Barbara Weitzel: Von der Unantastbarkeit
Woher das Wort Tabu kommt, was echte Tabus sind und warum wir sie brauchen
Der Instagram-Star Pamela Reif sagt: „Nur wenn Unterwäsche-Shootings anstehen, sind Sündentage tabu.“ Harvey, Irma, Nate und Maria sind als Namen für Wirbelstürme tabu. Ein Osterfeuerplatz ist tabu für Strauchschnitt. Und der Seitenstreifen ist tabu. Diese vier „Nachrichten“ konnte man Mitte April lesen, wenn man bei Google „tabu“ eingab und nach News suchte. Außerdem gibt es Klettergipfel, die „vorübergehend tabu“ sind sowie Themen, die nach Ansicht vieler Menschen tabu sind. Dazu gehören: Der Tod. Abtreibungen. Alkoholismus. Missbrauch aller Art. Aids. Menstruation. Religion.
Klettergipfel, Menstruation, Missbrauch, Autobahnen. Das alles fällt unter den Begriff „Tabu“? Und es ist erst der Anfang der Verwirrung. Denn richtig wild wird es, wenn man sich – und das Internet – fragt, ob es gut ist, dass so viele Themen, Vorgänge, Taten und Untaten tabu sind. Denn viele sind es, sehr viele, bei den oben genannten handelt es sich um eine willkürlich ausgesuchte Handvoll aus Hunderten. Vermeintlichen.
Hunderte zu viel, rufen die einen. Tabus sind dazu da, um sie zu brechen! Im Namen der Toleranz, Freiheit, Offenheit, Transparenz!
Es gibt kein Tabu mehr, klagen die anderen. Wir leben in einer tabufreien Gesellschaft, einer tabulosen Zeit. Und ein Beitrag auf jetzt.de beginnt mit der schwindlig machenden Aufforderung: „Sprechen wir über ein Tabu: Das Tabu im 21. Jahrhundert.“
Über das Tabu als solches zu sprechen, ist tabu? Wie passt das zur wiederkehrenden Frage nach seiner Existenzberechtigung? Und was stimmt denn nun? Haben wir zu viele Tabus oder zu wenige oder gar keine? Ist alles, von dem irgendwer behauptet, man dürfe darüber nicht sprechen, gleich ein Tabu? Oder wird das Wort hier nicht zum Kampfbegriff all derer, die überall Sprechverbote wittern, wo sensiblere Gemüter Vorsicht und Achtsamkeit in der Kommunikation und im Miteinander fordern?
Bevor es darum gehen kann, Antworten auf diese Fragen zu finden, braucht es Klarheit darüber, was ein Tabu eigentlich ist. Dabei lohnt immer zuerst ein Blick in den Duden und es wird sich herausstellen, dass der Begriff in den allermeisten Fällen recht unachtsam verwendet wird. Der Duden definiert „Tabu“ völkerkundlich und bildungssprachlich. Das Wort, darin sind sich Sprachforscher weitgehend einig, stammt von den polynesischen Inseln, genauer: Aus dem Königreich Tonga. 169 Inseln umfasst der Inselstaat, nur 36 sind bewohnt. Wenn die Bewohner dieser Inseln etwas „tapu“ nennen, erklären sie es für verboten, „bestimmte Handlungen auszuführen, besonders geheiligte Personen oder Gegenstände zu berühren, anzublicken, zu nennen und bestimmte Speisen zu genießen.“
Es war der Naturforscher, Ethnologe und Revolutionär Georg Forster, der zusammen mit James Cook die Inseln bereiste, 1777 das Wort nach Europa brachte und damit eine beispiellose Begriffskarriere möglich machte. Vom „Gebot zu meiden“, wie er ihn übersetzte, zum – es folgt die bildungssprachliche Definition des Dudens –
„ungeschriebenen Gesetz, das aufgrund bestimmter Anschauungen innerhalb einer Gesellschaft verbietet, bestimmte Dinge zu tun“
zum inflationär verwendeten Debattenbegriff. Dabei sollte, mit Blick auf die beiden Definitionen, schon die Tatsache stutzig machen, dass Tabus so häufig als etwas auftauchen, das abgeschafft wurde oder werden sollte. Als ob ein Gesetz, zumal eines, auf das sich eine Gesellschaft vor langer Zeit geeinigt hat, einfach zu kippen sei.
