Wu Wei und die Kunst des Nicht-Handelns
Von Ulrich Baron
Bei vielen Krimis, vor allem bei solchen im Fernsehen, hat man den Eindruck, dass darin einerseits zu viel und andererseits zu wenig passiert. Es wird zuviel geschossen, es wird zuviel gerast, und es wird zuviel auf eigene Faust ermittelt. Die ganze Welt wird zur Schießscheibe. Und Polizisten wie Polizistinnen, Privatermittlerinnen wie Ermittler scheinen darauf versessen, sich ohne Rückendeckung in fremde Büros, verlassene Lagerhallen und sonstige Löwenhöhlen einzuschleichen, so dass der erst mitfühlende, dann entnervte Leser/Zuschauer nur noch hoffen kann, dass jemand endlich die richtige Polizei rufen möge.
Am Ende geht alles gut, aber nur, weil Autoren und Regisseure sich darauf verlassen, dass man ihnen die eingefahrenen Stereotypen und Eskalationsmuster auch weiterhin abkaufen wird. Ob die vielen „Fälle für…“, ob deren brachiale Lösungen vor Gericht Bestand hätten, steht auf einem anderen Blatt. Und wer möchte schon in eine Verkehrskontrolle geraten, bei der Kommissar Tschiller die geistige Führung übernommen hat? Dazu kommt noch: Gute, also zumindest panzerbrechende Munition ist teuer, und Rasen ist es auch. Deshalb hat Sheriff Wing unlängst von einem Stadtrat der Gemeinde Ambrose einen strengen Brief bekommen: „Jemand hatte ihn darauf aufmerksam gemacht, dass einer meiner Deputys einen Raser beinahe einen Kilometer weit bis in die Nachbargemeinde Gilead verfolgt hatte. Weshalb also, wollte der Stadtrat wissen, wurden die Kosten für diese Aktion der Gemeinde Ambrose aufgebürdet?“,heißt es in Castle Freemans Roman „Auf die sanfte Tour“.
Männer mit Erfahrung
Wie Wing dieses Problem löst, sei hier nicht verraten, doch das Beispiel zeigt, dass er seine Arbeit als Sheriff anders sieht als die meisten Krimileser. Wing nämlich ist der Ziehsohn jenes inzwischen schon legendären Sheriffs Wingate, der im Vorläuferroman „Männer mit Erfahrung“ das Schicksal eines Bösewichts im Stephen-King-Size-Format dadurch besiegelt hatte, dass er sich selbst für unzuständig erklärte. Wingate hat eine Philosophie des „Sheriffing“ entwickelt, die dem daoistischen „Wu Wei“ ähnelt, was man sich als Handeln durch Handlungsvermeidung übersetzen könnte. Oder als Warten am Flussufer, bis man die Leichen seiner Feinde an sich vorübertreiben sieht.
Vielleicht hat ihn dazu auch seine Wirkungsstätte im ländlichen Vermont inspiriert, dessen grüne Berge zur Kontemplation einladen und den Gedanken befördern, die Welt sei harmonisch geordnet, so dass jeder menschliche Eingriff eine potentielle Störung wäre. „No Crime in the Mountains“, hieß 1941 schon eine Geschichte von Raymond Chandler, die einen so stiernackigen wie weltweisen Sheriff vorstellte. Im Grunde bestehe dessen Arbeit darin, das Gesetz bei den neun von zehn Leuten durchzusetzen, die sich ohnehin an die Regeln halten“, sagt Wing: „In Sheriffing you don’t stop things from happening“. Doch wer Wings statistische Angabe kritisch verfolgt hat, weiß, dass dies in einem von zehn Fällen nicht funktioniert.
