Geschrieben am 4. Mai 2011 von für Bücher, Litmag

Wolfgang Büscher: Hartland. Zu Fuß durch Amerika

Hakenschlagend am Highway

– Nach seinem legendären Fußmarsch von Berlin nach Moskau (2003) und seiner Wanderung durch Deutschland (2006) hat Wolfgang Büscher nun das ultimative Wanderabenteuer gewagt und Amerika zu Fuß durchquert: von der kanadischen Grenze bis nach Mexiko. Der asketische Meister subtiler Impressionen und Chronist faszinierender Episoden hat sich mit „Hartland“ mal wieder selbst übertroffen. Von Peter Münder

Als „Amerikadepp“ wurde Wolfgang Büscher, 59, von Freunden und Reiseexperten verhöhnt, als er seinen Plan ankündigte, zu Fuß durch die USA zu marschieren: „Wie blöde kann man denn sein?“ war die spontane Reaktion – schließlich weiß doch jeder, dass in Amerika niemand zu Fuß geht, nicht mal in den Städten! Würde er den aberwitzigen Plan dennoch realisieren, dann würde er als Freak und Outlaw behandelt: „Jeder Sheriff würde mich an seinen Wagen stellen, Arme vorgestreckt, Beine gespreizt, wie in den Filmen, und mich ins Gefängnis stecken. Man riet mir dringend zu einem Auto, einem Motorrad, ja sogar zu einem Pferd. Ich weiß nicht, sagte ich, ich gehe lieber. Ich war der Amerikadepp.“

Johann Gottfried Seume

Als ähnlich komischer Kauz wurde schon der passionierte Wanderer Johann Gottfried Seume eingeschätzt, als der sich im Jahre 1802 von Dresden aus zu einem „Spaziergang nach Syrakus“ (800 sächsische Meilen / 6000 Kilometer in 250 Tagen) aufmachte, um dort auf den Spuren seines Lieblingsphilosophen Theokrit und anderer alter Klassiker zu wandeln. Seine Maxime – der Büscher sicher zustimmen würde – lautete: „Wer geht, sieht mehr, als wenn er fährt. Überfeine und unfeine Leute mögen ihre Glossen machen darüber nach Belieben; es ist mir ziemlich gleichgültig. Ich halte den Gang für das Ehrenvollste und Selbstständigste in dem Manne und bin der Meinung, dass alles besser gehen würde, wenn man mehr ginge. Man kann fast überall bloß deswegen nicht auf die Beine kommen und auf den Beinen bleiben, weil man zu viel fährt.“ Als uneitler, unaufgeregter, aber äußerst scharfsinniger Beobachter, der meistens im Clinch mit aufgeblasenen Bürokraten, Wachposten und Zollbeamten lag, war der Lyriker, Dozent, Soldat und Lektor Seume (1763–1810) irgendwie auch ein würdiger Bruder bzw. Vorfahre im Geiste des zeitgenössischen Wandersmanns Büscher. Zu diesem Marathon-Wanderer-Bund muss man sicher auch den beinharten Extrem-Künstler Werner Herzog zählen, der Ende November 1974 das Gelübde ablegte, von München aus nach Paris zu wandern. Er war nämlich fest davon überzeugt, damit das Leben der todkranken Lotte Eisner retten zu können. Herzogs Wanderung war tatsächlich von Erfolg gekrönt: Die berühmte Filmkritikerin und Historikern war bei Herzogs Ankunft in Paris zwar immer noch schwer krank, Herzogs Besuch wirkte dann aber wie eine Frischzellenkur. Sie lebte noch neun Jahre und starb im November 1983. Seine überwältigende Tagebuch-Chronik „Vom Gehen im Eis“ ist neben den eindringlichen Impressionen der dreiwöchigen Winterwanderung auch ein sehr intensiver Ego-Trip mit implizierter permanenter Selbstreflexion.

