Die Blütenlese im Verlag Jung und Jung geht lose weiter. Vielleicht haben wir es dort nur mit Blüten zu tun. Der Verlag wurde im Jahr 2000 von Jochen Jung in Salzburg gegründet, wo bis heute, fast unbeeindruckt vom Buchmarktgeschehen, als Schwerpunkt feine und anspruchsvolle Gegenwartsliteratur herausgebracht wird von Autoren und Autorinnen aus Österreich, meistens jedenfalls (wie Handke, H. C. Artmann, Erwin Einzinger, Katharina Geiser, Jean-Pierre Abraham, Gert Jonke). Eigenständige wie lebendige künstlerische Ausdrucksformen und Positionen seien darin zu entdecken. Das Verlagshaus widmet sich darüber hinaus Übersetzungen und streift mit Publikationen die Bereiche Kunst und Musik. In diesem Frühjahr startet die Reihe Österreichs Eigensinn mit einem Band von Ernst Jandl und Adalbert Stifter, also zwei Klassikern der österreichischen Literatur. Heimatkunde auf „subtile und doppelbödige Weise“, so der Projektgedanke. In dem Takt soll das in etwa weitergehen.
In der letzten LitMag-Ausgabe entschlüpfte eine Besprechung bereits hinaus ins Netz. Nachdem der zweite Roman von Melinda Nadj Abonji, „Tauben fliegen auf“, 2010 den Deutschen und den Schweizer Buchpreis gewonnen hatte, waren Buch, Autorin und Verlag plötzlich in aller Munde. Dem Verlag wurde eine satte Auflage beschert, seit Februar 2012 ist das Buch als Taschenbuch erhältlich. Da das mit dem Rummel so war, habe ich erst recht auf das stille Debüt geschaut, das der Verlag aus oben genannten Gründen im letzten Jahr „noch einmal ins Schaufenster“ gestellt hat. Nicht nur für die Protagonistin dieses Buches, sondern auch für den Protagonistin der Erzählung „Wenn die Kinder Steine ins Wasser werfen“ (2011) von Xaver Bayer stellt das Leben einen Affront dar. Lesen Sie heute in LitMag die Besprechung dieses Titel. Von Senta Wagner
Und die Geschichte ist diese
Ein Rückflug aus Athen, eine Zwischenlandung in Brüssel, ein Weiterflug nach irgendwo, der erst in ein paar Stunden geht: Es ist viel Zeit, die sich in die Wartehallen des Flughafens dehnt. Genug Zeit für die mäandernde Prosa des jungen österreichischen Schriftstellers Xaver Bayer. Locker macht sich darin ein aufregender Stilist an Erkundigungen von Innen- und Außenwelten.
Dort spielt sich auch die Zeit des Wartens ab, die die Flugreisenden mit ihrem für diesen Aufenthaltsort spezifischen Treiben „totschlagen“. Sie warten einzig und allein darauf, dass die Reise weitergeht. Das Warten wird zur universellen Notwendigkeit, was andererseits total normal und unspektakulär ist. Alle wollen ja an ihr Ziel. Zu Beginn der Erzählung verlässt der Icherzähler noch traumumhüllt sein Flugzeug und kommt erst richtig zu Bewusstsein beim Betreten der typischen Glitzerfußböden in den Terminals. Es eröffnet sich damit unmittelbar die literarische Dimension dieser bezaubernden Erzählung: Über die erschauernde Wahrnehmung des Protagonisten gelangt der Leser in sein Inneres. Die Außenwelt, auch die direkte Umgebung fungieren wie Stichwortgeber, das Ich erinnert sich und denkt, bewegt sich in Assoziationsräumen, schlingert mal hier- und mal dorthin und gerät in „wiederkehrende Entrückungszustände“. Der Glitzerboden lässt unseren Mann beispielsweise an die letzten Sternenhimmel denken, die er betrachtete. Der sehr genauen und extrascharf gestellten Beobachtung des Wartenden entgeht nichts, das harmlose Verweilen an einer Bar, jeder Schluck Bier dort werden eins zu eins sinnlich erfahrbar gemacht, simultan in Worte übersetzt. Der Leser durchläuft bei der Lektüre eine erstklassige Wahrnehmungsschulung. Xaver Bayer zeigt sich, und nicht nur in diesem jüngsten seiner Werke, als aufregender Stilist. Einer, der deutlich die kleine Form bevorzugt und ein ausgesprochenes Gefühl für Rhythmus besitzt.
