Geschrieben am 21. Februar 2015 von für Bücher, Crimemag

Sam Millar: True Crime

Millar_True CrimeKnast in Belfast – Millionenraub in New York: Sam Millars „True Crime“-Lehrjahre

– Was für eine Karriere, was für ein Typ: Erst landete Sam Millar im berüchtigten Belfaster Longkesh-Knast, dann überfiel er in New York das Geldtransport-Unternehmen Brinks und hortete die Millionenbeute bei einem Priester – seine Abenteuer hat er im autobiografischen Krimi „True Crime“ festgehalten – ein Fest für Freunde des Brutalo-Realismus. Eine Rezension von Peter Münder

Als Lee Child in Belfast bei einer Preisverleihung für Sam Millar versuchte, die düstere, unvergleichliche Noir-Faszination von Belfast zu umschreiben, da meinte er nur: „Es gibt eine ganz einfache Steigerung: Düster, Noir, Belfast. Keine Stadt der Welt ist so sehr die Inkarnation von finsterstem Noir wie Belfast“. Dahinter steht eben kein nostalgischer Charme eines etwas dekadenten Lebensgefühls, sondern eine knallharte, über Generationen vererbte und internalisierte fundamentalistische Haltung, die auf Schwarz-Weiß-Kontraste, simple Vorurteile und auf eine Clan-Mentalität fixiert ist, die irgendwo zwischen sizilianischen Mafia-Strukturen und afrikanischen Stammes-Ritualen angesiedelt ist. Für militante Orangemen-Protestanten ist alles Katholische selbstredend papistischer Wahnsinn, für Erz-Katholiken sind Protestanten verkappte, von Briten angestiftete Teufel, die arme Iren mit neuen raffinierten Methoden unterdrücken wollen – vor allem aber sind alle Opfer: Opfer der Machenschaften anderer, der Verhältnisse, des Systems, der Peer Groups. Inzwischen sind die Attentate und Scharmützel seltener geworden, das separatistische Lager-Denken im Kopf lässt sich aber immer noch nicht so leicht „umparken“. Biedere Bürger, die sich vor Jahrzehnten auf das Abenteuer Mischehe (Protestant heiratet Katholikin! Skandalös!) eingelassen haben, können immer noch abenteuerliche Geschichten über gnadenloses alltägliches Mobbing erzählen. Und man reibt sich schon verwundert die Augen, wenn man in unmittelbarer Umgebung der Queen´s University all die Buchläden sieht, die nichts weiter anbieten als Literatur für Bibelfeste: Jede Sekte soll mit ideologisch einwandfreien Indoktrinations-Traktaten bedient werden: Für Methodisten, Baptisten, Siebentags-Adventisten, Reformierte Lutheraner – für jeden ist das rechte Erweckungs-Textchen dabei.

Knast-Bildung

Sam Millar, 1955 in Belfast geboren, ist in diesem Teufelskreis aufgewachsen. Sein Vater ist Protestant, die psychisch labile Mutter war Katholikin und verschwand spurlos, als er acht Jahre alt war. Schule ist für ihn blöde Tortur: Er verabschiedet sich vorzeitig von der Drangsalierungsanstalt, jobbt auf dem Schlachthof und mischt als Teenager bei den IRA-Jungs mit, was für ihn natürlich auch eine Art Initiations-Ritual ist. Dann die Zäsur 1972: Mit dem Bruder wird er in die Konflikte des „Bloody Sunday“ verwickelt, dementsprechend schnell radikalisiert er sich und beteiligt sich an der Planung eines Bombenattentats. Und so eskaliert dann die Bestrafungs-Maschinerie: Von der ersten Haftstrafe verbüßt er drei Jahre, dann kommt er in den Extrem-Knast von Long Kesh, in dem der alltägliche Krieg zwischen Wärtern und Häftlingen die Maxime vom Überleben der Härtesten aufs Schönste illustriert. Manche Details aus den ersten Kapiteln von „True Crime, in denen Millar diese Knast-Bildung beschreibt, könnten auch aus einem Abu-Ghraib-Tagebuch stammen: „Verdächtige wurden häufig geschlagen, man fügte ihnen mit Zigaretten oder Feuerzeugen Brandwunden zu und zwang sie, lange Zeit in unbequemer Haltung zu verbringen. Nicht selten zog man sie auch nackt aus, demütigte sie und drohte ihnen, sie zu ermorden“. Millar ergeht sich aber nicht im larmoyanten Selbstmitleid, eher zynisch-lakonisch sondert er dann einen Kommentar ab wie etwa: „Es war nicht ungewöhnlich, dass man nach einem Aufenthalt in Castlereagh im Krankenhaus landete, wo man dann freilich nicht auf einen Blumenstrauß und einen Obstkorb hoffen durfte“. Dieses finstere Ethos kommt auch in der Kapitelüberschrift zum Ausdruck „Man tritt keinen Mann, der schon am Boden liegt? Welche Gelegenheit wäre denn günstiger?“

Aus dieser auf ewigen Kampf getrimmten Knast-Misere wird er dann befreit, als ihm der Vater vorschlägt, einen Verwandten in New York zu besuchen. Da bleibt er dann hängen, obwohl er erstmal nur eine Woche sehen wollte, was es mit dem American Dream so auf sich hat. So landet er in der New Yorker Casino-Szene, wo er zuständig für das Absichern und den Transport der Tageseinnahmen ist. Er erledigt seine Jobs zuverlässig und steigt auf in dieser Zocker-Hierarchie, doch er registriert eben auch den Nepotismus eines Familien-Clans, der sich selbst die Taschen mit dem Spielgeld vollstopft und sogar einen Insider-Überfall arrangiert. Da hat Sam die Schnauze voll und erfüllt sich seinen Traum vom eigenen Comic-Laden: Seltene, alte Comics, das hat er mal irgendwo gehört, sollen ziemlich wertvoll sein und sogar eine Art Geldanlage für Sammler darstellen. Aber er ist eben auch ein Kenner und Sammler und weiß inzwischen, wovon er spricht. So schlägt er sich ganz erfolgreich durch im Gewinnmaximierungs-Big Apple.

