Zwei Schrifstellerinnen schreiben zusammen einen Roman. Das ist nicht unbedingt etwas Neues. Die eine ist Spanierin, die andere ist Deutsche. Da wird’s schon ungewöhnlicher. Und dann wird der Roman auch noch zweisprachig – ab da wird’s richtig spannend. Über den Prozess des Schreibens und Übersetzens mit allen möglichen Implikationen, Problemen und Chancen, über ein Projekt mit open end auf jeden Fall – der Roman hat bis jetzt noch nicht einmal einen Namen – führen die beiden Autorinnen ein Arbeitsjournal. CrimeMag freut sich, das Projekt begleiten zu dürfen und präsentiert die deutsche Fassung. Heute der zweite Teil des Arbeitsjournals von Sabine Hofmann und Rosa Ribas. Hier geht’s zu Teil 1.
Friedhöfe
Sabine Hofmann:
Wie Friedhöfe aussehen, weiß ich natürlich: Wenn es alte Friedhöfe sind wie der Frankfurter Hauptfriedhof, gibt es dort viele hohe Bäume – Buchen, Lärchen, Eichen. Efeu wuchert über Mauern und verfallene Grabsteine und es gibt ruhige Ecken, in denen man seinen Gedanken nachhängen kann. Wenn es ein neuer Friedhof ist wie der kommunale Friedhof, auf dem meine Mutter liegt, stehen dort ein paar mickrige Bäume, die sich an Pfähle lehnen müssen, um gerade zu wachsen. In regelmäßigen Abständen sind Wasserhähne aufgestellt, an denen man Gießkannen füllen kann und auch diese schwarzen und dunkelgrünen Plastikvasen, die man in das Erdreich der Gräber steckt. Die Wege sind dort gerade, jedes Gräberfeld hat seine Nummer und auf manchen Gräbern findet sich ein Schild, das die Angehörigen bittet, sich bei der Friedhofsverwaltung zu melden.
Einer der Orte, an dem unsere Romanhandlung spielt, ist der Friedhof von Montjuic. Natürlich weiß ich, dass alle Bilder, die mein Gedächtnis zum Thema Friedhöfe aufbewahrt hat, nichts nutzen. Gar nichts. Weder die deutschen Friedhöfe, noch all diejenigen, die ich im Laufe meines Lebens auf Reisen gesehen habe. Es hilft nur noch die Anschauung, nicht Google-Images, kein Bildband, kein Roman von Carlos Ruiz Zafón und auch nicht die wunderbare Eingangssequenz aus Pedro Almodóvars Film „Volver – Zurückkehren“.
Also besuche ich auf einer Reise nach Barcelona den Friedhof von Montjuic. M. begleitet mich.
Unsere Exkursion beginnt damit, dass wir uns erst einmal verlaufen und in den hinteren, den neueren Teil der Totenstadt gelangen. Hier stehen die Särge in Nischen hinter Steinplatten und wir laufen zwischen mindestens vier Meter hohen Wänden, in denen die Grabnischen in vier oder fünf Etagen übereinander gestapelt sind. Die Wege dazwischen sind asphaltiert und breit, eigentlich sind es keine Wege mehr, sondern Straßen, auf denen sogar Autos fahren. Vor jeder der Nischen ist eine Scheibe angebracht. Manche sind trüb, andere sorgfältig geputzt. Dahinter sieht man Plastikblumen und Bilderrahmen, in einer Ecke steht eine vergesse Flasche mit Glasreiniger, der hier offenbar zur Grabpflegeausstattung gehört.
Manche der Grabnischen sind stufenweise angeordnet und liegen unter Treppen, so dass die Fußgänger über Gräber gehen, wenn sie die Treppe hinaufsteigen, um in einen höhergelegenen Teil des Friedhofs zu kommen. Ich mag die Treppen nicht benutzen, denn ich habe gelernt, dass man über Gräber nicht läuft. Nach einer guten halben Stunde sind wir da, wo ich hin will: Im alten Teil des Friedhofs mit seinen modernistischen Mausoleen.
Eine unserer Figuren braucht ein Grab. Also laufe ich die Wege entlang und suche. Hügelaufwärts muss es liegen, denn der Leichenzug muss einen recht langen Weg zurücklegen, damit passieren kann, was passieren muss. Nicht zu prächtig darf es sein, denn unsere Tote ist wohlhabend, aber nicht wirklich reich. Nach einer Weile werde ich fündig: genau das richtige Grab.
