Geschrieben am 9. März 2011 von für Bücher, Musikmag

Schwermetallanalysen oder Wem gehört die Popgeschichte?

Hauptseminar in Sachen Metal und Pop

– Matthias Penzel hat sich mit Gewinn zwei Bücher angeschaut, die sich weitab von Fan-Gedudel mit zeitgenössischer Musik beschäftigen.

Irgendwann nach dem Split der Sex Pistols hat Johnny Rotten mal einen Spruch vom Stapel gelassen, der in etwa so ging: „Es wird Zeit, dass wir die Sache mal ernsthaft angehen, schließlich haben wir lange genug aus dem Arsch gepisst.“ Daran anknüpfend ließe sich ableiten: Pop ist – inzwischen auch in Deutschland – aus den Kinderschuhen raus, Pop muss nicht mehr wie ein Abenteuerspielplatz betrachtet werden, genauso wie Heavy Metal eine ernstzunehmende Größe geworden ist, und zwar schon vor Jahrzehnten. Es muss kaum mehr erklärt werden, dass Pop ebenso wie Metal mehr ist als das bloße Herumtollen einiger Pubertierender. Lachhaft ist aus heutiger Sicht, wie noch der Moderator des „Beat-Club“ vor der ersten Ausstrahlung das Publikum vor den heimischen Fernsehapparaten warnte: „In wenigen Sekunden beginnt die erste Show im Ersten Deutschen Fernsehen, die nur für Euch gemacht ist. Sie aber, meine Damen und Herren, die Sie Beat-Musik vielleicht nicht mögen, bitten wir um Ihr Verständnis. Es ist eine Live-Sendung mit jungen Leuten, für junge Leute. Und nun geht’s los…“ 45 Jahre später, ernsthaft: geht es los.

2010 sind zwei Bücher erschienen, die sich weitab von Fan-Gedudel sowohl Popmusik als auch Metal widmen. „Wem gehört die Popgeschichte?“ ist ein kurzweiliger Reader über die letzten 60 Jahre (plus/minus), verfasst von dem ehemaligen CBS- und WEA-Mann Gerd Gebhardt und einem der Gründer des „Metal Hammer“. Ihren Hintergründen entsprechend dokumentieren sie mit etlichen Zitaten von Zeitzeugen den – recht deutschen – Evergreen von Pop und Politik, jedoch auch das Gesellschaftsphänomen, das Wirtschaften, die Verzahnung von Medien und Industrie. „Wem gehört die Popgeschichte?“ ist Oral History, ein Geschichtsbuch wie ein Trip, rollt die Zeit auf, in der Volksmusik zu Pop wurde. Es geht um außermusikalische Einflüsse, die Trends und Segmentierungen in Nischen ermöglicht haben. Eine deutsche Kulturgeschichte mit Ausflügen zu Kino, Exkursen und O-Tönen Udo Lindenbergs, aber auch zu Scorpions, seitenweise Böhse Onkelz. Voller Drive, lädt ein, kreuz- und quer gelesen zu werden.

Tiefenanalyse

Quasi den umgekehrten Weg, einen bis heute weltweit sehr selten eingeschlagenen Weg, beschreitet der Musikwissenschaftler Dietmar Elflein. An der TU Braunschweig tätig am Seminar für Musik und Musikpädagogik, beleuchtet er in „Schwermetallanalysen“ diametral gegenüber einen anderen Aspekt von Musik: Er blendet Zeitkolorit und Kultur aus, um sich zu 100 % über Musik auszulassen. Klingt profan, ist im Musikjournalismus und in der Kulturkritik aber doch verblüffend selten. Was gibt den Ton an? Komposition und Arrangement, Zusammenspiel. Im Heavy Metal. Der ist für Tiefenanalyse hervorragend geeignet, da hier das Handwerk eine übergeordnete Rolle einnimmt, die Gattung Metal nicht durch Image oder Zeit definiert wird, sondern durch – mehr als einen – Sound. Außerdem geht man im Rock (wie wir alle ahnten, mancher Musiker weiß) weniger formelhaft vor als in Popsongs, die dann doch zumeist nach einem Muster gestrickt werden. Pop-Songs im Rock kommen beispielsweise von W.A.S.P. – Strophe-Chorus-Strophe. Pop- und Blues-Muster streift Elflein; ebenso Ausnahmen (wie meinetwegen Reggae-Elemente in „D’yer Mak‘er“ von Led Zeppelin, „Is There Anybody There“ von den Scorpions oder Judas Priests „The Rage“). Doch darum geht es nicht: Es geht um Metal. Kompliziert aber plausibel hat Elflein ausgewertet, welche Alben und Phasen bestimmter Acts als tonangebend eingestuft werden können, um da dann das Stethoskop anzulegen. Wie ist die Struktur, der Puls einzelner Parts, der Backbeat, Breakdown? Was hat sich formal an Priests Sound nach dem Imagewechsel verändert, wie erzielten Guns N’Roses den Schnuddel-Stil und kamen trotzdem tight auf den Punkt, was war Metal-Zierrat? Alles extrem spannend. Peripher metallische Acts und Songs kommen auch vor, ebenso analytisch coole Charakteristika – stimmig mit seinen Stil-Definitionen – und in Fußnoten oder notierten Gegenüberstellungen konkreter Beispiele für das jeweilige Ensemblespiel zeigt Elflein auf, was Metal ist. „Schwermetallanalysen“ ist eine wissenschaftliche Arbeit, gewisse Vorlieben schimmern durch – und sie decken sich mit dem, was jedes Metaller-Herz schneller klopfen lässt. Viele dadurch gewonnene Erkenntnisse dürften selbst ultrahocherhitzte Besserwisser inspirieren.

Das eigentliche Verdienst liegt nicht darin, die Linie von Sabbath über Maiden hin zu Metallica aufzuzeigen, dabei gebührend AC/DC, Megadeth, Maiden et al. zu sezieren (plus gelegentliche Verästelungen zu Blue Cheer, Uriah Heep, genauso Edguy, Queensrÿche, Tool usw.) – nein: das eigentliche Verdienst liegt darin, dass hier ein Wissenschaftler auf Deutsch schreibt wie ein Angloamerikaner: mit Leidenschaft und Sachverstand. 359 Seiten. Liest man in einem Satz weg. OK. In einem Satz, der von gelegentlichen Sprüngen zur Gitarre und dem Plattenregal unterbrochen wird.

(Artikel zuerst erschienen in ROCKS, 1/2011)

Matthias Penzel

Gerd Gebhardt und Jürgen Stark: Wem gehört die Popgeschichte? Berlin: Bosworth Musikverlag 2010. 384 Seiten. 19,95 Euro. Jürgen Stark bei MySpace.
Dietmar Elflein: Schwermetallanalysen: Die musikalische Sprache des Heavy Metal. [transcript], Bielefeld: [transcript] 2010. 359 Seiten. 29,80 Euro. Zur Homepage von Dietmar Elflein.