Loslaufen und eintauchen

Prinz Maximilian zu Wied-Neuwied

Eine klare Zielvorgabe wie die von Seume und Herzog – nämlich Syrakus und Paris – hatte Büscher zwar auch. Er wollte einfach, von Sasketchewan kommend, von der kanadischen Grenze in Nord-Süd-Richtung 3500 Kilometer hinunter nach Mexiko wandern. Aber dem Leser erklärt der wandernde Autor weder die Vorgeschichte noch seine speziellen Vorlieben oder Interessen: Geht es ihm vor allem um das Schicksal der Indianer oder europäischer Pioniere, interessiert er sich für deutsche Forscher wie etwa Prinz Maximilian zu Wied-Neuwied (1782–1867), den er ja gründlich gelesen hat, dessen Buch „Reise in das innere Nord-America in den Jahren 1832–1834“ er sogar in seinem Rucksack mitschleppt und den er hier ausführlich zitiert? Das wird nur vage angedeutet, was dem Reisebericht aber keineswegs schadet. Es verleiht dem Buch im Gegenteil den Charme des Spontanen und drückt auch den natürlichen Entdecker- und Forscherdrang des Berliner „Zeit“-Redakteurs aus: Loslaufen, den Kitzel extremer rustikaler Strapazen suchen, eintauchen in historische Episoden, interessante Typen treffen und das alles dann beschreiben – das scheint Büschers Devise zu sein.

Doch erst einmal muss er sich an der amerikanischen Grenze mit einem dieser wichtigtuerischen Homeland-Kontrollfreaks herumschlagen, für den so ein individualistischer deutscher Wandersmann die Inkarnation all dessen ist, was suspekt und dubios ist: Was will er in den USA? Was hat er in China getrieben? Wieso hat er auch noch Stempel aus Israel und Jordanien im Pass? Offenbar hat Büscher aber vor seinem Trip einen Kurs in positivem Denken absolviert – jedenfalls übersteht er dieses stundenlange idiotische Verhör nebst Inspektion von Rucksack, Lektüre und Landkarten, ohne total auszurasten. Und als er schließlich diesen hohlköpfigen Stasi-Imitator hinter sich hat, muss er sich beim Marsch durch die flachen Windstaaten in Richtung Süden immer wieder düstere Warnungen vor den gewalttätigen, schießwütigen, betrügerischen Texanern anhören. Der arglose, vorurteilslose Büscher lässt sich von diesen Dumpfbacken-Warnungen jedoch nicht beeindrucken – der erfahrene Abenteurer blickt einfach unverdrossen nach vorn und ist gespannt, was auf ihn zukommt. Die Texaner entpuppen sich schließlich als besonders offene, gastfreundliche und sympathische Typen, was sicher auch daran liegt, dass der kommunikationsfreundliche, an allem interessierte deutsche Wanderer bei allen Begegnungen fast automatisch für positive Reaktionen sorgt.

Foto © Frank Zauritz

Hakenschlagend wie ein Hase tänzelt er zwar am Rande von schmalen Landstraßen und Highways herum, um den Autos auszuweichen, doch nie erlebt Büscher irgendwelche aggressiven Aktionen von Autofahrern; oft genug wird er ohne theatralische Gesten von mitleidigen Fahrern im strömenden Regen oder bei unerträglichen Stürmen aufgelesen und als Tramper mitgenommen. Als der einsame Wanderer auf menschenleeren Landstraßen von jedem vorbeibrausenden Autofahrer gegrüßt wird, schließt er messerscharf: „Wir sind hier in Grüßland.“ Allerdings brüllt ihn ein PS-Ritter vom Steuer aus an: „Get yourself a fucking car!“

