Geschrieben am 2. November 2016 von für Bücher, Litmag

Roman: Thomas Melle: Die Welt im Rücken

melle_weltReise in das finstere Herz des Wahnsinns

– Michel Focault bezeichnete den Wahnsinn einst als das „Andere der Vernunft“ und zeigte, wie er durch Kontrolle und Disziplinierung systematisch aus unserer Gesellschaft ausgegrenzt wird. Der Romancier („Sickster“, „3000 Euro“), Dramaturg und Übersetzer Thomas Melle führt den Leser nun mit einer radikalen Selbstoffenbarung ganz tief in das Herz des Wahnsinns, in das Herz des Manisch-Depressiven oder Bipolaren. Von Karsten Herrmann

Die minutiöse Chronik seiner Krankheit ist für Thomas Melle auch ein letzter Rettungsversuch, ein Versuch, das Geschehene zu verstehen, nachdem er alles verloren hat und vor dem absoluten Nichts des sozial ausgegrenzten Obdachlosen und Fürsorgefalls steht: „Die eigene Katastrophe auszustellen, hat etwas Aufdringliches, es aber nicht auszusprechen, ist noch verquerer, wenn man ohnehin schon einmal bei den Konsequenzen angelangt ist.“

Nach einer Kindheit in zerrütteten Familienverhältnissen fängt Thomas Melle 1995 in Tübingen an Literaturwissenschaft und Philosophie zu studieren, um seinen „eigenen Bildungsroman“ zu leben und in Absetzbewegung vom grassierenden Pop eines Benjamins von Stuckrad-Barre „den Roman zu schreiben“. Auf ein Jahr Vollgas und Euphorie folgt ein Jahr Tristesse und Zweifel, beides jeweils mit viel Alkohol und wenig Schlaf. Zusammen mit einem Freund hackt er sich in den Literaten-Blog ampool.de ein und postet im Namen von Rainald Goetz oder Judith Hermann Einträge. Er wird zur öffentlichen (Streit-) Person, verausgabt sich in einem Gegen-Blog bis zum ersten „ruinösen Schicksalstag“, dem ersten Schub: „Ich rannte durch die Stadt und die Stadt war verrückt geworden. Der Mob aus Zeichen und Bildern schoss aus allen Ecken auf mich zu.“

Dieser Tag sollte für Thomas Melle der Beginn einer langen Abfolge von manischen und depressiven Schüben im Monats- bis Jahrestakt werden. Immer wieder wird er von Freunden in die Psychiatrie gebracht, später nach Selbstmordversuchen auch zwangseingewiesen. Minutiös rekonstruiert Thomas Melle diese Zeit, die manischen Flüge, in denen er hochproduktiv ist oder spontan seine gesamte Bibliothek verschleudert, die depressiven Abstürze und die von Psychopharmaka zerschossenen Wochen und Monate. Von Mal zu Mal steigert er sich in immer extremere Verschwörungstheorien, randaliert und provoziert auf Lesungen, verdächtigt und verprellt auch noch seine treuesten Freunde und Gönnerinnen wie die Suhrkamp-Verlegerin Ulla Berkéwicz. „Das Bewusstsein hat jeden Halt verloren“ und er selbst ist ein „Fremdkörper im Fremdkörper Welt“ geworden.

Thomas Melle ist mit „Die Welt im Rücken“ eine ebenso schonungslose wie großartige Selbsterkundung und Meditation über den Wahn-Sinn gelungen. Seine runter gekühlte Prosa umkreist hartnäckig und quecksilbrig die eigene Krankheit, versucht zu bannen, was so nah ist und doch so fern und fremd erscheint. Wie er selber erläutert, ging es ihm in diesem Buch „nicht um Abstraktion und Literatur, um Effekt und Drastik“, sondern „um eine Form von Wahrhaftigkeit“. Das ist ihm auf beeindruckende Weise gelungen und wie schon in der Autobiographie des Altersgenossen Benjamin von Stuckrad-Barre wundert sich der Leser, was ein Mensch alles aushalten kann. Zugleich hat Thomas Melle aber auch eine literarisch höchst anspruchsvolle Form zwischen den Genres geschaffen, die den Leser in ihren existentiellen Sog zieht.

Karsten Herrmann

Thomas Melle: Die Welt im Rücken. Rowohlt Berlin, 2016. 348 Seiten. 19,95 Euro.

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