Das Gesetz kann nicht helfen
In „Männer mit Erfahrung“ hieß diese Ausnahme Blackway. Blackway war so ein Typ, der eines Nachts neben dir auf der Bettkante sitzt, die Puppe deiner kleinen Tochter in Händen hält und dir einen Rat gibt, den du nicht ablehnen kannst. „Bei Blackway kommen Recht und Gesetz nicht so recht zum Tragen“, sagt ein Einheimischer. „Er ist von hier“, sagt ein anderer. Lillian ist es nicht. Doch obwohl Blackway die Heckscheibe ihres Wagens eingeschlagen und ihre Katze umgebracht hat, will sie sich nicht vertreiben lassen. Wingate sagt, er könne da nichts machen, aber als Lillian meint, das hieße, niemand könne ihr helfen, korrigiert er sie: „,Ich sage, dass das Gesetz Ihnen nicht helfen kann’, sagte der Sheriff. ,Das ist nicht ganz dasselbe.’“ Drüben auf der anderen Seite der Stadt, in der alten Stuhlfabrik säßen meistens ein paar Leute rum: „Reden Sie mit Whizzer.“ Whizzers Spitzname kommt von Geräusch seines elektrischen Rollstuhls, und die Leute, die bei ihm rumsitzen, können offenbar nichts als reden und Bier trinken. Auch der hinkende alte Lester und der einfältige große Junge Nate „the Great“, die er Lillian mitgibt, wirken für sie nicht wie die ultimative Antwort auf Blackway.
Die Abgründe des Hinterlands
Doch da hat sich ihre Geschichte, in der zunächst alles provinziell anmutet, längst in eine so abgründige wie ironische Melange aus Country Noir, griechischer Tragödie und Ritterroman verwandelt. Ein Provinzpuff und eine Absteigerkneipe sind erste Etappen einer Kampagne, deren Hintergründe vom Chor der Alten in der Fabrik ausgiebig kommentiert werden. Aus dem Wechselspiel von Reden und Handeln erwächst ein Erzählstrom, der einen mit sich fortträgt. Ein kolossaler Biker bekommt ein Bier spendiert und verliert dann Teile seines Kauapparats und ein Ohr. Als sich das Trio endlich Blackways Unterschlupf nähert, wird es Nacht in Vermont, und noch scheint offen, wen die Finsternis, die Blackway umgibt, am Ende verschlingen wird. Beunruhigend deutlich aber ist geworden, welche Abgründe das Hinterland birgt und wie kurz die Wege von der Hillbilly-Komödie zum Country noir sind.
Der 1944 in San Antonio, Texas, geborene Castle Freeman, Jr. kam es nach seinem Studium an der Columbia University in New York nach Vermont, als die Farmer und alten Schmieden dort schon am Verschwinden waren, ohne dabei ganz zu verschwinden. Der Zugezogene im Chor, Conrad, wundert sich darüber, „dass hier alle früher mal was anderes war. Das Antiquitätengeschäft war eine Schmiede. Unser Haus? War mal die Schule, sagt Betsy.“ So hat der Smalltalk der Alten auch etwas Archäologisches, Enthüllendes, mit dem Castle Freeman seiner scheinbar simplen Story einen zweiten Boden einzieht. Doppelbödig sind Freemans Bücher auch im sprachlichen Sinn und das manchmal bis um Unübersetzbaren.
Der Übersetzer hat es nicht leicht
Ich-Erzähler Wing erzählt in „Auf die sanfte Tour“ einleitend, wie seine Frau eine Meldung aus dem krächzenden Funkgerät missversteht. Was ein „new male“ (also ein neuer Mann) sei will sie wissen, und Wing sucht das zu nutzen, um eine akute Ehekrise zu entschärfen. Leider erfolglos, denn als er selbst sich als „new male“ präsentiert, antwortet sie, dann sei die Lage noch schlimmer als angenommen. Lesern der deutschen Ausgabe wird aber lange unverständlich bleiben, warum die beiden dort von einem „Macker“ reden. Im Original hingegen wird schnell klar, dass die Rede von einem „nude male“ ist, also einer „unbekleideten männlichen Person“, wie es im prüden Amtsdeutsch wohl heißen würde.
Wo Freeman im umfangreichen englischen Wortschatz zwischen „naked“ und „nude“ wählen konnte, konnte der Übersetzer Dirk van Gunsteren nur den Ausdruck „Nackter“ nutzen, den man als „Macker“ missverstehen kann, was aber als Wortspiel bestenfalls irritiert. Ähnliches passiert, wenn Freeman populäre Lieder zitiert oder die „treuesten Kunden“ des Sheriffs als „the plain-rock stupid“ bezeichnet, was in der deutschen Ausgabe dann die „Strohdummen“ sind. Wenn einem erfahrenen Übersetzer wie van Gunsteren dazu nichts Besseres einfällt, wird es wohl auch nichts geben, was wiedergibt, dass die vermeintlich einfache Sprache des Ich-Erzählers so gewählt ist, dass der Verlag sich ein paar Fußnoten dazu hätte abringen lassen sollen.
