Geschrieben am 15. September 2016 von für Bücher, Crimemag

Roman: Louise Welsh: V5N6 – Tödliches Fieber

9783956140907Die Apokalypse reitet wieder

London im Delirium. Katja Bohnet hat sich dem Virus-Thriller von Louise Welsh ausgesetzt – und hat es überlebt, um uns davon zu berichten.

Eine rätselhafte Krankheit rafft die Londoner dahin. Nur wenige überleben eine ansteckende Virusinfektion, die sich mit Überschallgeschwindigkeit verbreitet. Stevie Flint arbeitet als Moderatorin für eine Live-Sendung, in der die kapitalistischen Errungenschaften der modernen Welt unters Volk gebracht werden. Toaster, noch mehr Toaster, Kleidung, Schmuck. Stevie verhökert vor laufenden Kameras alles, was die Chefin ihr auf den Verkaufstisch legt. Eines schönen Feierabends erscheint ihr Freund Simon nicht zum Date. Simon kann nicht kommen, weil er tot in seinem Appartement liegt, wo Stevie ihn schließlich auffindet. Woran der Chirurg starb? Unklar. Kaum in ihrem eigenen Zuhause angelangt, bemerkt Stevie erste Krankheitssymptome an sich. Nach drei Tagen im Fieberdelirium quält sie sich aus dem Bett. Sie gehört zu den wenigen Überlebenden des „V5N6“. Nur wenig später fährt sie in ihrem Mini durch eine Geisterstadt. Zunächst wird das Virus noch von den Medien runtergespielt, bis die Menschen wie die Fliegen sterben. Stevie klammert sich an einen Laptop, Simons einzige Hinterlassenschaft zusammen mit einem mysteriösen Brief. Obwohl Stevie auf der Arbeit und in ihrem Viertel zunehmend von kranken oder sterbenden Menschen umgeben ist, will sie nicht an einen Zufall glauben. Also heftet sie sich an die Fersen von Simons Freunden und Kollegen im Krankenhaus und folgt der Datenspur des Laptops. Langsam schöpft Stevie den Verdacht, dass ihr Freund vielleicht nicht der ist, für den sie ihn hielt.

Von der Teleshopping-Queen zur Ermittlerin

Cut. Was treibt diese Frau denn überhaupt? Unerklärlich, wieso die eher oberflächliche Werbebiene Stevie, die in den dramatischsten Situationen noch ihr Make-Up aufbessert, plötzlich zur Ermittlerin in zwielichtigen Angelegenheiten ihres Freundes mutiert, dessen Liebe sie sich bis zu seinem Abschiedsbrief keinesfalls ganz sicher sein konnte. Vom Schminktisch an die Kriegsfront? Come on! Weder ihre Biografie, noch ihre Persönlichkeit legen den Schluss nahe, dass sie einen solchen Elan entwickeln kann. Aber Stevie beißt sich fest, so sieht es die Figurenkonstruktion vor.

Man mag über zahlreiche wenig innovative Ebola-, Outbreak- und Zombie-Adaptionen im TV klagen (und über wenige gute jubilieren), aber Endzeitszenarien werden in der Kunst immer ihre Attraktivität und Aktualität behalten. Verlockend, wunderbar und zeitlos: das seherische Element. Ein Reiter der Apokalypse galoppiert durch die Stadt. Woher das Virus „V5N6“ jedoch kommt und was aus dem gebeutelten London wird, muss leider offen bleiben. Relativ schnell entwickelt sich aus Stevies anfänglicher Vermutung eines Komplottes eine Wahrscheinlichkeit, die zügig zur Gewissheit wird. Drehbuchautoren von „The Walking Dead“ hätten bemerkt: Da geht noch was. Die Story entfaltet sich zwar anfangs über Bande, danach aber eindeutig und linear. Nach der Hälfte des Buches wird nur noch das bereits Bekannte moduliert und mit Details versehen. Das aber stimmungsvoll und atmosphärisch dicht.

Kapitalismus und Klaustrophobie

Was sofort wirkt, ist die außergewöhnliche Stimme von Louise Welsh, die mit prägnanten Worten und eigenem Sprachrhythmus ihre Geschichte erzählt. Der Mut zu starken Bildern zeugt von einer besonderen Ästhetik, die der zeitgemäße Kriminalroman so notwendig braucht. Das kreiert die passende Dramatik für den gepflegten Untergang der Zivilisation, denn das Virus tötet wahllos und schnell. Wenn beim Showdown ein Blutbeutel platzt, findet sich hier die visuelle Quintessenz, die die gesamte Geschichte in ihrer Grausamkeit definiert. Am stärksten ist der Roman allerdings in Augenblicken, in denen nichts Plot-Relevantes passiert: Kranke krallen sich im nächtlich ausgestorbenen London an Stevies Autofenster und lassen sich nicht abschütteln. Klaustrophobische Szenen mit einer womöglich bereits erkrankten Pflegerin im Keller eines Hospitals, aus dem Stevie vielleicht nicht mehr entkommen wird. Die letzten überlebenden Angestellten reißen im Shopping-Sender live Überstunden ab. Die Welt geht unter, aber die Werbung läuft weiter, bis keiner mehr etwas kaufen kann. Hier verschwimmen die Grenzen zwischen Zombie-Apokalypse und Jüngstem Gericht vor der Kulisse der europäischen Finanzhauptstadt zu einem feinen, kleinen Horrorkabinett.

Katja Bohnet

Louise Welsh: V5N6 – Tödliches Fieber. Übersetzung von Wolfgang Müller. Verlag Antje Kunstmann, München 2016.

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