Ungebremst bis zum Ende
Was durch das Ich an Erinnerungen (an Beobachtetes, Gehörtes, Gerochenes), Gespinsten und Regungen strömt, mag inhaltlich disparat sein, formal ist es weder durch einen Punkt am Satzende noch durch einen Absatz zu bremsen – ganze 118 Seiten lang. Punkt. Dessen Rolle übernimmt das konjunktive, koordinierende „und“, und mit „Komma und“ wächst die Satzschlange dreist in die Länge. Mit ihrem Mäandern und Schweifen becirct sie die Leser der Erzählung. „…, und jetzt bin ich am Ende der Halle angekommen, zur Linken befindet sich eine Imbissbude, und ich stelle mich hinter die vor der Kassa Wartenden, und während mein Blick, …, und ich denke darüber nach, …, und als ich über diese Gedanken reflektiere, usw. Was macht das „und“? Jeder Gedanke des Erzählers ist einem anderen gleichwertig, er blitzt aus dem Monolog auf, pflanzt sich fort, schubst einen weiteren an, verschwindet. „Gedankenkaskaden“ heißt es im Text. Bei Gelegenheit landet man so beim Titel der Erzählung.
Staunend die Zivilisation beäugen
Längst sind wir groß und haben in unserem Leben Steine ins Wasser geworfen, die weite Wellenkreise ziehen. Als Kinder hatten wir Spaß an dem Zauber des schönen Spektakels, von Metaphysik keine Ahnung. Xaver Bayer hat das Bild aus der Kindheit geholt, den Spaß gestrichen und bietet das Phänomen nun an als Bild für unser fortgesetztes Denken und Wahrnehmen und die Frage, wie diese funktionieren an diesem speziellen Ort des Transits. Der Raum ist zwingend, es gibt kaum reale Möglichkeiten des Davonkommens, imaginäre schon.
Der zivilisationsmüde wirkende Erzähler tut also sein Möglichstes (Shoppen, Bier trinken), dennoch driftet er recht ziellos und mies gelaunt in der Gegend herum. Die schiere „Masse an Eindrücken, die sich in wenigen Augenblicken ins Unendliche ausdehnen“, übermannt ihn bis hin zur körperlichen Erschlaffung, dann kommt er sich wieder vor wie ein Außenirdischer, „der staunend diese Zivilisation beäugt“. Das eigene Schauen des Wartenden kippt dabei in Momenten in ein Glotzen und gibt wiederum Anlass zu weitreichenden Reflexionen. Eine Konstante bilden die zarten Erinnerungsbilder an eine Liebe, die nicht mehr ist. Kurz vor dem Absturz ins Leere hilft der Griff nach einem Gegenstand oder ein kräftiger Räusperer, um wieder Bodenhaftung zu spüren. In dem separaten islamitischen Gebetsraum findet eine starke Episode der „Selbstbezichtigung“ statt unterstützt von schlückchenweise Whiskey aus der Flasche. Da geht es beim Wutablassen des Erzählers gegen Lebloses („Du Scheißtropfen auf deinem Scheißblatt, du hängst einfach nur so da“) zu wie bei Handke.
Der Erzähler sagt, dass er schon zu viel gesehen habe, „alles war mir vertraut, aber nichts Heimat“. Er scheint ja Fotograf zu sein. In der gegenwärtigen Welt, deren rasante Wirklichkeit uns mehr denn je medial vermittelt wird, ist er damit ein zentrales Mitglied, wenngleich er diese seit einigen Jahren voller Ingrimm durchmisst. Am Ende des Buches schließt der Mann seine Augen, und als er sie wieder öffnet, hört das Warten auf, der Flug geht weiter. Die Erkenntnis nimmt den Erzähler mit, woandershin.
Senta Wagner
Xaver Bayer: Wenn die Kinder Steine ins Wasser werfen. Erzählung. Salzburg und Wien: Jung und Jung Verlag 2011. 118 Seiten. 16,80 Euro