Zweitens ins Auge springt das Wort „tun“. Ein Tabu ist in erster Linie nicht etwas, das nicht gesagt werden darf, sondern eine verbotene Handlung. Als Synonyme nennt der Duden
„Unantastbarkeit, Unverletzlichkeit und „No-go“
Besonders die Worte Unantastbarkeit und Unverletzlichkeit werfen ein helles Licht auf die Bedeutung und Nichtverhandelbarkeit von echten Tabus – und die Folgen, wenn jemand sie in Frage stellt. Doch dazu gleich.
Denn selbst wenn man den Begriff weiter fasst – die Verwendung von Wörtern unterliegt ja ebenso dem Wandel wie das, was in einer Gesellschaft tabu ist – und mit hineinnimmt, worüber angeblich nicht gesprochen werden darf, zeigt sich: Weder die Aussage, wir lebten in einer tabulosen Zeit, ergibt Sinn, noch der Ruf nach weniger Tabus. Über vieles wird nur sehr vorsichtig gesprochen – bestenfalls –, behutsam wählen wir Worte, Räume, Foren und Adressaten, wenn es um Sexualität, Krankheit, Religion geht. Fremde fragt man nicht nach ihren Vorlieben im Bett und wer einen AIDS-Kranken porträtiert, wird ihn vorher gefragt haben. Sein Leiden öffentlich zu machen ohne sein Wissen ist – tabu.
Und das ist gut so. „In einer Gesellschaft muss man aufeinander aufpassen“ sagt die Soziologin Sabine Krajewski, die sich viel mit Tabus beschäftigt hat und in vielen Interview und Beiträgen deren Wichtigkeit darlegt. Sich mit Tabus zu beschäftigen, bedeutet also auch, sich immer wieder zu fragen: Wie wollen wir leben? Wie wollen wir miteinander reden? Wo verlaufen die Grenzen? Die des Gegenübers, welche ganz andere sein können, als die eigenen (was kein Grund ist, sie nicht zu respektieren) und die der Gesellschaft. Was halten wir aus? Wie viel Offenheit wollen wir? Und in welchem Ton?
Das sind die Fragen, und nicht, ob wir Tabus komplett abschaffen sollten. Wer das fordert, soll seine Gefühle prüfen, wenn Tabus, die lange als unverrückbar, unantastbar, unverletzlich galten, sich als sehr verletzbar entpuppen. Zum Beispiel das Tabu, das Leid von Millionen Juden in Frage zu stellen oder deren Aufarbeitung als „dämlich“. Wie passen das rituelle Entsetzen über AfD-Reden und –Tweets zu der oft zu hörenden Klage, es gebe immer noch zu viele Tabus? Und was zeigt die jüngste Erregungswelle nach der Echo-Verleihung und Sorge über diejenigen, die offensichtlich keine Tabus kennen? Dass es sie sehr wohl gibt. Sie sind nur nicht unverletzlich. Weniger Tabus beim Sprechen? Lieber nicht. Kümmern wir uns um die wenigen, die wir haben. Es geht ihnen nicht gut.
Besser ist es um die echten Tabus bestellt. Das, was man nicht tut. Das, was meist auch in Gesetze gegossen ist, welche die allermeisten Menschen jedoch nicht bräuchten. Weil sie wissen, dass Handlungen sich verbieten, auch wenn das Verbot kein Paragraph ziert. Dass Gesetze dennoch unverzichtbar sind und alle Zeiten waren, beweist der Skandal um die erst spät diskutierten Ideen einiger Grüner rund um die Legalisierung von Sexualität mit Kindern in den 80er Jahren, die Empörung über die Schriften von Daniel Cohn-Bendit in den 70ern zum selben Thema sowie die kollektive Abscheu über die „erotischen“ Abgründe, die sich nicht nur an der Odenwaldschule auftaten. In diesen Fällen schützten Gesetze die Tabus, an denen manch einer rüttelte und sorgten dafür, dass denjenigen Strafe wiederfuhr, die sie brachen. Wenn auch nicht immer ausreichend, und etliche mögen durchs Raster gefallen sein. Den Opfern hilft das freilich wenig. Damals wie heute helfen den Schwächsten und Verwundbarsten einer Gesellschaft nur unberührbare Regeln. Selbstverständliche Regeln, Regeln, an die sich keiner ran traut. Verbote, die mächtiger sind als Gesetze, weil sie nicht verändert werden dürfen. Weil man nicht mal danach rufen darf. Und weil sie vorher wirken. Tabus eben.
Barbara Weitzel lebt, liest und schreibt in Berlin. Die Literaturwissenschaftlerin arbeitet als freie Autorin u.a. für die Berliner Zeitung, den Kölner Stadtanzeiger, die Frankfurter Rundschau und Zeitmagazin Online sowie als freie Redakteurin für die Welt am Sonntag Kompakt.
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