Geschrieben am 12. Januar 2011 von für Bücher, Litmag

THEO SOMMER: UNSER SCHMIDT. DER STAATSMANN UND PUBLIZIST

Überlebensgroß: Herr Schmidt

– Wenn in diesen turbulenten Zeiten Ex-Kanzler Helmut Schmidt in einer öffentlichen Diskussion seine eigene Amtszeit Revue passieren lässt, über seine Rolle als ZEIT-Herausgeber spricht und die Euro-Krise analysiert, dann spürt man, dass die Hanseaten ihn am liebsten wieder als Kanzler oder zumindest als Bürgermeister installieren würden – Heldenverehrung ist angesagt … Von Peter Münder

Bis auf den letzten Platz war Hamburgs Thalia Theater schon wochenlang vor dieser Diskussion zwischen Helmut Schmidt und dem ZEIT-Redakteur Theo Sommer (er nennt sich „Editor-at-Large“, ist also nicht auf der Flucht, sondern prädestiniert für alles Große) ausverkauft. Als die Vorreden beendet sind und der Ex-Kanzler im Rollstuhl auf die Bühne – geschoben wird, steht das Publikum geschlossen auf und applaudiert lang und ausdauernd diese Standing Ovations, das spürt man sofort, kommen von Herzen. Denn dankbar wird honoriert, dass der 92-jährige Elder Statesman auch nach dem Tod von Loki mit eiserner Disziplin diesen Termin wahrnimmt. Auf diese ans Herz gehende Sympathiebezeugung reagiert Schmidt jedoch nur mit einem flüchtigen Blick auf den Boden – irgendwelche theatralischen Anbiederungsgesten wären ihm sicher abartig vorgekommen. Im gegenwärtigen hanseatischen Polit-Chaos, das von einer grün-schwarzen Dilettantenschar als Experimentierfeld für überhastete Schulreformen, halbgare Stadtbahn-Planungen und für das Errichten von gigantischen Dauerbaustellen mit Panoramablick in Hafennähe (Motto: „Nichts auslassen, was dumm, teuer und überflüssig ist“) missbraucht wurde, dürfte jedenfalls die Sehnsucht nach der souveränen, ordnenden Hand mitschwingen. Hätte Helmut Schmidt all diese inkompetenten Feierabend-Schaumschläger im Rathaus nicht sofort in die Wüste geschickt, nebenher noch den unsäglichen HSH-Nordbank-Skandal um den Bilanzaufhübscher Nonnenmacher aufgeklärt und diesem tolldreisten Zahlenjongleur einen Haft-Termin beim Staatsanwalt verschafft? Der vitale Pragmatiker Schmidt ist ja keiner dieser ubiquitären Opportunisten, die jeden Tag eine neue Ansicht vertreten und den neuesten Meinungsumfragen hinterherhecheln. Er hat mitunter zwar auch leicht abstruse Ansichten – etwa über einen „fernsehfreien Tag“ (vom Bundestag verordnet??) – vertreten, doch selbst die konnten die meisten Zeitgenossen akzeptieren, weil er das TV für zunehmende Oberflächlichkeit und Verblödung und dumpfbackige Dampfplauderei verantwortlich machte. Auch seine rabiate, deutliche Kritik an den Gier-ist-Geil-Bankern und skrupellosen Börsen-Haien kam gerade zur rechten Zeit. Für die begeisterten Zuhörer kamen jedenfalls nie Zweifel darüber auf, dass dieser Meister des ungefilterten knappen Klartextes tatsächlich „Unser Schmidt“ ist, wie das Buch von Theo Sommer so treffend heißt. Das Buch ist trotz der unübersehbaren Bewunderung für den Ex-Kanzler keine chronologisch arrangierte Hagiografie, sondern trotz einiger Längen und Redundanzen ein spannender zeitgeschichtlicher Rückblick. In mehreren Themenbereichen gegliedert, würdigt Sommer die Spezialgebiete des großen Hanseaten – man könnte meinen, der Allround-Politiker, Schach- und Klavier-Spieler sei der jüngere Bruder des Universalgelehrten Leibniz oder eine Symbiose von Cicero und Max Weber, mit starken künstlerischen Neigungen. Denn darauf deuten die Kapitelüberschriften hin. Die lauten nämlich „Herausgeber und Verleger“, „der Staatsmann und die Journalisten“, „der Zeitungsmann“, „der Deutschlandpolitiker“, „Europapolitiker“, „Außenpolitiker“, „Wirtschaftspolitiker“, „der Hanseat“, „der Philosoph im Politiker“. Die vom stellvertretenden ZEIT-Chefredakteur Matthias Naß moderierte Diskussion mutete daher mitunter auch wie eine Fragestunde bei Dr. Allwissend an: Ob Euro-Krise oder Globalisierungseffekte, NATO-Doppelbeschluss oder Arbeitslosenquoten, Menschenrechtsprobleme beim problematischen Wirtschaftsgiganten China oder der riesige deutsche Exportüberschuss – alles kommentierte Schmidt präzise und auf den Punkt gebracht, ohne dabei rechthaberisch zu wirken. Der von Theo Sommer im Buch bemühte Vergleich mit Metternich, der „wie ein Arzt im großen Welt-Spital wirkte“, liegt jedenfalls naheliegend und plausibel.