Es ist auch höchste Zeit: M. hat inzwischen Engel fotografiert, ist hungrig geworden und erklärt, dass er genug von Friedhöfen hat. Wir gehen essen.
Rosa Ribas:
Ich denke nicht daran, ohne Grund den Fuß auf einen Friedhof zu setzen. Ein Spaziergang ist auf keinen Fall ein Grund, dorthin zu gehen. Auf Friedhöfen geht man nicht spazieren, wenigstens ich nicht.
Auf dem Friedhof von Montjuic bin ich nie gewesen, obwohl ich diese Totenstadt oft gesehen habe, wenn ich mit dem Auto die Küstenstraße entlanggefahren bin. Ein Jahr lang arbeitete ich ich als Lehrerin für Spanisch in einem Gymnasium in der Zona Franca, einem Stadtteil von Barcelona, das ganz in der Nähe des Friedhofs liegt. Aus den Fenstern der Schule konnte man die Grabnischen sehen.
Wenn ich mit dem Auto an dem Friedhof vorbeifahre, schaue ich auf die andere Seite, aufs Meer hinaus; als ich in der Schule arbeitete, bemühte ich mich, so wenig wie möglich aus dem Fenster zu schauen.
Die Abneigung gegen Friedhöfe ist eine Frage der Kultur, ich weiß. In Deutschland sind die Friedhöfe wie Parks und die Leute gehen dort spazieren. In meinem ersten Jahr in Deutschland setzte sich einer meiner deutschen Freunde in den Kopf, mir die Friedhöfe von Berlin zu zeigen. Er nahm mich beispielsweise mit auf den Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin, wo Brecht und Eisler begraben sind; dann, weil er gleich nebenan liegt, auf den Französischen Friedhof der Berliner Hugenotten. Beide Friedhöfe sind ruhig, mit einem großartigen alten Baumbestand. Efeu und Hecken. Wunderschön. Und: furchtbar. Ich konnte sie nicht schnell genug verlassen.
Diese parkähnlichen Friedhöfe sind mir spät in meinen Leben begegnet, zu spät, um meine Erinnerungen zu löschen.
Erinnerungen an eine Beerdigung, auf die ich als Kind gehen musste. In den Dörfern muss man gehen, das erzwingt der soziale Druck. Ich erinnere mich an den Eimer mit frischem Zement, mit dem die Nische mit ihrer Platte verschlossen werden sollte; daran, dass ich am Beinhaus vorbeikam und mir jemand mit morbider Freude erklärte, dass man nachts dort sehen könne, wie die Knochen leuchteten. „Das macht der Phospor“, sagte jemand anderes. Das machte die Sache auch nicht besser, sondern hatte zur Folge, dass ich noch Wochen danach besorgt die Nesquik-Dose musterte, denn es hieß, das Kakaopulver enthalte viel Phosphor. Ich erinnere mich daran, dass ich in einer düsteren Phase meiner Jugend auf dem Friedhof von El Prat war und dort das Grab meines Urgroßvaters mütterlicherseits, Joan Ribas i Petit, gefunden habe, er sah gut aus und starb mit vierundzwanzig Jahren. Fast so gut wie sein Sohn, mein Großvater. Als er starb, wollte ich nicht zu seinem Begräbnis auf den neuen, nüchternen Friedhof gehen.
Ich erinnere mich an die Mutproben eines Sommers im Dorf meines Großvaters. „Wer traut sich heute Nacht auf den Friedhof zu gehen?“ Wir waren zu dritt und einer der älteren Jungen wartete versteckt hinter dem Friedhofstor, bis wir kamen. Dann tauchte er auf, brüllte beängstigend, die Jacke über den Kopf gezogen. Wir rannten entsetzt davon. Als wir im Dorf ankamen, sagte meine beste Freundin, dass sie nach Hause gehen müsse, da sie sich in die Hose gemacht habe. Am nächsten Tag schlug jemand vor, auf dem Friedhof nachzusehen, wie viele Kinder dort begraben wären. Ich sagte nein, lieber nicht.
Deshalb freut es mich, dass Sabine die Szene auf dem Friedhof von Montjuic schreibt. In den Passagen, in denen mein Text sich mit ihrem überschneidet, kann ich mich an ihren Beschreibungen orientieren. Ansonsten reichen mir Fotos vollkommen aus. Auf keinen Fall werde ich den Fuß dort hinsetzen.
Rosa Ribas und Sabine Hofmann
Zur Hompage von Rosa Ribas. Zur spanischen Fassung: Illegir en cas d’incendi.