, so perplex und verunsichert, dass ich das Gespräch abbrach. Zumindest nicht nachfragte.

Hatte ich Angst vor der Wahrheit? Was immer das sein kann? Das bereue ich bis heute. Wenn mir jetzt Leser konstatieren, dass mein Buch “mutig” sei, denke ich immer wieder an diese Szene, wo ich gar nicht mutig war, sondern feig. Wäre ich mutig gewesen, hätte ich mit meinem Vater gesprochen. Aber da war viel Schweigen zwischen uns und ja, Angst vor der Wahrheit.

Großes Wort. Wie gesagt, ich weiß nicht was hinter oder in dem Wort Wahrheit steckt.

BRIGITTE: Eine andere Scham. Ocean Vuong in “Auf Erden sind wir kurz grandios” beschreibt, wie seine vietnamesische Mutter, mit sehr viel weniger Englisch als meine Eltern, in den USA versucht, beim Schlachter Ochsenschwanz zu bestellen. Sie weiß das Wort nicht, sie macht eine Pantomime für das Tier, das sie meint. Der Junge, sechs Jahre alt, steht daneben und erkennt in diesem Moment, dass er eine solche Szene, die Hilflosigkeit der Mutter, das Kichern der Angestellten, nicht mehr erleben will. Dass er die Aufgabe des Sprechens für die Mutter übernehmen wird. Auch er spricht von Scham. Es ist aber nicht die, die Annie Ernaux meint. Er kennt die Regeln, er wird seine Mutter schützen, damit er sich für sie nicht mehr schämen muss.

Damit er sich nicht mehr schämen muss.

Vielleicht ist es doch die Scham, die Annie Ernaux meint?

Ocean Vuong spricht davon, dass er sein Englisch ab diesem Moment trägt wie eine Maske, die er an und ausziehen kann. Um sichtbar zu sein, um seine Mutter sichtbar zu machen. Sein Buch ist ein Brief an die Mutter, er erzählt ihr von seinem Blick auf sie, seinem Werden durch sie, auch in der Entfremdung durch (nicht nur) die Sprache. Und sie lebt ja noch. Englisch lesen kann sie nicht. Ob sie das Buch je lesen wird, weiß er nicht, das schreibt er auch. Natürlich ist es eine Liebeserklärung.

Wie „Eine Frau“ von Annie Ernaux am Ende ja auch.

EVA Ja – jetzt geht es durcheinander, aber bei der Scham gibt es auch keine Linearität – Ocean Vuongs Buch habe ich sehr geliebt und seinen Mut bewundert und auch eine Verwandtschaft gespürt. Vor allem wie er von Sexualität spricht, das ist sehr genderfluid oder sehr weiblich, die Abhängigkeit, die Hingabe, die Verrücktheit. Genau in dieser Schräglage von Hingabe, Abhängigkeit und Ausgeliefertsein trifft er sich mit Annie Ernaux in einem andern Roman, “Geschichte eines Mädchens”, und mit mir in meinen Männergeschichten in „Unterm Teppich“.

Da ist ein Ort der Scham, die ich damals gespürt habe und beim Schreiben spürte. So soll man nicht lieben, das tut man nicht und das ist auch ungesund, weil das Ich bereit ist, sich selbst aufzulösen. Es hat mit Rausch zu tun und Sexualität als Droge.

Bin ich jetzt vom Thema Scham abgekommen? – Nein, weil jede Art von Öffentlichkeit Scham auslösen könnte, schambehaftet war. “Oh, ist das peinlich” sagte mein Vater oft. Man konnte jederzeit in den Abgrund zwischen den Rollen fallen.

Weil meine Mutter sich schämte, lernte ich was Scham ist. Weil meinem Vater vieles peinlich war, erahnte ich einen Raum, der zum Leben gehört, den ich ergründen wollte, dort war es prickelnd, aber stockduster. Das Flashlight dafür suche ich bis heute.