Übrigens greift Schmidt erst nach 15 Minuten – als Theo Sommer sich an seine Zeit in Bonn erinnert, da er vom Verteidigungsminister Schmidt in dessen Planungsstab geholt wurde – zur ersten Zigarette, der dann viele weitere sowie etliche Prisen innigst inhaliertem Schnupftabak folgen.

Foto: Vera Tammen

Ansichten des altersmilden Staatsmannes

Als Helmut Schmidt im Mai 1983 vom Verleger Bucerius als ZEIT-Herausgeber installiert wird, wirkte diese Begegnung der Redaktion mit dem Neuen in der Chefetage auf viele jüngere Redakteure wie ein gar nicht so subtiler „Clash of Civilizations“. Denn Schmidt war meistens von seinen vier Bodyguards umgeben, er beklagte sich über den im Blatt verbreiteten WG- und Gossen-Jargon („Titten-Sozialismus!“ „Kuhäugiger Boris Becker!“) sowie über das saloppe Gebaren von schreibenden Linken, Grünen und Anarchos und war entsetzt über die vielen auf dem Flur abgestellten schmutzigen Teller der Nachtschicht-Schreiber – wie peinlich beim Besuch prominenter ausländischer Besucher, denen er seinen neuen Wirkungskreiszeigen wollte! Aber er war eben auch extrem lernfähig, interessiert an Diskussionen und Disputen und eigentlich immer auf der Suche nach neuen Themen, Trends und Problemfeldern. Bald war er dann, so stellt es Theo Sommer dar, bei der Redaktion als Gesprächspartner mit immensem Erkenntnisinteresse akzeptiert, auch wenn es oft zu hitzigen Kontroversen kam, an denen Schmidt offenbar großen Spaß hatte.

Also alles paletti? Nicht ganz, denn manche Ansichten des altersmilden Staatsmannes kommen doch sehr apodiktisch über die Rampe, werden von Theo Sommer wohl auch zu schnell als ultimative Weisheiten akzeptiert. Die Euro-Krise? Laut Schmidt eigentlich nur Peanuts – da müssten die Deutschen dann eben mal ein paar Euro mehr für den Rettungsschirm locker machen – schließlich haben sie in der Vergangenheit ja genügend Unheil angerichtet und können froh sein über die lange Friedenszeit. Ob dieser Kotau vor der Kollektivschuld nun auch für die nächsten Pleitekandidaten Irland, Portugal und Italien gilt, bleibt offen. Für ein halbwegs bewohnbares europäisches Haus würde Schmidt wohl fast alles opfern, aber wem ist damit gedient, wenn doch eigentlich nur Hasardeure nachträglich für ihre Betrugsmanöver belohnt werden? Gilt das Verursacherprinzip nun überhaupt nicht mehr? Und warum können einige Länder aus der Eurozone nicht für einige Jahre aus diesem Währungsclub ausscheiden und bei solider Finanzlage wieder eintreten? Der Euro als goldenes Kalb – diesen Affentanz zelebriert der Volkswirtschaftler Schmidt dann doch genauso wie die meisten Währungshüter oder auf Brüssel fixierte Bürokraten. Irritierend auch – trotz einiger kritischer Anmerkungen zum amerikanischen Hegemonie-Anspruch – die anhaltende Verklärung der US-Außenpolitik: Den grundlegenden Erneuerungsprozess nach Ende der Bush-Ära habe er immer schon vorausgesagt, meinte der Altkanzler, auch sein alter Freund Henry Kissinger habe ihm darin immer zugestimmt. Aber gehört Kissinger, der die furchtbarsten CIA-Attentate in Chile und anderen Staaten vehement unterstützt hatte, nicht längst vor ein internationales Kriegsgericht? Milde tadelt der Elder Statesman die US-Invasion im Irak, sanft kritisiert er die katastrophale deutsche Afghanistan-Politik mit Hinweisen auf fehlende realistische Exit-Strategien. Warum drängt er nicht auf einen sofortigen Abzug, was haben wir am Hindukusch verloren? Schließlich wies er ja früher häufig auf illegale, im Grundgesetz nicht vorgesehene Auslandseinsätze der Bundeswehr hin? Man hört doch schließlich immer noch auf ihn! Aber das sind eben seine Ansichten, zu denen er eisern steht. Schließlich wird er morgen nicht das Gegenteil behaupten, nur weil er vielleicht von BILD in die Pfanne gehauen wird. Man kann etliche dieser Ansichten kritisieren und ablehnen. Trotzdem muss man dieses souveräne, exzeptionelle Urgestein respektieren. Inmitten all der angepassten, politisch korrekten Schaumschläger wirkt „unser“ Helmut Schmidt eben immer noch wie ein souveräner Adler, der von den vielen um ihn herumflatternden trantütigen Truthähnen am Fliegen gehindert wird.

Peter Münder

Theo Sommer: Unser Schmidt. Der Staatsmann und Publizist. Hoffmann und Campe 2010. 416 Seiten. 22,00 Euro.
Zu einer Dokumentation über Schmidt geht’s hier.