Ins Ohr geflüstert
– Wenn sich schon früh in einem Leben etwas verschiebt: Etwas, was nicht normal ist, ist auf einmal normal, dann ist diese verdrehte Sicht vielleicht mit Schuld an einem viel späteren, erwachsenen Leben, das immer ein wenig neben der Spur verläuft. In ihrem leisen und verstörenden Debüt wacht Melinda Nadj Abonji so gut es geht über ihrer Hauptfigur. Von Senta Wagner
Wahrscheinlich könnte Luisa Amrein nur in dem Schaufenster von Herrn Zamboni wirklich schlafen, ohne böse Träume zu bekommen, ohne Angst. Der Frisör ist der Freund von Luisa, den sie schon als Sechsjährige zum Haareschneiden aufsucht. Der Laden auf dem Dorf wird zu einem Ort der Milde und der Geborgenheit für das Kind und das heranwachsende Mädchen. Noch heute, Luisa ist zum Zeitpunkt der Romangegenwart 25 Jahre alt, spannt sich ihre Sehnsucht von Wien aus dorthin, nur heute „trägt sie ihre Haare absichtlich in Fetzen“.
In der Stadt ist Luisa so eine Komische, die vor sich hin lebt. Ihr früheres Leben hat sie „fast vergessen“. Wiewohl es mit den Erinnerungen schonungsloser zugeht: „… sie überfallen einen und man weiß nicht wieso.“ Diese Worte hört Luisa von ihrer alten, quirligen Nachbarin, einer Art weiblichen Zamboni-Figur, deren Wohnung für Luisa ein Synonym für das Schaufenster vom Frisör wird. Behutsam nähert sich die Dame der jungen Frau an und lädt sie in deren schlaflosen Nächten zu sich ein. Und Luisa fängt an zu reden, und der Roman nimmt seinen Anfang, um von Luisa zu reden. Es wird ein Leben in Nöten geschildert, in dem Liebe, Vertrauen und Achtung nie normal waren, in dem die Selbstbestimmung verkümmerte.
Das unversehrte Glück ist allein erfahrbar in der geschenkten Zuneigung durch Herrn Zamboni und die Nachbarin. Als Kind trägt Luisa Spuren von väterlicher Gewalt an Hals und Rücken, weitere männliche Gestalten sind Figuren der Bedrohung und der Aggression. Die Beziehungen zu den wechselnden Freundinnen bekommen eine sinnliche Note, Luisa saugt Freundlichkeiten, das bloße Interesse an ihr auf wie ein Schwamm. Keine einzige Freundschaft überdauert.
Verletzungen, weggelacht
Es ist ein Roman über den Schrecken ohne selbst schrecklich, aber auch nicht zimperlich zu sein. Im Gegenteil ist dies eine verblüffend schlichte Prosa, in der kein Wort zu viel ist und keines fehlt. Die Darstellung ist künstlerisch überzeugend. Die Autorin urteilt nicht, indem sie etwa die Verletzungen der Vergangenheit mit moralisierenden Adjektiven verschlingt oder psychologische Mechanismen freilegt. Die Lesenden haben längst begriffen. Oft reichen stereotype Andeutungen in kurzen Sätzen: das Zittern von Luisa, der Gürtel des Vaters, der bereitliegt, die Schluchzer der Mutter, ein gesenkter Kopf.
Die häufige Wiederholung von markanten Szenen aus Luisas Leben mit jeweils leichten Variationen ist dem Gegenstand angemessen: Schließlich könnte es so oder auch ein bisschen anders gewesen sein. Genau, die Erinnerung eben, die ist sprung- und lückenhaft, sie arbeitet darüber hinaus mit Krücken wie Jahresangaben, Jahreszeiten („Sommer“. „Frühling.“), Tageszeiten („Ein Frühlingstag“. „Eine Nacht“.); spärlich fließt Figurenrede in den Text ein. Der Roman erhält dadurch seine ganz eigene und poetische Verarbeitungsdynamik.
In Wien, an den Freitag- und Samstagabenden, ist Luisa die Geliebte des Kommunikationsberaters Frank Ulrich. Sie fügt sich auch hier, bleibt fragil und seltsam. In ihrer Überwachheit, nachts also, wenn er schläft und sie es nicht kann, einverleibt sie sich seine Sachen und die seiner Frau. Die Geschichte rutscht ins Geheimnisvolle und bewegt sich auf ein dräuendes Unheil zu, als Luisa eine Waffe unter Franks Bett neben Fotos von ihm und seiner Frau entdeckt. Längst verstrickt in die Angelegenheit ist die quietschlebendigste aller Romanfiguren: Luisas jüngste Bekanntschaft Valérie. „Und Valérie lachte, ihr Lachen kippte über die Lippen hinaus.“ Oft muss sie so lachen, ihre eigene Verzweiflung muss die größte sein.
Senta Wagner
Melinda Nadj Abonji: Im Schaufenster im Frühling. Salzburg und Wien: Jung und Jung Verlag 2011. 138 Seiten. 15,90 Euro (der Roman erschien bereits 2004 beim Ammann Verlag). Die Autorin erhielt 2010 für „Tauben fliegen auf“ den Deutschen und den Schweizer Buchpreis. Melinda Nadj Abonji in einer Live-Lesung auf CULTurMAG.