BRIGITTE: Beide haben wir Ende der 1980er unsere Abschlussarbeit in Germanistik über „Der Fall Franza“ von Ingeborg Bachmann geschrieben, ein Romanfragment, der von den ersten Herausgeberinnen des Nachlasses zusammengestellt wurde, und das Anfang der 1990er dann in einer nächsten editorischen Bearbeitung des Nachlasses wieder aufgelöst wurde. Das Buch, über das wir geschrieben haben, gibt es nicht mehr. Ein Grund, warum ich dich kennenlernen wollte, war auch „Der Fall Franza“, dein Umgang damit, dein Interesse daran. Mich hat damals das Handwerk, die List eines Schreibverfahrens interessiert, mein Titel, „Der Fall Franza als Kriminalroman gelesen“, sagt das ja schon. Was war es bei Dir?

EVA: Mich interessierte, das sage ich jetzt aus dem Abstand von 25 Jahren heraus, das Thema “Kränkung”, die krank macht. Vielleicht wollte ich die Kränkung bearbeiten, die die Trennung von meinem ersten festen Freund bedeutet hat. Die mich schier umgebracht hat, zumindest stand ich lange auf einer Eisenbahnbrücke und fragte mich, ob das eine Lösung sein könnte.

Neulich fuhr ich mit dem Zug unter dieser Eisenbahnbrücke durch und diese Eva von vor 45 Jahren war mir sehr fern, auch wenn ihr Schmerz immer noch unweit hinter der Stirn oder im Unterleib liegt. Bachmann sprach zu mir von Abhängigkeiten, von toxischen Beziehungen und dem Ungleichgewicht zwischen Männern und Frauen. (Männer bei ihr, bei Franza ist das der Ehemann Jordan, sind und bleiben distanziert, sie schmeißt sich in die Beziehung.) So war es bei mir auch. Der Junge hatte seine Gitarre und eine funktionierende Familie. Ich meinte nur ihn zu wollen. Und seine Familie. – Die ganzen Kränkungen (“Die Kränkung, die das Leben ist.”), die ich damals sammelte und wie Briefmarken ablöste und einsteckte, führten irgendwann dazu, dass sich ein ICH gebildet hat. Ein versehrtes, aber immerhin ein ICH.

Erzähle ich zu viel?

BRIGITTE: Nein.

EVA: Was mich am Fall Franza interessierte, war, wie sie über diese Kränkungen schreibt, wie sie überhaupt schreiben kann darüber. Auch sie schrieb erst Gedichte, später Prosa. Beschrieb diesen Wechsel als “Umzug im Kopf”. Diesen Umzug habe ich in den letzten Jahren auch vollzogen, habe mich ob den Verwundungen nicht umgebracht, sondern brav weitergelebt und immer an diesem Umzug im Kopf gearbeitet, bis ich jetzt „Unterm Teppich“ schreiben und veröffentlichen konnte.

Ich hatte Bachmann auf einen Sockel gestellt. Und nachdem ich Menschen kennenlernte, die sie näher kannten (Christine Koschel, Inge von Weidenbaum, Gastone Salvatore, Walter Jens…) wurde mir bewusst, dass diese Mischung von schreibender Selbsterforschung und hohem literarischen Anspruch sie vielleicht selbst krank gemacht hat.

Wie kann man nach Ingeborg Bachmann und in der Tradition von Annie Ernaux die eigenen Kränkungen so verwandeln, dass sie lustvoll zu lesen sind? Ich habe lange an meinen Geschichten geschrieben oder sie in meinem Kopf über Jahre hinweg von meinem Gehirn kompilieren und schreiben lassen. Ich habe das getan, was meine Träume (nach Freud?) auch tun: Geschichten verschieben, symbolisieren, verdichten. Das ist mein literarisches Verfahren. Als Zwerg stehe ich auf den Schultern von Ingeborg Bachmann und Annie Ernaux und schaue in die Runde, schaue in die Weite des autofiktionalen Schreibens und mache Tiefenbohrungen.

Neulich wurde ich am Hamilton College (in upstate NY) von Studenten des creative writing programs gelöchert, wie ich denn autobiografisch schreiben könnte, bei ihnen würde es so banal klingen. Mir fiel auf die Schnelle und auf Englisch nur der Satz ein: write along the pain.

Pain wie (französisch) Brot. Aus dem Schmerz Brot machen, finde ich schmackhaft und lustig.

Auszüge aus einem Gespräch zwischen Eva Christina Zeller und Brigitte Helbing, Oktober 2022
Annie Ernauxs Bücher erscheinen auf Deutsch beim SUHRKAMP VERLAG

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