On the Brinks

Als er dann zufällig einen Hinweis auf die laxen Sicherheitsvorkehrungen beim Geldtransport-Headquarter von „Brinks“ aufschnappt, steht für ihn fest, diese Chance wahrzunehmen und einen Coup zu wagen, der etliche Millionen einbringen könnte. „On the Brinks“ („Am Rand eines Nervenzusammenbruchs“) heißt übrigens der Originaltitel dieser 2003 veröffentlichten Autobiografie.

Das Coup-Konstrukt, das Anheuern von soliden „Mitarbeitern“ für diesen Überfall, das Organisieren eines Transporters zum Wegschaffen der Millionen – das alles beschreibt Millar in einem wunderbar-lakonischen, realsatirischen Stil, der den Spannungsbogen auf kleiner Flamme hochköcheln lässt. Für all die erbeuteten Millionen ist der Transporter zu klein, also weg mit all den schweren Dollars, die einen Achsenbruch wegen Überladung verursachen könnten. Und dann das Kardinalproblem: Wohin mit all dem Cash? Es waren ja immerhin über sieben Millionen Dollar! „Ich hatte nur ein Problem: Geld. Ich hatte zuviel davon“, konstatiert Millar. Es soll hier nicht allzu viel verraten werden, aber so großartige komische Dialoge, die der Millionendieb mit dem auf Sozialhelfer getrimmten irischen Father Pat bei den taktisch raffiniert eingefädelten Sondierungsgesprächen zur richtigen Dollar-Einlagerung führt, liest man auch nicht alle Tage. Selbstverständlich will der altruistische Pat nicht genau wissen, woher all das Geld stammt, Hauptsache, für die armen Obdachlosen fällt auch ein kleiner Obulus ab – was sich dann natürlich doch etwas anders, viel spannender und leider auch fataler für den True Crime-Helden Sam entwickelt. Denn das FBI hatte auch schon einiges observiert, ohne aus dem logistischen Durcheinander richtig schlau zu werden. Sam Millar landete also mal wieder im Knast, dann wurde er nach Belfast abgeschoben, wo er seine Erfolgskarriere als Krimi-Autor mit dem Privatdetektiv-Serienhelden Karl Kane („Die Bestien von Belfast“, 2008/ „Die satten Toten“, 2009) inzwischen bestens im Griff hat und neben Stuart Neville und Adrian McKinty zu den bekanntesten und erfolgreichsten nordirischen Crime-Autoren gehört.

Provinz -Querelen

Crime-Writer-Kollegen unter sich: Inzwischen gibt es eine Literaten-Schlammschlacht, die wohl viel mit Neid, Konkurrenzdenken und Kleinkariertheit zu tun hat, aber eigentlich auch zur nordirischen Klüngel-und Querelen-Mentalität gehört: Denn laut Neville soll Millar Internet-Rezensionen eigener Bücher manipuliert (unter falschem Namen veröffentlicht? Wozu? Hat er das etwa nötig?) haben, was Sam Millar glaubwürdig bestritten hat. Mehr als diese Provinz-Querelen würde mich allerdings interessieren, ob Millar noch irgendwo einige Millionen eingelagert hat: Der „Belfast Telegraph“ ging von 7.2 Millionen Dollar Brinks-Beute aus, in anderen Meldungen ging es um acht Millionen – hat der Belfast Boy vielleicht noch einige Millionen auf den Bahamas gebunkert? In „True Crime“ jongliert Millar auch vorsichtig mit diesen Zahlen und lässt offen, ob er vielleicht eine doppelte Buchführung favorisiert …

„Als ich aus den USA zurück nach Belfast kam und mit dem Schreiben anfing, hätte ich nicht gedacht, dass daraus wirklich irgendwas werden könnte“, meinte Millar in einem Belfast-Telegraph-Interview. Man muss nicht erst auf internationale Literaturpreise („Thriller of the Year“/ Le Monde, Brian Moore Award, Golden Balais d ór Best Crime Book – mehr auf Millars Homepage) verweisen, um diese skeptische Selbstauskunft zu widerlegen: Diese großartige Mischung aus Brutalo-Realismus, sensibler Rückschau auf Tough-Luck-Lehrjahre und Noir-Spannung in bester Jim Thompson-Tradition macht diesem beeindruckenden Typen und Autor so schnell keiner nach.

Peter Münder

Sam Millar: True Crime (On the Brinks, 2003). Autobiografie. Deutsch von Joachim Körber. Zürich: Atrium Verlag 2015. 411 Seiten. 19,99 Euro. Verlagsinformationen zum Buch. Die Lesungstermine von Sam Millar finden Sie in unserem Veranstaltungskalender.

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