Mit (Sozial-)psychologie gegen die Abdankung der Gesellschaft
von Michael Höfler
– Während der Journalist Paul Mason („Postkapitalismus: Grundzüge einer kommenden Ökonomie“, diese Ausgabe) sich von der digitalen Vernetzung die Selbstzerstörung des Kapitalismus verspricht, sind für den Sozialpsychologen Harald Welzer die Smartphones und vernetzten Medien eine „Überwachungsmaschinerie“, welche die Demokratie aushöhle. Zu Zeiten der Industrialisierung habe der Mensch zur Disziplin gepeitscht werden müssen, heute liefere er sich völlig freiwillig aus, indem er seine Daten preisgebe, und, noch schlimmer, andere der „Ausgrenzungsgemeinschaft“ zum kollektiven Fraß vorwerfe. Aus der Digitalwelt sei beispielsweise ein Ratingsystem in China entstanden, das Nonkonforme und Nichtteilnehmer am „Hyperkonsum“ bestrafe und dabei perfiderweise das Verhalten der Freunde einbeziehe. Die entstehenden Datenmengen kosteten immense Summen an „Überwachungsenergie“ – gewonnen aus überwiegend fossilen, vergänglichen Stoffen. Letztlich führe die „Transparenzhölle“ schleichend in die Diktatur: „ Ich kann nur dann Bündnisse schließen, Strategien entwickeln, wenn es einen privaten Raum gibt, in den niemand Einblick hat“.
Das Besondere an Welzer sind weniger seine mitunter nicht neuen Argumente. So war der Hauptgedanke der sich selbst entmündigenden Gesellschaft bereits ein Leitmotiv in „Blödmaschinen – die Fabrikation der Stupidität“ von Markus Metz und Georg Seeßlen (Suhrkamp, 2011). Dafür ist Welzer erstaunlicherweise der wohl einzige relevante deutsche Autor, der zur Erklärung der „multiplen Krisen“ (Welzer mit Claus Leggewie in „Das Ende der Welt, wie wir sie kannten“, S. Fischer, 2011) altbewährte psychologische Erkenntnisse heranzieht. So zerstöre die Datenspeicherungswut den psychologischen Nutzen des Vergessens. „Selbstzwang“ schaffe Distanz und Apathie gegenüber der Welt. Individualisierte Nachrichten verdrängten unerwünschte Meldungen, welche aber für die Persönlichkeitsbildung notwendig seien, weil Persönlichkeit erst durch Reibungspunkte und Widerwillen entstehe. „Verantwortungsdiffusion“ führe, wo sich viele die Verantwortung teilen, dazu, dass sich letztlich niemand mehr in der Pflicht fühle. Subjektive Wahrheiten verselbständigten sich: „Eine Weltsicht, eine Wahrnehmung kann so verzerrt, falsch, irre sein wie nur irgend denkbar, wenn jemand aufgrund einer solchen Wahrnehmung handelt, schafft er trotzdem Wirklichkeit.“ Und schließlich „shifting baselines“ zur Erklärung, warum wir all dies kaum bemerkten: „Menschen registrieren in sich wandelnden Umgebungen den Wandel nicht, weil sie ihre Wahrnehmungen permanent parallel zu den äußeren Veränderungen nachjustieren.“
Insgesamt liest sich „Die smarte Diktatur“ trotz des übergefälligen Titels so gut, weil Welzer eine feine Balance zwischen akademischer Fundierung, Anschaulichem und Leidenschaft findet. Dabei bringt er viele Themen zusammen, auch wenn dies manchmal zu Lasten der Tiefe seiner Argumente geht. Mit seinen Bonmots fast im Seitentakt spricht er dafür mehr Leser an als andere, die für die Rettung der Zivilisation schreiben. Und er weiß zu erklären, warum viele Formen von Protest nicht funktionieren, andere aber schon.
Harald Welter: Die smarte Diktatur. Der Angriff auf unsere Freiheit. S. Fischer: 2016. 320 S., 19,99€. eBook 18,99 Euro.