Die trügerische Naivität alter Kalendergeschichten
Wie eine Annie Proulx hat Castle Freeman nicht nur die Ding-, sondern auch die Sprachwelt seiner Schauplätze studiert, unter anderem auch als Autor des Old Farmer’s Almanac, den man sich als einen späten Nachkommen des Rheinländischen Hausfreundes vorstellen möchte. Und mit Sheriff Wingate hat er einen Mann von fernöstlicher Weisheit geschaffen, dessen fortwirkende Philosophie des „Sheriffing“ in „Auf die sanfte Tour“ in ihrer ganzen Tiefe bestaunt werden kann. Oberflächlich betrachtet wirken Freemans Romane ein wenig naiv, doch es ist die trügerische Naivität alter Kalendergeschichten und böser Märchen.
Im ersten Band steht mit Blackway ein Bösewicht im Vordergrund, dessen beängstigende Überlebensgröße vielleicht nur darauf beruht, dass man ihn zunächst nicht direkt und dann nur bei Nacht zu sehen bekommt. Und dass er dort haust, wo schon öfter Menschen verschwunden sind – an der Grenze zwischen Wildnis und Zivilisation, wo der Sheriff nicht mehr zuständig ist. Wingates Weisheit aber ist selbst hier nicht erschöpft, denn er hat dafür gesorgt, dass Lillian genau jenen Helfer bekommt, der dem Schwarzen Ritter Paroli zu bieten vermag. Blackway sei ein übler Typ gewesen, wird sein Bezwinger am Ende sagen: „Er war ziemlich bekannt in der Gegend, weil es nichts gab, was er nicht tun würde, und er hat dafür gesorgt, dass alle es wussten.“ Doch in einem Punkt habe Blackway sich getäuscht: „Er dachte, er wäre der Einzige, der so ist.“
Man muss nur seinen Job machen als Sheriff
Auch in „Auf die sanfte Tour“ geht es ums Sosein, denn der eine von zehn Fällen, die dem Sheriff Kummer bereiten, ist dort der Frauenheld und Tunichtgut Sean alias Superboy. Jeder, der vom Einbruch in die russische Luxusvilla gehört hat, hat sofort ihn im Verdacht, doch der Sheriff weigert sich ihn festzunehmen. Was damit zusammenhängen könnte, dass er in ihm so etwas wie den Ersatz für den Sohn sieht, den er selbst nie zeugen könnte. Was aber mit Sicherheit auch daran liegt, dass Wing die Russenmafia aus seinem Zuständigkeitsbereich heraushalten will. So geht es darum, Superboy den geklauten Tresor wieder abzunehmen, dessen brisanter Inhalt ihm das Leben kosten könnte, bevor die Russen ihn erwischen. Zwar haben Superboy, seine Geliebte und deren Monsterhund, deren Vortruppen blutig zurückgeschlagen, doch ist sonnenklar, dass sie die nächsten Eskalationsstufen nicht überleben würden. So geht es denn hier darum, einen sehr törichten bad boy und etliche sehr mächtige zum Rückzug zu bewegen, ohne das einer von ihnen dabei das Gesicht verliert.
Man müsse als Sheriff nicht siegen, hat Wingate einmal gesagt. Man müsse nur seinen Job machen, und sein Schüler hat sich dies zueigen gemacht: „Beim Sheriffsein geht es nicht darum, allen Leuten zu beweisen, dass man der Schlaueste im Raum ist. Man hat einen Job zu erledigen, und manchmal erledigt man ihn besser, wenn man den Eindruck vermittelt, man wäre ein wenig unterbelichteter, als man in Wirklichkeit ist.“ Zumal Sheriff ein Wahlamt ist und vielen Wählern der Gedanke an einen allzu schlauen, allzu eifrigen Sheriff Unbehagen bereiten könnte. Zum deren Glück und zur Freude aller Leser, die Sinn für den ironischen Umgang mit den Routinen des Genres haben, aber erschöpft sich der Eifer ihres Sheriffs darin, zu verhindern, dass sich bei ihnen ein richtiger Krimi abspielt. Die Welt ist hier geradezu unheimlich in Ordnung.
Ulrich Baron
Castle Freeman: Männer mit Erfahrung (Go With Me). Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren. Nagel & Kimche, München 2016. 176 Seiten, 18,90 Euro.
Auf die sanfte Tour (All That I Have). Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren. Nagel & Kimche, München 2017. 189 Seiten, 19,00 Euro.