Als der wandernde Reporter in einem gottverlassenen Nest ohne Aussicht auf ein Quartier landet, empfiehlt ihm eine Kellnerin, es doch im Shelter zu versuchen, dem Obdachlosenquartier. Dort muss er eine Big-Brother-Bürokratenprozedur über sich ergehen lassen, die ihm zutiefst zuwider ist: Mehrere Formulare mit seiner Vorgeschichte ausfüllen, Fragen zu Vorstrafen, Sexualdelikten, Alkoholkonsum usw. beantworten, dann soll er seine Klamotten waschen und desinfizieren – zuerst macht er das mit, weil es ihm von gutmütigen, hilfsbereiten Frauen aus dem Asyl ans Herz gelegt wird. Doch als er dann seinen Rucksack ausgepackt hat, alle seine Habseligkeiten begutachten lässt und die Kontrollprozedur kein Ende zu nehmen scheint, platzt ihm der Kragen und er marschiert aus diesem deprimierenden Kontrollzentrum heraus – schließlich hat er sich nicht auf den langen Marsch gemacht, nur um sich dann in einer Art Strafkolonie schikanieren zu lassen.

Mitreißender Genre-Mix

Büschers Freiheitsbegriff ist bezeichnend, weil für ihn „Der Weg“ unmittelbar mit diesem Freiheitskonzept verknüpft ist: Genießt er beim Wandern nicht die größtmögliche Freiheit? „Denn man merkt nicht, dass sie um einen ist wie die Luft zum Atmen.“ Die mit einem leicht hysterischen Unterton garnierte Kritik am Bevormundungseifer von Präsident Obama, die er während der kontroversen Debatten um die zwangsverordnete Krankenversicherung zuerst nur verwundert wahrnimmt und dann immer wieder hört, kann er auf drei entscheidende Aspekte reduzieren, die man als radikale Quintessenz für das Verständnis der uramerikanischen Identität bezeichnen könnte:

1) Ich will keinen Staat, der mir vorschreibt, wie ich leben soll.
2) Ich will ein Leben auf eigene Faust – wie es schon die Vorväter und die Pioniere verwirklichen konnten.
3) Ich will nicht für arbeitsscheue Parasiten sorgen.

„Der Wind war groß und wild, die Straße kleinlich bis zum Geiz“ – so erlebt Büscher die beiden gegnerischen „Verbündeten“ während seiner Wanderung. Nie gewährt ihm die Straße Rabatt: „Zehn ausgeschilderte Meilen waren exakt zehn Meilen, jede einzelne pochte darauf, erfüllt zu werden bis auf den letzten Schritt.“ Der Wind bläst ihm oft so gewaltig ins Gesicht, dass er mitunter mit geschlossenen Augen laufen muss, um Steinsplitter und Dreck nicht in die Augen geschleudert zu bekommen. Die große Leere der Landstraßen und der kleinen Städte in den Windstaaten Nebraska, Kansas, Oklahoma wundert ihn immer wieder: „Wieder fragte ich mich, wenn ich an Farmen vorüberkam, wo die Menschen steckten, nie sah ich eine lebende Seele, nur Zugvögel … Ich ging vier, fünf Stunden, nichts änderte sich. Mais, ferne Vogelschreie, Land, Land, Land. Dann kam der Wind wieder, von Osten jetzt.“

Es ist ein faszinierender Mix aus realistischen Reportage-Szenen, historisch-nostalgischen Rückblenden und eindrucksvollen, spannenden Momentaufnahmen, der Büschers Erzählstil so mitreißend und sympathisch macht: Er will sich nicht als rekordverdächtiger Extremsportler oder imposanter tough guy präsentieren, sondern zuerst einmal selbst – ohne Vorurteile oder eine misstrauische Rasterfahndungsmentalität – sehen, was man auf der Straße des Lebens alles erfahren kann. Das beschreibt er in einem so sensiblen, fast lyrischen, streckenweise aber auch lakonisch-sozialrealistischen Duktus, in den scharfsinnige Betrachtungen über historische Ereignisse eingeflochten sind, dass man sich nur entzückt diesem unwiderstehlichen Erzählsog und den großartigen Impressionen hingeben kann.

Peter Münder

Wolfgang Büscher: Hartland. Zu Fuß durch Amerika. Rowohlt Berlin 2011. 303 Seiten. 19,95 Euro. Eine Leseprobe (PDF) des Buches finden Sie hier. Foto Büscher: © Frank Zauritz